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eISBN 978-3-649-64417-0

www.coppenrath.de

Barbara Schinko

DIE NEBEL VON WALHALLA Alessas Seelenpferd

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INHALT

PROLOG

ZUM SPEERHOF

BESONDERE PFERDE

REITSTUNDE MIT HINDERNIS

EINE ENTDECKUNG

DIE LEGENDE DER WALKÜREN

EINE WARNUNG

DIE ERSTE MISSION

NACHTS AUF DER KOPPEL

EIN TOLLKÜHNER PLAN

NUR MUT!

AUF DER FLUCHT

IN DER FALLE

TEAM VALKYRIE

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PROLOG

Nach einer Weile richtete sich Alessa auf. Sie wandte sich im Sattel um, der Hecke zu, über die sie gerade gesprungen waren. Von hier aus betrachtet wirkte sie noch höher und bedrohlicher als von der anderen Seite. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie das Zucken von Courages Ohren. Sie lauschte selbst, vernahm aber nichts außer dem heftigen Atem ihres Pferdes. Das Knattern der Motorräder war verstummt.

Jähes Unbehagen machte sich in ihr breit. Auch wenn sie die Verfolger abgehängt, auch wenn der Wagemut ihres Pferdes ihr einen Vorsprung verschafft hatte, sollte sie die Motorräder nicht wenigstens noch hören?

Und vor allem: Wo waren sie und ihre Stute gelandet? Die verschleierten Bäume schienen sie zu umzingeln. Es war ein beklemmendes Gefühl. Alessa legte den Kopf in den Nacken, konnte aber nicht mal die Wipfel und Kronen sehen, geschweige denn den Himmel darüber. Der feuchte graue Dunst verschlang alles wie ein gefräßiges Monster.

Mit einem Schauder angelte sie in der Tasche nach dem Handy – und starrte ungläubig auf das schwarze Display. Hatte sie das Gerät bei ihrer Flucht versehentlich ausgeschaltet, vielleicht als sie beinahe vom Pferd gefallen war? Sicherheitshalber presste sie ein paar Mal den Einschaltknopf. Es nützte nichts. Das Handy war tot.

Erst als Courage warnend mit einem Huf scharrte, warf Alessa erneut einen raschen Blick zur Hecke. Und erschrak: Der Nebel hatte jene bereits verschluckt, ihr dunkler Umriss war kaum noch sichtbar. Ungebeten tauchte der Gedanke in ihr auf, was diese Hecke begrenzen mochte, wenn schon keine Straße. Wohin waren sie und ihr Pferd bloß geraten?

Wie zur Antwort auf ihre stummen Fragen ertönte ein kehliges Heulen.

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ZUM SPEERHOF

Das Auto rumpelte über den ausgebleichten Asphalt. Vor der Windschutzscheibe erschien eine Abzweigung, an der ein verwitterter, hölzerner Wegweiser das Ziel nannte: »SPEERHOF«.

»Sehr einladend klingt das ja nicht gerade«, merkte Mam auf dem Beifahrersitz schräg vor Alessa an. »Man könnte einem Reiterhof doch sicher einen hübscheren Namen geben. Zum Beispiel …«

Paps bog ab. Unter lautem Geklapper holperte das Auto über ein Schlagloch. Die nun einspurige Straße verlief zwischen Feldern auf einen Hügel zu. Rechts zog ein Weizenfeld vorbei, roter Klatschmohn und weiße Kamille blühten an seinem Rand, dazwischen blassblaue Kornblumen.

»… Reiterhof Mohnblüte«, schlug Mam vor. »Oder …«

Auf der Fahrerseite ragten die Äste mehrerer Obstbäume über die Straße. Alessa zog unwillkürlich den Kopf ein und lehnte sich rüber zu Nell, die neben ihr auf dem Rücksitz hockte.

Ein romantisch-verklärter Ton schlich sich in Mams Stimme. »Oder Reiterhof zum alten Walnussbaum

»Das waren Kirschbäume«, brummte Nell leise genug, dass es die Erwachsenen vorne nicht hörten.

Alessa unterdrückte ein nervöses Kichern. Mam mochte ja ein Genie sein, wenn es darum ging, für ihre Auftraggeber Shampoo, Linkshänder-Zahnbürsten oder vegane Schokolade zu vermarkten, aber Baumkunde zählte nicht zu ihren Stärken.

Trotzdem war ausgerechnet sie Feuer und Flamme gewesen, als man Paps die Leitung einer Kleinstadt-Filiale angeboten hatte.

»Gibt es dort Pferde?«, hatte Nells einzige Frage gelautet, als Mam wieder mal am Frühstückstisch zwischen Müsli und Apfelschnitten für die Aktion »Umzug aufs Land« geworben hatte.

Alessas um zwei Monate ältere Cousine war bei allen Entscheidungen eher die Ruhe in Person. Dabei betraf der Umzug sie genauso, denn sie wohnte bei Alessa und deren Eltern, während ihre Mutter als Naturfotografin durch die Welt reiste. Zurzeit trampte Tante Martha gerade durch den hohen Norden.

»Natürlich!«, hatte ihr Mam versichert. »Drei Reiterhöfe in der näheren Umgebung, dazu jede Menge Bauern.« Und damit war die Sache für Nell auch schon erledigt gewesen.

Alessa hingegen hatte tausend Fragen gehabt. Mit jedem neuen Tag war ihre anfängliche Begeisterung einem mulmigeren Gefühl im Magen gewichen. Was, wenn die Schule in der Kleinstadt eines dieser Hochsicherheitsgefängnisse aus Beton wäre? Und das neue Haus schimmelte und nach Brokkoli stank und alle Nachbarn große, bissige Hunde besaßen?

Bis jetzt hatte sich zum Glück keine ihrer Befürchtungen erfüllt. Die Schule war, soweit sich das in den Ferien von außen feststellen ließ, ein ganz normales Gebäude mit großen Fenstern. Das Haus ihrer Familie war auch völlig okay mit einem schönen Garten und zwei Zimmern im oberen Stock, einem für sie, einem für Nell, und einem kleinen Bad nur für sie beide. Und in ihrer neuen Siedlung hatte Alessa bloß einen einzigen ältlichen Dackel getroffen.

Nun aber, auf dem Weg zum Reiterhof, kehrten ihre Ängste zurück. Wie würde es in der neuen Reitschule sein? Würde man dort anders putzen, anders satteln, anders aufzäumen oder gar mit Sperrriemen oder Kandare reiten?

Von den drei Höfen in der Umgebung lag der Speerhof am günstigsten. »Da könnt ihr bequem mit dem Rad hinfahren«, hatte Mam vorgeschlagen.

Auch Paps hatte gemeint, die Bewegung an der frischen Luft würde ihnen nicht schaden. Als wäre Reiten keine Bewegung an der frischen Luft! Ob Alessa Mam wenigstens dazu bringen könnte, ihnen neue, stylishere Radhelme zu kaufen? Ihrer stammte noch von vor zwei Jahren, als Türkis ihre Lieblingsfarbe gewesen war. Würden die anderen Mädchen im Stall sie damit auslachen?

So wie in Paulis Reitschule! Dort hatte es unter den Schülern zwei Grüppchen gegeben. Die reiche Angeber-Clique, die sich mehr für Reitkleidungsmarken als für die Pferde interessiert hatte. Und die Zicken, die zwar nicht ganz so hochnäsig gewesen waren, die Alessa aber immer zuckersüß zu ihren Fortschritten gratuliert und dann hinter ihrem Rücken gnadenlos über sie geätzt hatten.

Dazu noch Herr Pauli, der alte Rittmeister, der im Stall ein strenges Regiment geführt hatte. Niemand durfte ein Lieblingspferd haben und niemand seinem Reittier je ein Leckerli zustecken, weil das den Fütterungsplan durcheinandergebracht hätte. Nur die junge Reitlehrerin Crissy war richtig nett gewesen. Von ihr hatte Alessa eine Menge gelernt. Und natürlich hatte ihr die Zeit mit den Pferden geholfen, all die Zickereien und jeden Tadel zu ertragen.

Die Straße wand sich den Hügel hoch. Alessa zupfte aufgeregt an ihren glatten schwarzen Haaren. Dann legte sie verstohlen die Hand auf die Brust ihrer leichten Jacke. Tante Martha hatte ihr zu ihrem dreizehnten Geburtstag einen kleinen schwarzen Samtbeutel aus Island geschickt. Darin war ein silberner Runenanhänger für ihr Halskettchen gewesen. Er sah in etwa so aus wie ein Schwert mit der Klinge nach unten und einem großen X quer darüber. Gemeinsam mit Nell hatte Alessa das Symbol gegoogelt und war auf eine Rune gestoßen, die »Mut« bedeutete.

Der Anhänger glänzte hübsch, passte aber nicht recht zu ihrem Stil. Trotzdem hatte Alessa ihn vor der Fahrt zum Speerhof aus ihrer Schmuckschatulle gekramt. Unter dem hohen Kragen der Jacke würde ihn niemand sehen und beim Start in ein neues Reiterleben konnte man gar nicht zu viel Mut bei sich tragen!

Sie warf einen Blick auf Nell, die aus dem Fenster sah und gähnte. Die meisten Leute hielten sie beide für Schwestern, manchmal sogar für Zwillinge. Dabei hätten sie gar nicht unterschiedlicher sein können.

Während Alessa vor jeder Prüfung für ein Reitabzeichen nachts wach lag und beim Frühstück kaum einen Bissen runterbrachte, verschlief Nell meistens, löffelte dann in aller Seelenruhe ihre Cornflakes und trödelte im Bad. Letztes Mal hatte sie sogar ihren Reithelm zu Hause vergessen und sich Alessas leihen müssen. Und die Prüfung mit Bravour bestanden! Heimlich hatte Alessa ihre Gelassenheit oft bewundert. Wenn auch meistens nur so lange, bis sie durch Nells Schuld mal wieder den Bus verpasst und Herr Pauli sie deswegen angeblafft hatte.

Sie waren gerade über die Kuppe des Hügels, als Paps bremste. »Ich glaube, da vorn ist es.«

Mit klopfendem Herzen lehnte sich Alessa vor. Die asphaltierte Straße endete an einem Gatter, das offen stand. Links davon war ein Holzschild, so grau und verwittert wie zuvor der Wegweiser. »SPEERHOF« stand in Riesenbuchstaben oben, darunter in kleinerer Schrift: »Fam. Gunnar«. Zwischen dem Wort »Speerhof« und dem »Fam. Gunnar« verlief eine waagrechte Linie mit einer Spitze am Ende. Ein Speer.

Mam schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Also wirklich. Ein galoppierendes Pferd wäre doch ansprechender.«

»Ich glaube, jeder, der zum Reiterhof fährt, weiß schon, wie ein Pferd aussieht«, witzelte Nell.

Paps lachte. Mam gluckste und dieses Mal musste auch Alessa kichern. »Speerhof« klang wirklich zu dramatisch! Hoffentlich waren die Pferde keine wilden Schlachtrösser, die ihre Reiter erst abwarfen und dann auf ihnen herumtrampelten.

Paps stieg wieder aufs Gas. Langsam fuhren sie über eine Schotterstraße mit einem verwilderten Grasstreifen in der Mitte. Auf den ersten Blick sah es hier ganz nett aus. Die umzäunten Koppeln neben Alessas Fenster hatten Unterstände, da konnten die Pferde wohl auch nachts und vielleicht sogar im Winter draußen bleiben. Bloß wo waren die Pferde?

Am Ende der Straße lag der Hof. Ein großes Bauernhaus, ihm gegenüber eine Reithalle mit einem schmalen gelb verputzten Anbau, ganz vorne ein Reitplatz, hinter diesem der Stall. Und da – immerhin: Eine einzelne Reiterin bewegte sich über den Platz. In der Sonne schimmerte das fuchsrote Fell ihres Pferdes wie Kupfer.

Aufgeregt presste Alessa ihre Nase an die Scheibe. Der Fuchs sprang über ein Hindernis aus rot-weiß gestreiften Stangen. Seine Reiterin trieb ihn auf das nächste zu … Ihr erdbeerblondes Haar war fast so rot wie die Mähne und der Schweif ihres Pferdes und wehte über dem Kragen der dunklen Reitjacke.

Nell stupste sie an. Alessa guckte rüber zur Beifahrerseite. Und dort, auf zwei Koppeln nebeneinander, grasten die Pferde. Schimmel, Schecken, Braune in allen Schattierungen und Rappen. Ein zotteliger Apfelschimmel stürmte herbei und rannte neben dem Auto her bis ans Ende seiner Koppel, so ungestüm, dass Alessa Angst bekam, er würde gegen den Zaun prallen. Sie verrenkte sich den Hals und spähte durch die hintere Scheibe. Gerade noch rechtzeitig bremste der Apfelschimmel ab, warf den Kopf hin und her und schüttelte seine graue Mähne.

»Das ist meiner«, entschied Nell.

»Du wünschst dir ein Rennpferd? Ausgerechnet du?« Ungläubig starrte Alessa sie an.

»Klar doch«, erwiderte Nell. »Ich brauche ein Pferd, das für mich das Laufen übernimmt. Vielleicht kann er mich morgens zur Schule tragen, dann komme ich nie mehr zu spät.«

Alessa lachte mit ihr. Wahrscheinlich würde es ohnehin so sein wie in Paulis Reitschule, dass jeder jedes Pferd reiten musste, immer reihum, ohne Bevorzugung. Aber man durfte ja träumen.

Schon waren sie da! Paps stellte den Wagen auf der Schotterfläche seitlich neben dem Reitplatz ab. Mit fliegenden Fingern schnallte sich Alessa ab. Sie riss ihre Tür auf und hüpfte nach draußen.

Ein sanfter Wind empfing sie. Es roch nach Pferden! Der Augustnachmittag war fürs Reiten ideal, nicht zu kühl, nicht zu heiß. Die Nebelschleier von heute Morgen hatten sich verzogen und wahrscheinlich hätte sie die Jacke doch nicht unbedingt gebraucht. Das Mädchen auf der Fuchsstute war mit dem Springen fertig und trabte zum Ausgang des Platzes. Plötzlich zügelte die Rothaarige ihr Pferd und musterte Alessas Familie interessiert.

Sie sah ein bisschen älter aus als Alessa und sie war ziemlich hübsch mit ihrem blassen Gesicht, den vielen Sommersprossen und den Locken. Wenigstens trug sie bloß eine stinknormale blaue Jacke mit einer schwarzen Sicherheitsweste darüber, keine sündteure Reitjacke von TOPP-HORSE mit dem Neonstreifen am Kragen, wie sie bei der Angeber-Clique in Paulis Reitschule der letzte Schrei gewesen war. Auch wenn Mam Alessas Liebe zu stylishen Klamotten teilte: eine Sechshundert-Euro-Jacke – nicht mal eine Turnierjacke! – für einen Sport, bei dem sich Schlammspritzer und Stallgeruch nun mal nicht vermeiden ließen? Da hörte auch für sie der Spaß auf. Unauffällig guckte Alessa an sich runter. Ihre Stiefel waren zum Glück fast neu. Sie hatte erst vor zwei Monaten größere gebraucht und Mam hatte ihr Lederanstelle der Gummistiefel als verspätetes Geburtstagsgeschenk spendiert. Die beige Reithose mit den Glitzersteinen an den Gürtelschlaufen war auch in Ordnung. Zumindest passte ihre Farbe einigermaßen zur Reitjacke. Die war nämlich leider dunkellila! Vor einem halben Jahr, als Alessa sie bekommen hatte, war das ihre absolute Lieblingsfarbe gewesen, aber nun fand sie Silber viel schöner. Und was, wenn das Mädchen sie so wie die Zicken in Paulis Reitschule als »Pflaume« oder »Violessa« verspotten würde?

Nell tauchte neben ihr auf. Sie winkte. Alessa riss die Hand hoch und tat das Gleiche, damit das Mädchen nicht etwa glaubte, sie würde hier nur rumstehen und blöd glotzen. Das Mädchen nickte ihnen beiden zu, lenkte seine Fuchsstute dann weiter zum Ausgang des Platzes.

»Kommt ihr?«, rief Mam.

Alessa wirbelte herum. Ihre Mutter lachte. »Oder wollt ihr bloß zugucken und gar nicht reiten?«, neckte sie die Mädchen. Paps war schon ein Stück weit voraus, er hielt zielstrebig auf den Stall zu.

Ihre Ankunft war nicht unbemerkt geblieben. Vom Stall her kam ihnen eine Frau entgegen. »Frau Gunnar?«, ergriff Mam das Wort. »Wir haben telefoniert. Das sind die beiden Mädchen, von denen ich Ihnen erzählt habe: Nell und Alessa Arbinger.«

Frau Gunnar mochte Mitte fünfzig sein. Sie trug Jeans, eine hellblaue Bluse und hatte platinblonde Strähnchen in ihren kurzen roten Haaren.

»Nanu? Zwillinge seid ihr ja nicht, wenn ich mir euch so angucke«, stellte sie verdutzt fest. Alessa wunderte sich ohnehin immer, warum das jemand glaubte. Zwar waren sie beide gleich alt und hatten den gleichen Nachnamen, doch von allem anderen mal abgesehen war Nell ganze fünf Zentimeter größer als sie!

»Wir sind eigentlich Cousinen«, erwiderte Nell. »Aber ich wohne bei Alessa, also könnte man uns irgendwie auch als Schwestern betrachten.«

»Das erklärt alles.« Frau Gunnar lächelte. »Dann stelle ich mich auch gleich vor. Ich bin Hilde Gunnar, die Besitzerin des Speerhofs. Manche Leute hier nennen ihn den Gunnarhof. Die Reitstunden halte ich selbst ab, nur in Ausnahmefällen vertritt mich meine Enkelin.« Sie wies in die Richtung des Putzplatzes vor dem Stall, wo das rothaarige Mädchen seiner Fuchsstute gerade das Zaumzeug abnahm und das Halfter anlegte.

»Ihr reitet schon lange, hat eure Mutt… – habe ich am Telefon gehört«, verbesserte sich Frau Gunnar rasch. »Was habt ihr denn bisher gelernt?«

Weil Nell nichts sagte, gab sich Alessa einen Ruck. »Wir sind Vereinsturniere geritten«, piepste sie. Räusperte sich. Zum Glück kam ihr jetzt Nell zu Hilfe: »Wir waren oft im Gelände ausreiten, auch nachts. In Wald und Wiese und im Urlaub in den Dünen.«

»Und was könnt ihr noch nicht so gut?«

Alessa zog den Kopf ein und blickte verschämt runter auf die Spitzen ihrer Reitstiefel. In diesem Moment wünschte sie sich sehr, sie hätte keine Leder-, sondern billigere Gummistiefel und dafür viel mehr Mut.

»Mit dem Springen klappt es bei mir nicht recht«, murmelte sie, ohne den Kopf zu heben. »Meine Pferde verweigern ziemlich oft.«

Und kein Wunder! Pferde hatten ein äußerst feines Gespür dafür, ob ihre Reiterin unsicher war. Wenn sich Alessa vor den Hindernissen fürchtete, klar, dass es die Schulpferde bei ihr ebenso getan hatten. Dabei waren dieselben Schulpferde unter Nell problemlos über den hohen Oxer gesprungen.

Alessa sah hoch – geradewegs auf Frau Gunnars verständnisvolles Lächeln. »Danke, dass du so ehrlich bist«, lobte die Reitstallbesitzerin sie. »Und du wirst sehen, gemeinsam machen wir aus dir eine Springerin, wenn du nur willst.«

Sie wandte sich Nell zu. »Worauf sollte ich mich bei dir einstellen?«

»Ich mag es gern ein bisschen langsamer«, gab Nell unumwunden zu. »Ich meine, wenn das Pferd galoppieren will, ist es mir schon recht, solange ich selbst bloß nicht rennen muss.« Nell war nicht nur ein Morgen-, sondern abgesehen vom Reiten auch ein absoluter Sportmuffel. »Und ich könnte mich beim Putzen etwas mehr beeilen?« Das klang fragend. »Und ich komme ab und an zu spät. Es sei denn, Lessa hier zieht mich an den Haaren zur Reitstunde«, fügte sie grinsend hinzu und verpasste Alessa einen Schubs.

Hoffentlich erkannte Frau Gunnar, dass das ein Scherz gewesen war! Nicht dass es an Nells brünettem Kurzhaarschnitt so viel zu ziehen gäbe.

»Von meinen Schülerinnen fordere ich Pünktlichkeit ein«, informierte Frau Gunnar sie beide streng. »Ich verschwende eure Zeit nicht. Dafür erwarte ich mir, dass ihr meine auch nicht verschwendet.«

Alessa murmelte: »Jawohl, Frau Gunnar«, und hörte, wie Nell das Gleiche tat. Ob die Reitstallbesitzerin so wie Herr Pauli darauf bestehen würde, mit »Frau Rittmeisterin« angesprochen zu werden?

»Na, na, wir sind nicht beim Heer«, erwiderte Frau Gunnar belustigt. »Und da ich nun eure Reitlehrerin bin, nennt ihr mich besser Hilde, wie es alle tun. Das gilt selbstverständlich auch für Sie«, teilte sie Alessas Eltern mit. Alessa fand sie schon mal sehr viel netter als Herrn Pauli.

Dieser Eindruck bestätigte sich sogleich. »Ich schlage vor, wir gehen erst mal zur Koppel und ihr macht euch mit den Pferden bekannt. Da ihr heute meine einzigen Schülerinnen seid, habt ihr die freie Wahl. Und wer weiß, vielleicht findet ihr ja gleich euer neues Lieblingspferd?«

Ein kribbeliges Gefühl der Vorfreude machte sich in Alessa breit. Ein eigenes Pferd? Das natürlich dem Speerhof gehörte, klar, aber trotzdem – ein Lieblingspferd, auf das sie sich vor jeder Reitstunde einstellen und dem sie auch mal einen Apfel, eine Karotte oder ein Leckerli zustecken dürfte?

Mam warf ein: »Möchtest du den Mädchen nicht erst sagen, welche Pferde für sie am besten geeignet wären?«

Unbeirrt erwiderte Hilde ihren Blick. »Ich glaube fest daran, dass jedes Pferd selbst weiß, ob ein Reiter oder eine Reiterin zu ihm passt.«

Mam schwieg. Doch sie hatte recht. Nervös verlagerte Alessa ihr Gewicht von einem Bein aufs andere. Wie furchtbar wäre es, wenn sie sich aus Versehen für das bockigste Pferd im ganzen Stall entschied?

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BESONDERE PFERDE

Am Reitplatz und den Autos vorbei gingen sie zur Koppel. Hilde kam erst mal nicht mit, sie holte gleich zwei Halfter aus der Sattelkammer. Rasch ließ Alessa die anderen hinter sich zurück. Nur Paps mit seinen langen Beinen hielt mit Alessa Schritt. Erst als er einen Blick über die Schulter warf, kapierte sie: Das war Absicht. Er wollte allein mit ihr reden. »Wovor hast du Angst?«, fragte er leise.

Er kannte sie eben! Oder hätte ihr jeder an der Nasenspitze angesehen, wie mulmig ihr zumute war? Witterten etwa auch die Pferde auf der Koppel ihre Unsicherheit?

Sie blieb stehen. Paps betrachtete so neugierig ihr Gesicht, als versuchte er, ihre Gedanken zu lesen. Ja, wovor hatte sie Angst? »Dass ich mich für das falsche Pferd entscheide.«

»Soll ich dir einen Trick verraten?« Dankbar nickte sie. »Der Trick geht so: Überleg dir einfach, was das Schlimmste ist, das passieren könnte.«

Da brauchte Alessa nicht lange nachzudenken. »Das Pferd macht mit mir, was es will. Und Hilde schmeißt mich raus oder steckt mich in die Gruppe zu den sechsjährigen Anfängern.«

Paps lachte. »Glaubst du das wirklich?« Sie zuckte mit den Schultern. Starrte auf die Schotterstraße und den Grasstreifen, auf die Spitzen ihrer topmodischen Stiefel. »Weißt du, was ich glaube?«, fuhr Paps fort. »Das Schlimmste ist, dass du eben eine unerfreuliche Reitstunde durchstehen musst. Und nächstes Mal bittest du Hilde einfach um ein anderes Pferd.«

Alessa hob den Kopf. Eindringlich sah Paps sie an. »Wenn du dir diese Szene jetzt ausmalst, ist es doch halb so wild, oder? Du hast schon weit Schlimmeres überlebt.«

Tatsächlich? »Was denn?«

Er überlegte. »Na, zum Beispiel als du in deiner alten Reitschule mit nasser Hose reiten musstest. Erinnerst du dich?«

Und ob sie sich erinnerte! Joker, Rittmeister Paulis Schimmelwallach, war der Schrecken aller Schüler gewesen. Sogar Crissy, die doch schon Turniere gewonnen hatte, hatte sich bei ihm oft nicht durchsetzen können. Allein Jokers Namen neben ihrem eigenen auf der Einteilungstafel zu lesen hatte Alessa so nervös gemacht, dass sie an einem Regentag beim Satteln prompt das Nachgurten vergessen hatte. Und natürlich war beim Aufsitzen der Sattel unter ihr verrutscht und sie in einer schlammigen Pfütze gelandet.

»Guckt euch das an!«, hatte die Oberzicke Seline den anderen zugerufen. »Die Pflaume liegt im Dreck.«

Die hatten sich schiefgelacht! Und Alessa hatte die ganze Stunde in ihrer nassen, matschigen Hose reiten müssen. Und nachher am Putzstand war Seline zu ihr geschlendert und hatte scheinheilig gesagt, sie hätte beim Traben hinter Alessa bemerkt, dass Alessa wohl ein kleines Problem hätte. Und ob sie wüsste, dass es für so was Windeln gab, auch für ältere Kinder.

Sogar jetzt noch wäre Alessa bei der Erinnerung an diese Blamage am liebsten im Boden versunken. Sie war drauf und dran gewesen, das Reiten für immer hinzuschmeißen. Ohne Nell hätte sie es wahrscheinlich getan.

»Oder denk daran, wie du …«, begann Paps von Neuem. Alessa rannte voraus. Wenn er noch mehr von ihren peinlichsten Reitschulerlebnissen aufzählte, würde sie ihr letztes bisschen Mut auch verlieren.

Sie lief bis zur großen Koppel. Die meisten Pferde scharten sich um die Tränke, ein paar grasten abseits. Alessa lehnte sich an den grauen verwitterten Holzzaun. Sofort trabte ein Haflinger mit einem weißen Stern unter den blonden Stirnfransen herbei und fing hoffnungsvoll an, sie zu beschnuppern.

»Tut mir leid. Ich habe nichts für dich, nicht mal ein Stück Würfelzucker. Nächstes Mal vielleicht?«

Der Haflinger schnaubte verächtlich und kehrte ihr das Hinterteil zu, als verstünde er zwar jedes Wort, glaubte ihr aber kein einziges. Haflinger galten als gutmütig und leicht zu reiten … Andererseits war Joker genau so ein Pferd gewesen, das freundlich auf alle Reitschüler zugetrottet war, sie angebettelt und sogar sein weiches Maul in die Taschen ihrer Reithosen gezwängt hatte. Und sich dann, sobald man ihn geputzt und aufgezäumt in die Halle führen wollte, mitsamt dem Sattel im Dreck gewälzt hatte. Oder beim Antraben gebuckelt hatte. Oder im vollen Galopp plötzlich stehen geblieben war, sodass sich Alessa gerade noch wie ein Äffchen an seinem Hals hatte festklammern können, um nicht aus dem Sattel zu fliegen. Sie erschauderte. Nie wieder!, schwor sie sich.

Hinter sich hörte sie das Klappern von Hufen und drehte sich überrascht um. Mam, Paps und Nell waren noch ein gutes Stück entfernt stehen geblieben, um auf Hilde zu warten. Doch das rothaarige Mädchen führte seine Fuchsstute zur Koppel nebenan. Alessa gab sich einen Ruck und lief hin. »Hallo!«

»Hallo.« Das Mädchen wirkte, als wollte es noch was sagen, doch seine Stute tänzelte und scharrte mit den Hufen und sogleich wandte sich das Mädchen wieder ihr zu. Zum ersten Mal durfte Alessa die beiden aus der Nähe betrachten. Die Stute war für ein Pferd ziemlich klein, sie hätte auch ein Pony sein können und das rotbraune Fell an ihrer Kehle, ihrer Brust und ihren Fesseln wirkte ungewöhnlich zottelig und dicht. Vor allem dafür, dass es Sommer war! Die lange, füllige Mähne und der prächtige Schweif passten dazu.

Das Mädchen hob den Metallring an, der das Weidetor geschlossen hielt, und zog kräftig am Torflügel, bis dieser aufschwang. Dann nahm sie ihrem Pferd das Halfter ab. Die Stute stupste sie verspielt mit dem Maul an, galoppierte dann wie ein roter Pfeil durchs Tor und quer über die Koppel zu zwei anderen Pferden, die ganz hinten grasten.

Ihre Reiterin schloss das Tor. »Du bist neu hier, oder? Nicht nur auf dem Hof, sondern überhaupt. Ich habe dich noch nie gesehen.«

»Wir sind gerade erst hergezogen. Ich bin Alessa. Meine Cousine dort hinten heißt Nell.«

Das Mädchen lächelte. »Feeja Gunnar. Kannst mich Fee nennen, das tun alle. Na ja, fast alle.« Sie streckte die Hand aus, die nicht das Halfter hielt, und Alessa bemerkte etwas überrascht den festen Druck ihrer Finger.

»Verrätst du mir was?«, redete sie gleich weiter. »Wer hat dir und deiner Cousine gesagt, dass unser Speerhof der beste Reiterhof in dieser Gegend ist?«

Alessa zögerte. Sollte sie zugeben, dass Mam den Hof nur ausgesucht hatte, weil er am günstigsten lag? Oder doch so tun, als hätte ihnen jemand davon vorgeschwärmt? Bloß wer? Sie kannte hier ja niemanden.

Dann schon lieber ehrlich sein. »Meine Mutter hat gemeint, wir sollten es hier mal versuchen.«

»Glück gehabt«, erwiderte Fee mit großer Bestimmtheit. »Der Speerhof ist nämlich der beste Hof in dieser Gegend. Und ich sage das nicht nur, weil ich hier wohne. Meine Oma ist gelernte Pferdewirtin und sie reitet schon ihr ganzes Leben. Ich weiß echt niemanden, der mehr von Pferden versteht als sie.«

Na, das klang doch gut! Neugierig wies Alessa auf die Fuchsstute. »Wie heißt dein Pferd?«

Fee folgte ihrem Blick. »Fantasy«, antwortete sie knapp.

»Toller Name«, versicherte ihr Alessa.

Das Kompliment fiel auf taube Ohren. »Danke, ist nicht von mir. Sie hieß schon so, als ich sie kennengelernt habe«, erwiderte Fee in plötzlich sehr kühlem Ton, während sie anfing, den Führstrick von Fantasys Halfter aufzuwickeln.

Gerade war sie doch so nett gewesen. Was hatte Alessa falsch gemacht?

Noch während sie grübelte, brach Fee das Schweigen: »Oma Hilde hat zu euch gesagt, ihr sollt gucken, welches Pferd euer Favorit ist. Oder?« Das hatte wohl beiläufig klingen sollen, kam aber nicht so rüber.

Schlagartig begriff Alessa: Fee hatte Angst, dass sie, Alessa, sich ihr Pferd krallen wollte. Als ob! Erstens war Fantasy ja schon vergeben, noch dazu an Hildes Enkelin. Zweitens war Alessa bestimmt nicht doof genug, sich gleich das allererste Mädchen, das sie in der neuen Reitschule traf, zur Feindin zu machen. Und drittens ahnte sie schon, dass Fees Fantasy es mindestens so faustdick hinter den Ohren hatte wie Joker.

»Welches würdest du mir denn empfehlen?«, fragte sie hastig und war froh, als Fee sich entspannte.

»Kommt ganz darauf an.« Die meisten Pferde auf der Nachbarkoppel hatten ihre Köpfe gehoben und guckten zu ihnen her oder trotteten in Richtung Zaun. Nur eine Schimmelstute, deren schneeweißes Fell in der Sonne strahlte, fuhr unbeirrt fort, das Gras rund um die Tränke abzurupfen. »Mariechen dort ist unser Anfängerpferd …«

Autsch. Ehe Alessa etwas einwerfen konnte, verbesserte sich Fee zum Glück: »Aber du bist keine Anfängerin, stimmt’s?«

Alessa schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre Haare flogen. »Nell und ich reiten seit fast sieben Jahren.«

»Dann vielleicht Joleen? Sie hat unter den Schülern ziemlich viele Fans.« Fee wies auf eine sehr hübsche, zierliche, schwarz-weiß gescheckte Stute mit der leicht eingeknickten Nase, die ihr Araberblut verriet. »Sie checkt hin und wieder ab, ob ihre Reiter fest im Sattel sitzen. Wenn du beim Galoppieren im Gelände gern alle anderen hinter dir lässt, könnte sie die Richtige sein.«

Alessa senkte verschämt den Kopf, als Fee sie genauso prüfend musterte wie zuvor Hilde. Was würde Fee – und erst Hilde! – von ihr denken, wenn sie fragte, ob sie es für den Anfang doch lieber mit Mariechen probieren könnte?

Das ältere Mädchen wandte sich wieder der Koppel zu und deutete auf ein paar Braune hintereinander. »Pilot und Havanna haben schon Turniererfahrung. Saturn geht nicht gerne über Stangen oder durch Wasser, aber er hat, glaube ich, noch nie einen Reiter abgeworfen. Coco da drüben«, die Tigerscheckin stand allein am Rand der Koppel, »braucht eine weiche Hand. Wie gesagt, es kommt ganz darauf an, wonach du suchst.«

Sie verstummte. Mam, Paps und Hilde hatten das Tor erreicht. Hinter ihnen schlurfte Nell herbei. »Unsere Pferde sind im Sommer Tag und Nacht draußen«, hörte Alessa die Reitlehrerin sagen. »Für den Winter haben wir zwei befestigte Koppeln …«

Ein Wiehern übertönte ihre letzten Worte! Es kam von ganz hinten auf der Weide. Der Apfelschimmel, den Nell und Alessa durchs Autofenster gesehen hatten, galoppierte auf Nell zu. Überrascht blieb diese am Beginn der Koppel stehen, und ein verblüfftes Lachen entschlüpfte ihr, als der Apfelschimmel vor ihr den Hals lang machte und seinen Kopf zwischen die Zaunstangen schob. Nell streckte bereitwillig eine Hand aus, ließ ihn daran schnuppern und fing dann an, ihm die Ohren zu kraulen.

Fee schnappte hörbar nach Luft. Unvermittelt kehrte sie Alessa den Rücken zu und eilte zu Nell. Hilde stand zwar noch beim Tor, starrte aber wie verzaubert rüber. Ihr Mund hing ein Stück weit offen.

Alessa fühlte sich, als hätte ihr jemand einen Stich versetzt. Im Auto hatte Nell kurzerhand beschlossen, der Apfelschimmel wäre »ihr« Pferd, und offensichtlich dachte er genauso. Warum nur konnte es für sie nicht so einfach sein?

Paps lehnte sich an die Zaunstange neben ihr, die unter seinem Gewicht knarzte. »Bei dir alles klar?«, fragte er leise.

Sie zuckte mit den Schultern. Was sollte sie sagen? Resigniert wandte sie sich ab und der größeren Nachbarkoppel zu. Alle Pferde dort, selbst der Haflinger, hatten sich vom Zaun abgewandt, und sie wusste schon nicht mehr, welcher von den Braunen Pilot und welcher Saturn gewesen war. Jedenfalls wollte keiner von ihr gekrault werden.

Na und? Sie würde trotzdem nicht auf Nell eifersüchtig sein. Das nahm sie sich fest vor. Nell konnte ja auch nichts dafür, dass sich der Apfelschimmel benahm, als wäre das zwischen ihnen Pferdeliebe auf den ersten Blick.

Trotzdem: Es war wie verhext – und immer dasselbe! Alessa mühte sich ab, alles richtig zu machen, doch Nell flogen die Erfolge zu. Sie sprang mal eben locker über jedes Hindernis, wodurch sie es beim nächsten Versuch noch gelassener angehen konnte. Alessa dagegen? Je aufgeregter sie war, desto nervöser wurde ihr Pferd, desto aufgeregter wurde Alessa, desto nervöser wurde …

Eine Bewegung am Ende von Fantasys Koppel riss Alessa aus ihren trüben Gedanken. Von dort hinten, wo Fantasy graste und wo der Apfelschimmel gestanden hatte, trabte eine kastanienbraune Stute auf sie zu. Als bemerkte sie Alessas Blick, blieb sie stehen. Sie stampfte mit einem Huf, schüttelte dann so energisch den Kopf, dass ihre schwarze Mähne aufflog, und schwang ihren pechschwarzen Schweif. Alles zusammen kam Alessa wie eine Aufforderung vor.

Konnte das »ihr« Pferd sein? Vor Aufregung wagte sie kaum zu atmen, bis die Stute sich wieder in Bewegung setzte. Ihr Fell war so zottelig wie Fantasys und ihre wallende Mähne, die wie Rabenfedern schimmerte, ebenso lang und dicht. Als sie näher kam, fiel Alessa das Abzeichen an ihrem Kopf auf: ein ungewöhnlich gleichmäßiger Streifen, der sich an der Stirn kreuzte. Große Nüstern. Und wache, kluge, dunkle Augen. Ohne jeden Zweifel spürte Alessa, dass dieses Pferd wusste, wie niedergeschlagen sie sich gerade fühlte.

Und dass es ihr Selbstmitleid komisch fand.

Die Stute erreichte den Zaun. Ungeduldig scharrte sie mit einem Huf, als wollte sie sagen: »Na? Was ist? Traust du dich endlich, mit mir Freundschaft zu schließen?«

Vorsichtig hob Alessa eine Hand und legte sie auf die Pferdenase. Die Blesse war wirklich ungewöhnlich. Sie teilte sich in mehrere schmale Streifen, als hätte jemand ein Zeichen in das braune Fell gesetzt. Und das Merkwürdigste: Je länger Alessa hinsah, desto vertrauter kam ihr der Anblick vor. Wo hatte sie bloß genau dieses Symbol schon gesehen?

Etwas fuhr durch sie wie ein Blitz! Mit der freien Hand fummelte sie am Kragen ihrer Reitjacke, zerrte den Reißverschluss ein Stück weit auf und zog das Kettchen mit Tante Marthas Anhänger hervor. Hielt ihn hoch, starrte ungläubig darauf und dann auf die Blesse der Stute.

Das war ihre Rune.

Mut.

Der Blick der Pferdeaugen nahm ihren gefangen. Alessa erschrak, als sich hinter ihr jemand räusperte. Hastig stopfte sie den Anhänger zurück unter die Jacke. Für ein paar Herzschläge hatte sie sich gefühlt, als gäbe es auf der ganzen Welt nur sie und die kastanienbraune Stute.

Sie streichelte die Pferdenase und wandte sich dann um. Hilde führte Nells Apfelschimmel am Halfterstrick. Aus der Nähe betrachtet wirkte er ebenso klein und zottelig wie Fantasy und die Stute. Neben Hilde stand Fee. Sie hatte eine Hand vorm Gesicht und knabberte unruhig an einem Fingerknöchel. Deutlich sah Alessa die Verblüffung in ihren Augen.