Es gibt Dinge, die man lieber nicht tun sollte. Wie auf den Gleisen zu stehen, wenn ein Zug kommt, oder die Hand über eine offene Flamme zu halten. Schnell hin- und herwedeln wäre ja nicht schlimm, aber irgendwas treibt mich dazu an, die Hand einen Tick länger über das Feuer zu halten, und noch einen und noch einen. Bahngleise und Mütter sind wie offene Flammen – zu lang, zu nah, schon kann es wehtun.
Wenn ich all die Dinge auflisten würde, die ich lieber nicht tun sollte, stünde die Aktion von heute ziemlich weit oben. Aber all diese Dinge ziehen mich eben an. Vielleicht will ich einfach wissen, was passiert, wem es wehtut?
Ganz gleich, wie oft mich vorher eine innere Stimme gemahnt hat fortzubleiben, wie sehr ich es mir vorgenommen hatte: Nicht mal ein verlorener Fahrschein und meine absichtlich unpassenden Klamotten konnten mich davon abhalten herzukommen. Ich wäre immer hier gelandet.
Wie lange ich bleibe und wie nah ich herangehe, ist eine andere Frage.
Im Moment jedenfalls stehe ich bibbernd auf einem Hügel über dem Krematorium. Ein roter Tupfer unter kahlen Bäumen an einem düsteren, farblosen Tag. Überlege, was ich tun soll.
Es fängt an zu regnen und ich empfinde Genugtuung. Sie hat den Regen gehasst. Die meisten Leute schimpfen zwar, wenn sie vom Schauer überrascht werden oder ihre Gartenparty ins Wasser fällt, aber sie hat den Regen wirklich gehasst. Fast als wäre sie nicht aus Sehnen, Muskeln und kantigen Knochen, sondern aus etwas, das weggespült werden könnte.
Womöglich hatte sie Angst, der Regen könnte die Maske abwaschen, die sie auf diesem Foto in der Zeitung trug. Das Foto, auf dem sie lächelnd neben einem Mann stand, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Lächelnd?
Ich frage mich, ob sie in ihrem Sarg jetzt auch lächelt, ob man ihre Züge für eine hübsche Lüge im Jenseits hergerichtet hat? Vielleicht um denjenigen, der die Himmelspforte öffnet, davon zu überzeugen, sie nicht mit einem Tritt in die Tiefe zu befördern? Aber möglicherweise war von ihrem Gesicht auch nicht mehr genug übrig.
Fahrzeuge kriechen die Straße hinauf. Der erste Wagen ist lang und schwarz, der Leichenwagen. Als er vor dem Krematorium hält, wird der Regen stärker. Logisch eigentlich. Es gießt in Strömen, Blitze zucken über den Himmel.
Gerade habe ich noch gezögert, wie nah ich der Flamme kommen möchte, aber nun nimmt der Sturm mir die Entscheidung quasi ab. Geh weiter, Quinn. Du musst dich unterstellen.
Ein guter Vorwand. Denn in Wahrheit will ich mich nur davon überzeugen, dass sie wirklich tot ist.