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Bereits erschienen:

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eISBN 978-3-649-63641-0

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Die Print-Ausgabe erscheint unter der ISBN 978-3-649-63366-2.

LINA FRISCH

RISING

WERDEN DEINE GEFÜHLE DICH RETTEN?

SKYE

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Für all diejenigen, die den Mut haben,
ihre Stimme zu erheben
.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

EPILOG

NACHWORT

Die Autorin

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Am Horizont beginnt der Morgen, die Dunkelheit zu verdrängen. Ich hebe den Kopf und betrachte Hunters Gesicht neben mir. Seine blonden Bartstoppeln, die so lang geworden sind, dass sie die feine Narbe auf seiner Wange verdecken. Die Locken, die ihm wie immer in die Stirn fallen. Irgendwann müssen wir so eingeschlafen sein, die Rücken gegen den Stamm einer Palme gelehnt, mein Kopf auf seiner Schulter. Der Sand unter mir ist kühl und ich fröstele.

Heute Nacht hatte ich keinen Albtraum. Ich lag nicht, wie unzählige Male zuvor, im Kofferraum eines Fluchtautos, habe keinen Schrei und keinen Schuss gehört. Aber seit gestern weiß ich, dass es diesen Kofferraum wirklich gegeben hat, genau wie den Schuss. Seit gestern weiß ich, warum Mum vor vier Jahren spurlos verschwunden ist und warum Hunter die Kristallisierer mit jeder Faser seines Körpers hasst – ganz besonders meinen Vater. Wer könnte es ihm verdenken? Jeder würde den Mörder seiner Mutter hassen. Mörder. Das Wort fühlt sich nicht richtig an in Verbindung mit dem Mann, der mich aufgezogen hat. Aber der Schmerz, den ich im Mondlicht in Hunters Augen gesehen habe, lässt keinen Zweifel zu. Mörder.

Neben mir beginnt Hunter, sich zu regen. Ich beuge mich vor und drücke meine Lippen auf seine. Nur kurz und nicht halb so leidenschaftlich wie gestern, denn mit der Helligkeit bahnt sich die kalte Realität ihren Weg zurück in mein Herz. Das hier ist ein Albtraum, aus dem ich nicht erwachen werde. Ich blicke hinaus auf das wütende Meer, das in der Nacht noch friedlich an den Strand plätscherte, und spüre den rauen Wind in meinem Gesicht. Wir haben es bis hierher geschafft. Aber alles, was wir erreicht haben, ist wertlos, wenn wir unsere Aufgabe jetzt nicht zu Ende bringen. In meiner Jackentasche schließen sich meine Finger fest um das kühle Metall des Diktiergeräts, das Luce mir im Zentrum gegeben hat. Da sind sie, die beiden kleinen runden Knöpfe. Aufnahme, Wiedergabe. Mein Finger drückt auf Play.

»Wir schwören der Kristallisierung Treue.« Chloe Cremontes Stimme ist trotz des Sturms, der sich über uns zusammenbraut, deutlich zu verstehen. Hell und scharf wie Glas. »Wir verpflichten uns, vor keinem Hindernis zurückzuschrecken, um den Menschen zu seiner Natur zurückzuführen. Für ein Leben in Klarheit!«

Ich bemerke erst, dass meine Hand sich zur Faust geballt hat, als Hunter sich streckt und das Diktiergerät behutsam aus meinen Fingern löst. Chloe Cremontes Worte werden vom Wind davongetragen.

»Sie war einmal wie wir. Sie wollte etwas verändern, diese Welt zu einem besseren Ort machen!« Ich höre selbst die Wut in meiner Stimme. Leiser füge ich hinzu, was mich seit gestern Nacht nicht mehr loslässt: »Ich kann einfach nicht glauben, dass hinter all den Ideen von der gläsernen Gesellschaft ohne Diskriminierung, von Klarheit durch Traits – dass dahinter die ganze Zeit in Wahrheit ReNatura gesteckt hat. Sieht sie denn nicht, dass das Programm Frauen erst zu Emotionalen und dann zu Rechtlosen machen wird?«

»Wir reden von der Frau, die, ohne zu zögern, die Karriere ihrer eigenen Mutter beendet hat«, sagt Hunter hart. »Chloe Cremonte würde für ihren Platz im Weißen Haus alles und jeden opfern.«

»Ich habe mir immer vorgestellt, dass es schwer für sie gewesen sein muss damals …«

»Schwer?« Hunter lacht bitter. »Skye, der große Skandal war für Chloe ein gefundenes Fressen.«

Ich denke an den Tag, als die Ministerin Jessica Cremonte ihre Tochter Chloe in den Händen von Entführern glaubte und den fatalen Befehl gab, sie mit allen Mitteln zu befreien. Am Ende waren unzählige junge Menschen tot, unter ihnen auch Chloes kleine Schwester. Und ihre Mutter war eine gebrochene Frau. »Wie meinst du das?«, frage ich leise. »Sie hatte doch so viel verloren!«

Hunter wirft mir einen langen Blick zu. »Noch am selben Tag, an dem ihre Mutter ins Exil flog, hat Chloe uns zu einer verdammten Feier eingeladen.«

»Uns?« Ich muss so verblüfft aussehen, wie ich mich fühle.

»Ja, uns.« Hunter seufzt. »Meine Eltern, um genau zu sein, und eine Reihe anderer Unterstützer der ersten Stunde. Sie haben auf die Traits angestoßen. Und ich schwöre dir, dass Chloe ihrer Mutter keine Träne nachgeweint hat.«

»Deine Eltern waren Kristallisierungsanhänger?« Der Gedanke will einfach nicht bei mir ankommen.

»Mein Vater vor allem.« Hunters Kiefer spannt sich an. »Bevor Dad bei der Times anfing, hat er Journalistik-Kurse an der Long Island Universität gegeben. Zur gleichen Zeit studierte Chloe dort Politikwissenschaft. Sie gründete eine Hochschulgruppe, eine Art politischen Debattierclub. Dad ging zu einem der Treffen und war von den Themen begeistert. Damit begann ihre Freundschaft.« Hunter schüttelt verächtlich den Kopf.

»Warum hast du mir das nie erzählt?«, frage ich.

Er schaut mich verlegen an. »Vielleicht, weil ich diese Vergangenheit meiner Eltern gern ausblende. Aber immerhin hat zumindest Mum noch rechtzeitig erkannt, dass sie auf der falschen Seite stand.«

»Und dein Dad?«

Hunter zuckt die Schultern und starrt aufs Meer hinaus. Wir schweigen. Ich wünschte, er würde nicht immer diese Mauern um sich hochziehen. Ich wünschte, er würde mir vertrauen.

Vorsichtig frage ich: »Also waren sie zu Beginn beide in diesem … Debattierclub?«

Er nickt. »Dad ging regelmäßiger zu den Treffen als Mum, aber sie waren beide Mitglieder. Als die Gruppe wuchs, organisierte Chloe Klimastreiks und fuhr nach Washington, um dort gegen Waffengewalt zu protestieren.«

Ich versuche, mir die kühle Chloe Cremonte als leidenschaftliche Demonstrantin vorzustellen, doch es gelingt mir nicht. »Wie konnte aus einer idealistischen Hochschulgruppe eine diktatorische Partei werden?« Wann ist alles aus dem Ruder gelaufen?

»Macht«, antwortet Hunter grimmig. »Macht verändert Menschen. Aber die Kristallisierer werden mit diesem Wahnsinn nicht durchkommen.« Er schiebt das Diktiergerät zurück in die Innentasche meiner Jacke, zu McCartys Bericht über den medizinischen Hintergrund von ReNatura, den ich aus dem geheimen Labor des Zentrums gestohlen habe. Dann steht er auf und streckt mir die Hand hin. »Von hier aus ist es nicht mehr weit bis in die Seaview Hills. Wenn außer uns beiden noch irgendjemand von diesen Plänen erfahren soll, dann –« Er braucht nicht auszusprechen, was wir beide wissen: Dann müssen wir Angelas Wohnung finden, bevor wir gefunden werden. Von dort aus können wir die Welt über ReNatura aufklären. Von dort aus werden wir das perfide Geheimprogramm der Regierung zerstören.

Der Wind treibt das Meer über den Strand, während wir uns Hand in Hand auf den Weg machen. Sandkörner prickeln gegen unsere Arme und Gesichter wie tausend winzige Nadelstiche. Eine Böe fährt durch die Palmwedel über uns und mein Herz schlägt schneller, als ich einen Moment lang glaube, Sirenen in der Ferne zu hören. Obwohl es Unsinn ist. Die schwarzen Transporter der Kristallisierer haben keine Sirenen. Ich versuche, mich zu beruhigen, doch es gelingt mir nicht. Wenn sie uns aufspüren, dann sind wir verloren. Genau wie die klugen und mutigen Mädchen, die mir im Zentrum so ans Herz gewachsen sind. Mit einem Kloß im Hals denke ich an Luce, Fiona, Maxeni und all die anderen, die sich der Kristallisierung nicht beugen wollen. Ganz besonders an Luce. Ich berühre ihre Kette, die geschliffene Glasscherbe, die an einem Lederband um meinem Hals hängt, und wiederhole stumm das Versprechen, das ich gestern Nacht in Schlafsaal 4 gegeben habe, bevor ich mich mit dem Diktiergerät in der Hand auf die Jagd nach der Wahrheit machte. Ich bringe die Kette zu Luce zurück. Zu Luce, die ihre Freiheit für die dieses Landes gegeben hat … Wo bist du jetzt?, denke ich. Was machen sie mit dir?

»Sieht aus, als wären wir fast da«, ruft Hunter gegen den Wind an.

Ich folge seinem Blick. In einiger Entfernung erkenne ich eine Promenade mit den üblichen Cafés und Strandläden, in denen man Plastikschaufeln und Sonnencreme kaufen kann. Ich streiche über meinen weißen Faltenrock, der mittlerweile klamm und voller Flecken ist. Erst jetzt wird mir klar, was für ein Bild wir beide abgeben müssen. Am liebsten hätte ich die verhasste Zentrums-Uniform gestern Nacht zusammen mit meinem Check im Meer versenkt, aber ich kann schlecht in Unterwäsche bei dieser Angela aufkreuzen.

Wenig später klettern wir über eine kniehohe Mauer auf die asphaltierte Promenade, und Hunter kauft einem Bäcker, der gerade seine Ladentür aufschließt, zwei Doughnuts ab. Der Mann entdeckt mich vor dem Geschäft, lächelt und zwinkert mir zu. Wahrscheinlich hält er uns für zwei harmlose Teenager, die sich für eine Nacht von zu Hause weggeschlichen haben. Immerhin haben mir die Ereignisse der letzten Stunden das Wort Verräterin also noch nicht auf die Stirn geschrieben. Hunter zieht mich mit der Papiertüte in der Hand in einen Hauseingang, wo wir vor dem Wind geschützt sind.

»Willst du Schokolade oder Streusel?«, fragt er und hält mir die offene Tüte entgegen.

»Schokolade.«

Mein Überlebensinstinkt sorgt dafür, dass ich den Doughnut in Sekundenschnelle aufesse. Hunter lacht, bricht die Hälfte von seinem ab und hält sie mir hin.

»Das geht doch nicht –«

»Immerhin bin ich schuld daran, dass du damals das Abendessen im Zug verpasst hast. Jetzt sind wir quitt.« Grinsend sieht er zu, wie ich auch seine Doughnut-Hälfte verschlinge.

»Was soll ich sagen.« Ich lecke mir die Finger ab. »Der Verzicht auf regelmäßige Mahlzeiten ist der Teil des Rebellinnen-Daseins, der mich am meisten stört!«

»Gut, dass es nicht der Teil ist, in dem du mit dem unfassbar heißen Kerl durchbrennst.« Hunters grüne Augen funkeln. Er hebt mich hoch und wirbelt mich herum, bevor er meinen Hals küsst. Für einen winzigen Moment sind wir die zwei harmlosen Teenager, die von zu Hause abgehauen sind – doch dann nehme ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Hunter lässt mich herunter.

»Dein Wechselgeld!« Der Bäcker läuft mit wedelnden Armen auf uns zu und ich atme erleichtert auf.

Hunter nimmt die Dollarscheine entgegen, die der rotgesichtige Mann ihm reicht, und bedankt sich. Der Bäcker will sich schon umdrehen und zurück zu seinem Laden gehen, als sein Blick auf etwas zu unseren Füßen fällt. Er bückt sich und hebt die schmale Broschüre vom morgenfeuchten Asphalt auf. Doch bevor er eine Chance hat, die Schrift auf dem Deckblatt zu entziffern, reiße ich ihm die zusammengehefteten Papiere aus der Hand.

»Wichtige Hausarbeit«, murmele ich und presse McCartys Bericht fest gegen meine Brust. Er muss aus der Innentasche meiner Jacke gerutscht sein, als Hunter mich herumgewirbelt hat. Der Bäcker sieht verwirrt von Hunter zu mir und fragt sich wahrscheinlich, warum ich eine Hausarbeit mit zu einem Date nehme, noch dazu an einem Wochenende. Doch zu meinem Glück beschließt er, dass ihn diese Dinge nichts angehen.

»Na dann.« Der Bäcker verabschiedet sich mit erhobener Hand.

Als er wieder in seinem Laden verschwunden ist, lehne ich meinen Kopf gegen Hunters Brust.

»Tut mir leid«, sagt er geknickt. »Manchmal fühlt sich alles an wie ein Spiel. Und dann vergesse ich, wo wir sind. Wer wir sind.«

»Bald sind wir nur noch wir

Ich drücke seine Hand und versuche, McCartys Bericht wieder in meiner Jackentasche zu verstauen, doch die Blätter des Forschungspapiers flattern widerspenstig im Wind. Voller Abscheu betrachte ich die Hormonkurven, die in der kranken Welt von ReNatura beweisen sollen, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter eine Fehlentwicklung ist.

Über uns steigt die Sonne langsam höher. Sie verdrängt die Sturmwolken und erinnert mich daran, dass wir keine Zeit zu verlieren haben. Denn Zeit ist unser einziges Ass im Ärmel.

»Lass uns gehen«, sage ich grimmig.

Nach ein paar Minuten biegen wir von der verlassenen Strandpromenade in eine Nebenstraße ein und passieren ein Schild mit der Aufschrift Seaview Hills.

»Wer ist diese Angela eigentlich?«, frage ich. »Du musst sie doch ziemlich gut kennen, wenn sie uns einfach so aufnimmt.«

»Nicht wirklich«, antwortet Hunter knapp. »Wir sind derselben Arbeit nachgegangen.«

Hunters Gesichtsausdruck ist mit einem Mal abweisend, und ich bohre nicht tiefer, obwohl die Fragen, die ich schon gestern Nacht heruntergeschluckt habe, mir keine Ruhe lassen. Was ist das für eine Arbeit, bei der er sich diese Narben zugezogen hat, eine über seiner Wange und eine, die seine helle Augenbraue streift? Was für eine Arbeit macht Codenamen nötig? Doch ich wische die Gedanken beiseite. Stattdessen erinnere ich mich daran, wie salzig Hunters Lippen geschmeckt haben – nach Meer, Tränen, nach Verzweiflung und so etwas wie Liebe. Uns bleibt noch ein ganzes Leben für den Rest unserer Geheimnisse. Hoffentlich.

»Warte mal.«

Ich folge Hunters Blick zu einem Appartementkomplex, dessen Tor im Gegensatz zu den Eingangstoren der anderen gesicherten Anwesen um uns herum weit offen steht.

»Ist das Angelas Adresse?«, frage ich.

Hunter nickt. »Ich versuche besser mal, sie zu erreichen, bevor wir reingehen.«

Er zieht sein altes Klapphandy aus der Hosentasche und tippt eine Nummer ein. Nervös spähe ich durch das Tor.

»Wir sollten –«, beginne ich, doch Hunter steht nicht mehr neben mir. Ich schaue mich um und sehe, wie er mit dem Handy am Ohr den Bürgersteig auf und ab geht. Was verheimlichst du mir noch immer?

Über mir werden Rollläden heraufgezogen und enthüllen Fenster, die auf mich herabstarren wie große, leere Augen. Mein Herz pocht. Die Seaview Hills erwachen zum Leben – und damit wird es höchste Zeit für uns, von der Straße zu verschwinden. Einen Moment lang bin ich hin- und hergerissen, mache einen Schritt in Hunters, einen in die entgegengesetzte Richtung. Dann schiebe ich mich vorsichtig durch das geöffnete Tor, gehe an einem parkenden Prius vorbei und bleibe vor der Eingangstür stehen. An der trostlosen Betonwand des Appartementblocks sind drei Klingelschilder befestigt, zwei davon ohne Namen. Neben der untersten Klingel stehtAngela Kent in handgeschriebenen Buchstaben.

Plötzlich höre ich das Geräusch eines Motors herannahen. Mein Herz schlägt schneller, doch ich traue mich nicht, zur Straße zu sehen. Was, wenn gleich ein schwarzer Transporter um die Ecke biegt? Bevor ich einen klaren Gedanken fassen kann, habe ich schon die Klinke der Haustür hinuntergedrückt. Sie ist nicht verschlossen. Atemlos stolpere ich hinein und presse mich gegen die kalte Wand. Das Motorengeräusch kommt näher und ich sprinte zu dem Fenster im Treppenhaus. Ich erreiche es gerade rechtzeitig, um einen Ford mit ganz normalem Kennzeichen um die nächste Ecke biegen zu sehen. Wer auch immer da gerade vorbeigefahren ist, sucht nicht nach der Verräterin und dem falschen Testleiter. Mein rasendes Herz beruhigt sich. Die Kristallisierer werden vermuten, dass wir nach unserer Flucht aus dem Zentrum den Zugschienen nach Norden gefolgt sind, zurück in Richtung New York. Sie haben keine Ahnung, wo wir sind.

Ich laufe die wenigen Treppenstufen zurück ins Erdgeschoss und bleibe vor einer Wohnungstür mit Angelas Namen stehen. Überrascht sehe ich, dass sie nur angelehnt ist.

»Hallo?« Ich hebe die Hand und klopfe, doch drinnen rührt sich nichts. Es ist ihr doch nichts passiert?

Auf den Türrahmen ist eine Fünf mit einem Kreis drum herum gezeichnet. Als ich mit den Fingern darüberfahre, bleibt die staubige Farbe an meiner Hand zurück. Kohle. Was bedeutet das?

Und wo bleibt Hunter?

Irgendwo in der Ferne läuten Kirchenglocken. Sieben Mal. Sieben Uhr morgens. Also wird Luce mittlerweile seit neun Stunden vom Konsilium verhört. Ich denke an die Entschlossenheit, mit der sie Elias und dem Konsiliar entgegengetreten ist, und weiß, dass sie versuchen wird, stark zu bleiben. Für mich und für uns alle. Aber wie lange wird ihr das noch gelingen?

Ich klopfe erneut an Angelas Wohnungstür, doch wieder bekomme ich keine Antwort. Zögernd drücke ich die Tür auf. Strecke den Kopf in die Wohnung, sehe mich um. Keine umgeworfenen Möbel, keine Kampfspuren. Meine Anspannung sinkt. Wahrscheinlich leiden Hunter und ich einfach unter Verfolgungswahn.

»Angela?«, probiere ich es noch einmal. »Ich bin eine Freundin von Hunter.«

Zaghaft trete ich in ein Wohnzimmer, das mit hellgrauem Teppich ausgelegt ist. Ein scharfer Geruch steigt mir in die Nase. An irgendetwas erinnert er mich. Vielleicht ist es Desinfektionsmittel? Ich gehe ein paar Schritte weiter. Und dann fällt mein Blick auf den Schreibtisch an der gegenüberliegenden Wand. Ein Laptop!

Im Gehen nehme ich das Diktiergerät aus der Tasche. Alles, was wir brauchen, ist Zugang zum Internet, um den Menschen die Augen über unsere Regierung zu öffnen. Chloe Cremonte wird den Parteivorsitz verlieren, genau wie der Präsident seinen Platz im Weißen Haus. Denn noch werden die Leute sich dem verzerrten Weltbild von ReNatura nicht kampflos fügen!

Ich klappe den Laptop auf. Wenn ich es schaffe, unsere Aufnahmen in jeden wichtigen Social-Media-Kanal zu laden, haben wir es geschafft! Ich überlege, wie ich Angelas Passwort umgehen kann, als sich anstelle einer Anmeldeseite eine eisblaue Schrift über den schwarzen Bildschirm zu ziehen beginnt.

Man muss wissen, wann man verloren hat.

Ich verstehe nicht, was das bedeuten soll. Dann ertönt ein Knall.

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Das Geräusch von splitterndem Glas lässt mich herumfahren. »Skye!«

Ich stürze zurück, die Straße entlang, renne durch das offene Tor und die Eingangstür in den Flur, wo mir eine Welle von Hitze entgegenschlägt.

Skye! Bitte nicht …

Dicker, beißender Rauch verpestet die Luft, und meine Augen beginnen zu tränen, als ich mich in Angelas Wohnzimmer kämpfe. Es steht in grellen Flammen.

Nein.

Nein!

Ich kann Skye nicht verlieren. Ich kann nicht zulassen, dass die Kristallisierer mir auch noch sie nehmen!

Wo bist du?

Verzweifelt versuche ich, durch den dichten Rauch etwas zu erkennen. Ich wische mir die Tränen aus den Augen. Da liegt sie, auf dem Rücken. Umringt von Feuer, das sich unaufhaltsam durch den Teppich frisst. Ich stürze an der brennenden Couch vorbei und hebe Skye hoch. McCartys Bericht fällt aus ihrer Tasche und fängt augenblicklich Feuer. Benzin, denke ich mit zusammengebissenen Zähnen. Jemand hat hier Benzin ausgeschüttet!

Skye rührt sich nicht. Ich schirme sie mit meinem Körper vor den Flammen ab und entdecke eine Balkontür in unserem Rücken. Ich ziehe mein Shirt hoch, presse es über Nase und Mund, und haste mit Skye in den Armen durch das Zimmer, während sich die hohen Pieptöne der Rauchmelder in meinen Ohren mit dem Knistern der Flammenhölle vermischen. Ich reiße die Tür auf, stürze auf den Balkon und schaffe es, uns beide über die niedrige Brüstung auf den Parkplatz hinunterzuhieven.

Erst hinter dem nächsten Wohnblock bleibe ich im Schatten einer Toreinfahrt stehen. Vorsichtig lege ich Skye auf dem Asphalt ab.

»Bitte, Skye«, flüstere ich. Angsterfüllt lehne ich meine Stirn an ihre. Du weißt es nicht, aber ich liebe dich mehr als alles andere auf dieser Welt.

Eine Hand greift nach meiner, und mein Herz stolpert, als kornblumenblaue Augen zu mir aufblicken. Skye atmet rasselnd. »Wo ist –« Sie dreht den Kopf zur Seite und hustet. »Wo ist das Diktiergerät?«

Ich taste nach ihrer Jackentasche, doch Skye schüttelt den Kopf, langsam und mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Es war in meiner Hand! Ich muss es fallen gelassen haben.« Sie will sich aufsetzen und stöhnt.

»Es ist hier«, lüge ich hastig.

Skye lässt sich erleichtert zurück in meine Arme sinken.

»Dann haben wir es fast geschafft«, flüstert sie.

»Ja.« Eine dumpfe Verzweiflung breitet sich in mir aus. »Fast.«

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Skyes Augenlider flattern, als ich sie auf den Rücksitz des Cadillacs hebe. Das Schloss war ein Kinderspiel, wie immer bei alten Autos. Ich lächle, so aufmunternd ich kann, obwohl mir noch nie in meinem Leben so wenig danach zumute war. Behutsam streiche ich über ihren Arm, aus dem ich geistesgegenwärtig die Splitter gezogen habe. Sie müssen von dem Laptop stammen. Von der Bombe. Meine Kehle schnürt sich zu, als ich zurücksehe, die Straße hinunter, wo sich nun schwarze Rauchwolken über dem Wohnkomplex bilden. Das Diktiergerät ist zerstört, genau wie der Bericht von McCarty. Unsere Beweise für die Existenz von ReNatura – für immer fort. Aber darum werde ich mich später kümmern müssen. Die Kristallisierer sind bereit, uns zu töten. Wir müssen von hier verschwinden.

»Kannst du mich hören, Skye?«

»Mir ist schwindelig«, sagt sie gepresst. »Ich krieg keine Luft!«

»Alles wird gut«, behaupte ich lahm. Was tut man gegen eine Rauchvergiftung? Das Einzige, was mir einfällt, ist, die Fenster des Cadillacs herunterzukurbeln, damit Skye mehr Sauerstoff bekommt. »Ich habe einen Plan, okay? Aber du musst durchhalten.«

Skyes Hand liegt auf ihrer Brust, wandert zu ihrem Hals, als würde sie den Fehler suchen. »Warum … keine Luft …«

Ich beobachte besorgt den Rhythmus, in dem Skyes Brust sich viel zu schnell hebt und senkt.

»Du atmest. Es ist alles in Ordnung, hier ist kein Rauch mehr. Du wirst nicht ersticken, okay?«

Skyes Kopf sackt zur Seite weg, und mir wird klar, dass sie das Bewusstsein verloren hat. Beeil dich, Idiot!

Mit fahrigen Fingern schließe ich den Motor kurz und stoße einen erleichterten Laut aus, als das alte Ding aufbrummt. Ich lege den Gang ein und fahre los. Nervös schalte ich das Radio ein und suche einen Sender. Fahnden sie nach uns? Der Empfang wird klarer.

»Es sind nur noch knappe drei Wochen bis zum Kristallfest am ersten Juli und ganz New York trifft fieberhafte Vorbereitungen für die Parade. Schließlich haben die Gläsernen Nationen in diesem Jahr mehr zu feiern als je zuvor! Ich stehe gemeinsam mit Regierungssprecher Edward McCarty vor der Administration. Herr Regierungssprecher, welche Meilensteine hat die Kristall-Administration in diesem Jahr erreicht?«

»Seit Kurzem schießen die Kristallisierungsraten unter Erwachsenen in die Höhe. Wir reden bereits in drei Viertel aller Bezirke von Vollkristallisierung und erwarten dieses Ergebnis bald in den gesamten Nationen.«

Kein Wunder, wenn die Bereitschaft der Eltern, sich einem Trait zuzuordnen, die Bildungschancen ihrer Kinder bedingt, denke ich bitter.

»Der Kristall ist sehr bewegt von dieser Welle der Überzeugung, jährt sich doch neben dem Kristallfest auch der große Skandal in wenigen Tagen …«

Erleichtert schalte ich das Radio aus. Keine Meldung über zwei gesuchte Verräter. Stattdessen werden sie jetzt wieder den Tod der Studierenden breittreten, die schreckliche Schießerei und die impulsiven Befehle einer Ministerin, die für all das verantwortlich sind. Sie werden uns vorbeten, wie glücklich wir uns schätzen können, weil die neue Ordnung uns vor derartigen Katastrophen schützt. Und wieder einmal werden sie das Loblied anstimmen auf Chloe Cremonte, die Tochter eben jener unbeherrschten Ministerin. Chloe Cremonte, die uns die Traits geschenkt hat, die Einteilung der Menschen in Rationale und Emotionale … und noch so viel mehr. Aber davon wissen nur Skye und ich. Noch.

Ich gebe Gas, wütend auf die Show und die Menschen, die sich zu wohlfühlen, um irgendetwas zu hinterfragen. Laut der Uhr am Armaturenbrett ist schon mehr als eine Stunde vergangen. In den Seaview Hills werden die Bluthunde der Regierung Angelas Wohnung mittlerweile nach unseren Leichen durchsucht haben. Ich umklammere das Lenkrad fester. Die Kristallisierer werden nichts unversucht lassen, um uns zu finden. Und sie sind nicht die Einzigen, vor denen ich Skye beschützen muss.

Ich folge den Schildern und fahre auf den Highway. Es gibt einen Ort in den Gläsernen Nationen, über den die Kristallisierer keine Macht haben. Auf dem Rücksitz beginnt Skyes bewusstloser Körper, unkontrolliert nach Luft zu schnappen.

»Halt durch!« Der Motor heult auf, als ich das Gaspedal durchtrete. Die Reservate sind selbstverwaltete Gebiete, dort werden Cremontes Ordnungswahrer uns nicht finden. Ich muss Las Almas erreichen, bevor es zu spät ist.

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Eine glühende Sonne brennt auf die Pinien am Straßenrand herab, als ich die Fahrertür des Cadillacs aufstoße und aus dem Wagen springe. Fast wünsche ich mir den stürmischen Wind der Küste zurück.

»Wir haben es bald geschafft«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, als ich Skye vom Rücksitz hebe.

Ausgerechnet so kurz vor dem Ziel musste mir das verdammte Benzin ausgehen! Mit Skye in meinen Armen klettere ich über die Leitplanke auf einen verlassenen Feldweg. Ängstlich mustere ich Skyes gespenstisch blasse Wangen. Halt durch … Ich treibe mich zu einem schnelleren Tempo an. Links neben dem Pfad beginnt ein sumpfiges Gebiet, über das sich mächtige Mangrovenbäume erstrecken. Wie oft haben Yana und ich uns früher hier versteckt, wenn unsere Familien am Ende des Sommers zurück nach New York fahren wollten … Es wird nicht leicht werden, mein plötzliches Auftauchen zu erklären. Oder besser mein fünfjähriges Fernbleiben.

Skye stöhnt leise und jeder andere Gedanke verschwindet aus meinem Kopf. Bitte sei nur noch ein einziges Mal stark! Ich betrachte den sanften Schwung ihrer Lippen, die dunklen Wimpern, die ihre geschlossenen Augen umrahmen. Und dann kann ich nicht mehr an mich halten.

»Es tut mir so leid«, stürzt es aus mir heraus, während ich den Feldweg entlanghaste. »Ich hätte dir die Wahrheit sagen sollen … über Beth … deine Mum … was sie seit vier Jahren wirklich tut. Über den Ring. Über ihren Plan für euch beide.« Und jetzt habe ich vielleicht nie wieder die Chance dazu.

Erneute Krämpfe schütteln Skyes Körper, als die ersten Straßen des Reservats in Sicht kommen. Ich beschleunige nochmals mein Tempo, bis ich endlich das Haus der einzigen Person erreiche, die Skye vielleicht noch retten kann.

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Heb ihren Kopf an.« Ich höre jemanden stöhnen. »Vorsicht! Pass auf die Verbrennungen auf.« Kühle Finger befestigen einen Schlauch unter meiner Nase. »Bis morgen früh komme ich nicht an ein vernünftiges Beatmungsgerät. Du hättest sie ins Krankenhaus bringen sollen, Hunter!« Jemand streicht meine Haare zurück. Ich öffne die Augen und erkenne das Gesicht einer Frau. Ihre Stirn liegt in Falten, der Blick, mit dem sie mich mustert, ist konzentriert. »Immerhin muss sie sich nicht erbrechen. Das ist ein gutes Zeichen.«

Wo bin ich? Doch bevor ich diese Worte über die Lippen bringen kann, wird wieder alles schwarz.

Beißender Rauch dringt unaufhaltsam in meine Lunge. Ein scharfer Schmerz. Splitter. Das Krachen wütender Flammen in den Ohren, taste ich über den Teppich. Wo ist das Diktiergerät? Ich muss es fallen gelassen haben, kurz nachdem die eisblauen Buchstaben über den Computerbildschirm liefen und die Hölle auf Erden begann.

Man muss wissen, wann man verloren hat.

Der Rauch wird dichter, ich kann kaum noch etwas sehen. Das Diktiergerät! Meine Hand tastet verzweifelt über den Boden. Auf dem unscheinbaren Apparat sind die Worte gespeichert, die das Kartenhaus aus Lügen, in dem ich seit fünf Jahren lebe, zum Einsturz bringen können. Es darf nicht verbrennen! Meine Hand entzieht sich meiner Kontrolle. Ich spüre wieder, wie Tonyas Finger meinen entgleiten. Sehe sie fallen, sehe den Transporter mit den getönten Scheiben, der die Mädchen fortschafft. Mädchen, die ihre eigene Stimme behalten wollten und für die es in den Gläsernen Nationen bald keinen Platz mehr geben wird. Mädchen wie mich.

»Skye!«

Seine Stimme treibt meinen Herzschlag in die Höhe, als würde sich mein Körper noch einmal aufbäumen, um ihn nicht in diesem Chaos zurückzulassen.

»Hunter«, flüstere ich, aber ich bekomme keine Antwort. Ich will mich aufraffen, will zu ihm, aber ich kann mich nicht bewegen, während das erstickende Feuer immer näher kommt. Lass mich nicht allein!

Ich spüre Hunters Lippen auf meinen, unseren ersten Kuss in der kühlen Luft des Parks am Abend unserer Flucht aus dem Zentrum. Meine Finger streichen über sein Gesicht. Ich presse ihn an mich und atme durch den rauen Stoff seines Shirts den vertrauten Duft nach Pfefferminze ein.

»Wir müssen sie aufhalten«, flüstere ich, bevor ein tiefes schwarzes Loch die Angst und Wut und Liebe, die mich zu erdrücken drohen, endlich verschwinden lässt.

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»Skye!«

Meine Augenlider flattern, hin- und hergerissen zwischen zwei Welten. Ich spüre ein feuchtes Tuch auf meinem Gesicht.

»Wir dürfen …« Meine Stimme ist rau wie zersplittertes Glas. »Wir dürfen nicht länger warten!« Als ich versuche zu schlucken, schüttelt mich ein heftiger Hustenanfall. Meine Brust zieht sich zusammen, und ich schnappe nach Luft, ohne atmen zu können.

»Was passiert mit ihr?« Hunters Stimme klingt fern. »Warum geht es ihr immer schlechter? Verdammt, das kann doch nicht normal sein!« Der Raum verschwimmt vor meinen Augen – aber ich muss bei Bewusstsein bleiben.

»Das Diktiergerät!« Meine Worte sind kaum mehr als ein Keuchen, doch das Aufleuchten in Hunters grünen Augen verrät mir, dass er mich verstanden hat. Er muss meine Aufnahme aus dem geheimen Konferenzraum veröffentlichen, die Welt muss von ReNatura erfahren – jetzt! Ich versuche, meine Hand nach ihm auszustrecken, und wieder entfährt mir ein Stöhnen.

»Bring Hunter hier raus!«, befiehlt die strenge Frau. Eine jüngere Version von ihr taucht neben Hunter auf und fasst ihn sanft am Arm.

»Ich gehe nirgendwohin!«, protestiert er.

Ich will nicht, dass er geht. Ich will, dass er bei mir bleibt. Eine Nadel schiebt sich in meinen Handrücken. Meine Finger erschlaffen und geben den Stoff frei, den sie umklammert haben, während die Ränder des kleinen Zimmers wieder schwarz werden.

Ich will nicht schlafen.

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Die Uhr über dem Herd zeigt eins, als das Geräusch von Schritten die nächtliche Stille durchbricht. Ich springe auf.

»Reka, wie geht es –«, beginne ich, doch es ist nicht die frühere beste Freundin meiner Mutter, die die Küche betreten hat.

»Keine Sorge. Die Verbrennungen sind versorgt. Ma ist jetzt mit der Blutprobe auf dem Weg ins Krankenhaus.«

Ich nicke erschöpft. Das Auto habe ich nicht wegfahren hören, ich muss also doch eingeschlafen sein. »Warum bist du nicht im Hauptquartier?«, frage ich. »Hat Beth dir endlich Urlaub gegeben?«

Yana legt den Kopf schief. »Unwichtig. Sag mal, täusche ich mich, oder liegt gerade genau das Mädchen bewusstlos in meinem Bett, für das Beth dich ins Zentrum geschickt hat?« Ihr dichtes Haar fällt seitlich über ihre Schulter, wo der Flügel eines Vogels unter ihrem Shirt hervorblitzt. Die Natives halten den Vogel für den Herrscher der Erde. Yana Faray hält ihn für ein Protestsymbol gegen diejenigen, die sich benehmen, als wären sie diese Herrscher. »Will Beth die Kleine auf einmal nicht mehr haben?«

Bei dem Gedanken an meinen Auftrag läuft ein Schauer über meinen Rücken. Ich sollte dafür sorgen, dass Skye das Zentrum als Rationale verlässt, nicht als Untreue. Wenn die Kristallisierer eine öffentliche Fahndung nach uns herausgeben und Beth das Gesicht ihrer Tochter in den Nachrichten sieht, wird sie sofort wissen, dass etwas nicht stimmt. Und dann …

»Erde an Hunter?« Yana schnipst mit den Fingern vor meinem Gesicht herum.

»Beth darf nicht erfahren, dass wir hier sind.« Ich bemühe mich, gefasst und ruhig zu klingen.

»Was ist passiert?«

»Es ist … kompliziert«, stammele ich.

Yana stellt eine dampfende Tasse vor mir ab und setzt sich neben mich auf die Küchenbank. »Wenn du verlangst, dass ich meine Chefin hintergehe, solltest du mir besser einen guten Grund dafür liefern.«

Yana vergöttert Beth, seit diese sie vor zwei Jahren beim Ring aufgenommen hat. Ich rühre in meinem Kaffee herum, schwarz, ohne Zucker. Beth würde mich umbringen, wenn sie wüsste, dass ich es Yana erzähle. Aber Beth wird mich sowieso umbringen … Müde fahre ich mir durch die Haare.

»Skye ist nicht irgendein Auftrag. Sie ist Beths Tochter.«

»Beth hat eine Tochter?«

Yana reißt erstaunt die Augen auf. Ich kann es ihr nicht verdenken. Beth ist alles andere als ein mütterlicher Typ. Oder vielleicht ist dieser Teil von ihr auch einfach nur verschwunden in den vier Jahren, die sie nun schon damit verbringt, die Leben anderer Menschen aufs Spiel zu setzen, um Skye zurückzubekommen. Wie immer meldet sich ein nagendes Schuldgefühl in mir, als ich an die Nacht ihrer Flucht denke. Ich hätte bei Skye bleiben müssen, hätte sie aus dem Kofferraum befreien müssen. Dann wäre ihr Vater nicht mit ihr abgehauen. Dann hätte sie nicht vier Jahre lang geglaubt, von ihrer Mutter verlassen worden zu sein – und Beth hätte nicht vier Jahre lang Zeit gehabt, einen stummen Hass auf mich zu entwickeln, weil ich ihr geblieben bin statt Skye.

In der Küche herrscht vollkommene Stille, die nur durch das Ticken der Uhr unterbrochen wird.

»Beth hat den Ring nicht aus Großherzigkeit gegründet«, sage ich schließlich. »Was sie tut, dient nur einem Ziel, und zwar sich selbst und Skye die Flucht zu ermöglichen.«

»Deshalb musstest du dafür sorgen, dass sie eine Rationale wird?«, fragt Yana. »Damit Beth mit ihr problemlos die Grenze überqueren kann, ohne –«

»Ohne eins ihrer eigenen falschen Traitmarks nutzen zu müssen«, beende ich ihren Satz. Die Bitterkeit in meiner Stimme lässt sich nicht verbergen. Yana legt ihre Hand auf meinen Arm.

»Die Lösungen des Rings sind nicht ideal, aber immerhin tut Beth etwas, anstatt wie die Leute im Reservat bloß stillzuhalten und zu hoffen, dass die Kristallisierer von allein wieder verschwinden! Die Traits nehmen uns unsere Freiheit. Wir geben sie den Menschen zurück.«

Ich zucke zusammen. »Die Traits nehmen uns unsere Freiheit.« Das ist es, was Abigail zu mir gesagt hat, als ich ihr das falsche R stach. Ich hatte keine Ahnung, ob es sie in Sicherheit bringen würde. Mit aller Macht versuche ich, Abigails Gesicht aus meinen Gedanken zu verbannen, aber wie üblich funktioniert es nicht. Wann werde ich dich endlich vergessen können?

»Was auch immer Beth den anderen einredet«, sage ich und befreie meinen Arm aus Yanas Hand. »Was auch immer sie dir eingeredet hat, damit du glaubst, deine Arbeit für den Ring sei ein Dienst an der Menschheit: Vergiss es. Beth ist kein wohltätiger Engel. Sie weiß nur zu gut, dass unsere Traitmarks nichts als Tinte sind, die ohne Datentransmitter keinem Scan standhalten.« Hasserfüllt betrachte ich das R auf meinem eigenen Handgelenk. Eine nur fast perfekte Täuschung …

»Aber das sagt sie den Kunden doch auch offen und ehrlich! Es ist die freie Entscheidung jedes einzelnen, das Risiko einzugehen.«

»Du meinst die freie Entscheidung der Leute, die keine andere Chance mehr haben als uns?« Ich schiebe meinen Stuhl zurück und stehe auf. »Beth kann den Ring als Fluchthilfeorganisation bezeichnen, so viel sie will – aber wir sind Schlepper, nichts anderes. Wir lassen uns ein bisschen Tinte und eine Fahrt zur Grenze mit einem Vermögen bezahlen, das wir nicht nehmen müssten, wenn Beth –«

Wenn Beth es nicht für Skyes und ihren Neuanfang brauchen würde … Mein Mund wird trocken. Noch drei Wochen. Wir haben noch drei Wochen, bevor die Testung offiziell endet und Beth uns in der alten Bibliothek erwartet. Ich muss so schnell wie möglich an neues Beweismaterial für ReNatura kommen. Wenn wir die Pläne der Regierung enthüllt haben, braucht Beth nicht mehr zu fliehen. Dann wird sie mir Skye nicht wegnehmen …

»Und warum machst du dann mit?« Yanas dunkle Augen glänzen. »Wenn alles, was wir machen, so aussichtslos ist, warum hast du dich Beth dann überhaupt angeschlossen? Und warum hast du mich zu euch geholt?«

Ich habe mich Beth nicht angeschlossen, ich hatte keine andere Wahl! Aber das kann ich nicht sagen, nicht einmal Yana. Ich kann nicht aussprechen, was mit Mum passiert ist. Nicht hier, bei den letzten Freunden meiner Eltern, die glauben, Sol Riviera sei noch am Leben. Ich kann sie kein zweites Mal sterben sehen.

»Du wolltest zum Ring, vergiss das nicht«, sage ich kühl. »Ich habe versucht, dich nach Las Almas zurückzuschicken. Aber du wolltest die Gefahr, du wolltest nicht gehen, weil –« Ich stoppe mich gerade noch rechtzeitig. Es wäre unfair, Yana vorzuwerfen, dass sie raus aus dem Reservat wollte. Dass sie nicht zusehen konnte, wie ihre Mutter sich immer mehr abschottete, während ihr Vater gegen den Krebs verlor. Und ausgerechnet ich darf mir wohl kein Urteil über ungesunde Bewältigungsstrategien erlauben.

»Ich wollte nicht gehen, weil du mich ebenso sehr gebraucht hast wie ich dich!«, ruft Yana.

Ich senke den Blick. Vielleicht habe ich das.

»Also ist dann alles vorbei?«, fragt sie schließlich. »Wenn du sie zu Beth bringst, hauen die beiden ab und der Ring ist Geschichte?«

»Keine Ahnung. Vielleicht bestimmt sie einen Nachfolger.«

Yana sieht mich forschend an. »Aber du wirst Skye nicht zu Beth bringen, richtig?«

»Nicht, solange Skye das nicht will.«

»Du bist in sie verliebt.« Yana lacht trocken. »Mein Gott, Hunter! Als ich die Tür aufmachte und dich sah, habe ich gedacht, dass deine Tarnung als Testleiter aufgeflogen ist. Nicht, dass du mit deinem Schützling getürmt bist und jetzt vorhast, dich gegen Beth Anderson zu stellen.« Yana mustert mich mit verschränkten Armen. Einen Moment lang bin ich unsicher, auf wessen Seite sie sich stellen wird. »Von mir erfährt Beth nichts«, sagt sie schließlich und ich atme erleichtert aus. »Aber wenn es stimmt, was du sagst, wird sie alles tun, um an Skye heranzukommen, ob mit oder ohne R. Und ihre Chancen stehen nicht schlecht.«

»Ich weiß«, erwidere ich und denke an die Karte der Gläsernen Nationen im Hauptquartier, auf der blinkende Punkte die Kontakte des Rings markieren. Sie leuchtet so hell wie der Weihnachtsbaum vor dem Rockefeller Center. »Ich weiß …«

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Die Stimmen hinter der Wand verstummen. Ich lasse meinen Kopf zurück ins Kissen sinken. Was für ein Medikament auch immer die strenge Frau mir gespritzt hat, es muss im Laufe der Nacht seine Wirkung verloren haben. Leider. Ich schließe die Augen in der Hoffnung, so den pochenden Schmerz hinter meinen Schläfen zu beruhigen.

Es war also nicht die ganze Wahrheit, was Hunter mir über Mum erzählt hat. Dass sie mit mir fliehen will. Dass sie meine Testung abgewartet hat, damit ich als Rationale ohne Antrag das Land verlassen kann. Wir sind Schlepper, nichts anderes. Auf einmal ergibt Hunters Verschlossenheit, wenn es um seine Arbeit geht, einen Sinn.

Ich schließe die Augen und denke an die Abende, an denen Mum mir beigebracht hat, Fotografien zu entwickeln. An ihr Lächeln und ihre Wärme, in der ich mich zu Hause gefühlt habe. Beth ist kein wohltätiger Engel. Ich schüttle den Kopf und stöhne, als unter dem Verband eine Feuerzunge über meine Schulter leckt. Aber der brennende Schmerz ist nichts gegen das seltsame Ziehen in meiner Brust, das mir weismachen will, keine Luft zu bekommen, obwohl ich atme. Ist das normal bei einer Rauchvergiftung? Meine Hände fahren zu dem Schlauch unter meiner Nase und ich konzentriere mich auf den Rhythmus meines Herzschlags. Ich kann atmen. Keine Panik. Alles wird gut. Tränen laufen über meine Wangen, während ich dieses Mantra wiederhole und versuche, damit zu übertönen, was ich durch die Wand gehört habe.

Meine Mutter hat sich nach ihrer gescheiterten Flucht nicht bloß versteckt und darauf gewartet, dass Hunter mich zu ihr bringt. Sie hat unsere Flucht vorbereitet, indem sie sich von verzweifelten Kristallisierungsgegnern für falsche Traitmarks bezahlen ließ, von denen sie wusste, dass sie einem Scan nicht standhalten würden. Sie hat Hunter gezwungen, als Schlepper zu arbeiten. Einen damals fünfzehnjährigen Jungen! Und mein Vater … mein Vater hat Sol Riviera erschossen. Ich beginne wieder, nach Luft zu schnappen. Das sind nicht die Eltern, die mich aufgezogen haben. Die nur das Beste für mich wollten und die mich geliebt haben. Das sind nicht die Menschen, die ich kenne.

Als sich die Matratze unter mir zur Seite neigt, zucke ich zusammen. »Jetzt habe ich ihr auch noch wehgetan.«

Ich öffne die Augen und sehe, wie Hunter aufspringt und sich durch die aschblonden Locken fährt. Ich habe ihn nicht hereinkommen hören.

»Solange du keine Bombe unter meinem Bett zündest, kann ich so gut wie alles ertragen«, erwidere ich krächzend.

Hunter lächelt erleichtert, als ihm klar wird, dass ich aus eigener Kraft aufgewacht bin. Doch dann mustert er mich besorgt. »Wie geht es dir? Sind die Schmerzen stark? Reka hat ein Medikament dagelassen, für den Fall –«

»Hunter«, unterbreche ich ihn sanft.

Die letzte Spur seines Lächelns verschwindet, als er mir in die Augen sieht. »Du hast uns gehört.« Er weicht von meinem Bett zurück, als wollte er sich in Sicherheit bringen.

Ich strecke die Hand nach ihm aus. »Hör auf, dir selbst Vorwürfe zu machen!« Es kostet mich Kraft zu sprechen. »Im Zentrum hattest du die Wahl. Und du hast dich entschieden, das Richtige zu tun. Im Gegensatz zu ihr.«

Ich schließe die Augen, nur ganz kurz. Als ich sie wieder öffne, kniet Hunter neben meinem Bett. Er seufzt, als würde ihm das, was er mir jetzt sagen will, nicht leicht über die Lippen kommen. »Beth hat dich damals verloren und tut seitdem alles, um dich wiederzubekommen. Sie liebt dich, Skye. Wenn es eine Entschuldigung für ihre Entscheidungen gibt, dann, dass sie jede einzelne aus Liebe getroffen hat.« Ich beobachte, wie sich die Muskeln seines Kiefers verkrampfen. »Ich hatte Angst, dass du schlecht von mir denkst, wenn du erfährst, was ich getan habe. Deswegen habe ich dir nichts vom Ring erzählt. Aber vielleicht wollte ich dir auch einfach nicht zeigen, wie sehr deine Mutter dich liebt.« Seine grünen Augen schimmern, als er mich endlich ansieht. »Wenn du deine Meinung änderst, wenn du zu ihr willst, dann bringe ich dich nach New York.«

»Nein«, sage ich leise, aber bestimmt. Hunter öffnet den Mund, doch ich lege meine Hand an seine Wange und sehe ihm fest in die Augen. »Mum hat einen Jungen, der gerade seine Mutter verloren hatte, benutzt. Sie hat Menschenleben für meine Flucht riskiert. Liebe ist keine Entschuldigung für eine solche Grausamkeit.« Meine Augenlider werden schwer. »Am wichtigsten ist jetzt«, bringe ich heraus, »dass wir ReNatura so schnell wie möglich veröffentlichen. Bevor Mum uns in die Quere kommt oder die Kristallisierer uns aufhalten können.« Schatten legen sich über Hunters Blick. »Wir haben das Diktiergerät«, mache ich ihm Mut. »Damit sind wir beinahe unbesiegbar.« Ich lächle ihn an. Vielleicht hat das alles auch etwas Gutes, denke ich noch, bevor mich die Erschöpfung zurück in einen traumlosen Schlaf zieht. Endlich steht nichts mehr zwischen uns.

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Die Bohlen der Veranda knirschen, als ich meinen Fuß auf ihr altes Holz setze. Mit gemischten Gefühlen drücke ich die kupferfarbene Klingel. Es war nicht fair, damals einfach so von der Bildfläche zu verschwinden.

Neben mir holt Yana tief Luft. »Vielleicht solltest du noch wissen –«

Doch bevor sie ihren Satz beenden kann, öffnet sich die Tür quietschend und ein schlanker Mann tritt heraus. Sein Haar ist grau und auf den Knien seiner abgetragenen Jeans kleben Erdflecken. Manuel! Erinnerungen an die Sommer meiner Kindheit durchströmen mich. Yanas Großvater hat uns Hütten im Garten bauen und so lange fernsehen lassen, wie wir wollten, wenn unsere Eltern abends gemeinsam nach Greenhill gefahren sind, um auszugehen. Jedes Mal, wenn wir am Ende des Sommers zurück nach New York aufbrachen, hat Manuel uns dann versprechen lassen, dass wir im nächsten Jahr zurückkehren. Und das haben wir getan – bis ein Sommmer alles verändert hat.

»Hunter!« Manuels Lippen verziehen sich zu einem breiten Lächeln, das einen goldenen Eckzahn aufblitzen lässt. »Willkommen zu Hause, Junge.«

Seine dunklen Augen glänzen, als er zur Seite tritt und uns ins Haus winkt. Er deutet auf die Korbsessel, die im Wohnzimmer verteilt stehen. Gewebte Teppiche in allen möglichen Farben bedecken den Holzboden, an den Wänden hängen Strichzeichnungen der reichen Natur des Reservats. Alles sieht noch genauso aus wie vor fünf Jahren, als ich das Cottage zum letzten Mal betreten habe.

Eine prankenartige Hand legt sich auf meine Schulter. »Erst kommt meine Aiyana zurück aus der großen Stadt und dann du. Was für ein schöner Beginn des Sommers.«

Die Wärme in Manuels Blick beschämt mich, schließlich bin ich nicht seinetwegen zurückgekommen.

»Eistee? Wasser?«

»Wasser, bitte«, sage ich und setze mich zögernd in einen der Sessel, die ich als Kind zum Klettern benutzt habe. Der Boden ist Lava. Das war mein Lieblingsspiel. Die Erinnerung daran, wie Mum mich schimpfend von Möbeln herunterzerrt, legt sich wie ein Granitblock auf meine Brust.

Manuel kommt zurück aus der Küche, ein Tablett mit drei Gläsern in der Hand. Ich gebe mein Bestes, um sein Lächeln zu erwidern.

»Danke, Grandpa«, sagt Yana in dem warmen Ton, mit dem ich sie nur hier in Las Almas sprechen höre.

»Es ist so lange her.« Manuel lässt sich mit einem Ächzen in einen der Sessel sinken. »Ich hoffe, deiner Mutter geht es mittlerweile besser? Was sie schrieb, hat mich damals wirklich überrascht. Reka war geradezu schockiert! Niemand von uns hätte geglaubt, dass dein Vater euch so etwas antun könnte … Matteo und Sol waren doch immer ein glückliches Paar. Selbst als ihr im Sommer des großen Skandals ohne deinen Vater herkamt, habe ich mir nichts dabei gedacht.«

Ich senke den Blick. Wenigstens habe ich in dem Brief nicht gelogen, den ich mit Mums gefälschter Unterschrift nach Las Almas geschickt habe, um zu erklären, warum wir nicht mehr herkommen würden. Dad hat uns tatsächlich verlassen. Und Mum war wirklich am Boden zerstört. Ausgelassen habe ich einzig und allein das winzige Detail, dass Mum fast genau ein Jahr, nachdem mein Vater abgehauen ist, ermordet wurde. Dieses Täuschungsmanöver ist mir nicht leichtgefallen. Aber es war wichtig, Reka, Manuel und den anderen hier einen Grund dafür zu liefern, warum Mum in diesen Ferien nicht auftauchen würde und auch nicht in den nächsten. Es war wichtig, dass sie trotzdem glaubten, es ginge uns gut – denn sonst hätten sie versucht, mich zu sich zu holen. Sie hätten mir die Familie ersetzen wollen, die ich verloren hatte. Aber diese Option gab es für Beth nicht, denn ich hatte eine Schuld zu begleichen.

»Er hat sich also endlich hergetraut!«

Ich blicke auf und sehe direkt in Amandas wache Augen, denen nie etwas entgeht. Ich lächle schwach, stehe auf und werde in eine feste Umarmung gezogen.

»Ich habe schon gedacht, Manuel und Reka wollten mir einen Bären aufbinden. Aber du bist tatsächlich hier!« Sie drückt mich zurück in den Sessel und setzt sich neben ihren Mann. »Erzähl, wie geht es Sol?«

»Sie … hat eine schwere Zeit durchgemacht«, sage ich. »Nachdem mein Vater uns verlassen hat, hat Mum den Kontakt zu vielen gemeinsamen Freunden abgebrochen. Aber sie vermisst Las Almas.«

Ich bin noch immer gut in dem alten Spiel, bloß spiele ich nun die Variante für Erwachsene: Die Wahrheit ist Lava.

Manuel nickt. In den Furchen seines von der Sonne gegerbten Gesichts steht so viel Mitgefühl, dass ich den Blick wieder abwenden muss.

»Wie geht es Sol?«, fragt Amanda. »Ich suche im Abspann von jedem CCN-Bericht ihren Namen. Deren Nachrichtenredaktion hat sie doch übernommen, als die Times damals geschlossen wurde, oder nicht?«

»Nein. Sie … sie arbeitet als freie Journalistin. Unter einem Pseudonym.«

Amanda nickt verständnisvoll, dabei habe ich in einem Satz gleich mehrmals gelogen. Als ob es in den Gläsernen Nationen noch freie Journalisten gäbe …

»Eine Schande, dass man sie nach der Neudefinierung der Medien nicht wieder eingestellt hat«, schimpft Manuel. »Der große Skandal war doch nicht Sols Schuld!«

»Nun, immerhin war sie die Chefredakteurin der Zeitung, deren Reporter das Land ins Chaos gestürzt hat«, erwidert Amanda. »Nichts gegen deine Mutter, Hunter. Sie ist unfassbar talentiert. Aber welchen Sinn hätte eine Neudefinierung mit altem Personal gehabt?«

NeudefinierungCrystalClear NewsTimes