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eISBN 978-3-649-63490-4

In Kooperation mit

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Vermittelt von: Literatur Agentur Hanauer

Die Figuren um Rulantica und die Storywelt sind urheberrechtlich geschützt und eingetragene Marken der Mack Media & Brands GmbH & Co KG.

Basierend auf einer Idee von: Michael Mack, Jörg Ihle, Tobias Mundinger

Das Buch erscheint unter der ISBN 978-3-649-62722-7.

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Inhalt

PROLOG

I UNTERRICHT AUF DER KORALLENBANK

II GROTTENARREST

III DAS GEHEIMNIS IM KELPWALD

IV IN DER EISSTADT

V EIN TEIL DER WAHRHEIT

VI FREIHEIT

VII IN HELS NETZ

VIII KELPIES

IX GESTRANDET

X IN DER MENSCHENSTADT

XI DIE QUELLE DES LEBENS

XII DER RUF DES MEERES

XIII DREI BIRKEN

XIV DIE MAGIE DER MENSCHEN

XV KRØNASÅR

XVI IM ACE

XVII GEFANGEN

XVIII DIE RÜCKKEHR

XIX DER KAMPF UM RULANTICA

XX ENDE UND ANFANG

EPILOG

PROLOG

Einst brach der Gott Loki einen kleinen Stein von Asgard ab, dem Wohnort der Götter, denn er neidete den anderen Göttern ihr enges Band zu den Menschen und wollte beweisen, wie fehlbar und schwach die Sterblichen in Wahrheit waren. Der Stein landete im Ozean und wurde zu einer Insel. Loki war sich bewusst, dass mit dem Stein auch ein Stück der göttlichen Magie auf die Erde gelangt war. Mit Wohlgefallen erkundete er seine Insel: die idyllischen Wälder, Berge und Flüsse. Er erkannte aber auch ihre feurige Seele. Besonders angetan war er von einer Grotte, in der eine Quelle munter vor sich hin plätscherte. Dies erschien ihm der ideale Ort für seinen hinterhältigen Streich. Er spuckte einen Kern von Iduns goldenen Äpfeln der Unsterblichkeit am Ursprung der Quelle in die Erde. Der Keim sollte von nun an das Wasser mit der Kraft der Unsterblichkeit speisen. Loki war sich sicher, dass kein Mensch dieser Verführung würde widerstehen können.

Zufrieden mit sich und seinem Werk hielt er Ausschau nach einem geeigneten Opfer und fand es rasch in Viken Rangnak, dem Anführer eines Wikinger-Clans. Ihm gab sich Loki zu erkennen und er wies Viken den Weg zu einer neuen verheißungsvollen Heimat: Rulantica. Das Spiel um Leben und Tod konnte beginnen.

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Nicht zum ersten Mal erscheinen Vidar die Fußstapfen groß, die sein Vater Odin ihm hinterlassen hat. Bis zu seinem Untergang war Odin der Anführer aller alten Götter gewesen. Unendlich klug und weise, wie er war, hatte er bestimmt gewusst, was mit dem Stein passiert war. Aber er, Vidar, steht nun vor der Mauer, die die göttliche Welt Asgard und die wenigen Götter schützen soll, die noch leben. Und er muss zu seinem Entsetzen feststellen, dass der Schutz ein Loch hat. Für die Riesen und anderen Feinde der Götter wäre es ein Leichtes, an dieser brüchigen Stelle den Wall zu überwinden und anzugreifen. Wie ist das Loch überhaupt dorthin gelangt? Eines ist Vidar klar: Nichts in Asgard passiert einfach zufällig. Früher nicht und auch heute nicht. Doch wer könnte etwas über den fehlenden Stein wissen?

»Hugin, Munin!«, ruft er.

Fast im selben Moment fallen lange Schatten auf Vidar, zwei Raben kreisen über seinem Kopf. Ihre tiefschwarzen Federn glänzen im Sonnenlicht. Sie lassen sich links und rechts auf seinen Schultern nieder und blicken den jungen Gott aufmerksam an.

»Ich gedenke, meinen Bruder Wali zu besuchen, um mich mit ihm zu beraten. Fliegt zu Thors Söhnen und zu Lokis Tochter Hel, damit sie möglichst bald zu unserem Rat dazustoßen!«

Die Raben erheben sich in die Lüfte, um ihren Auftrag zu erledigen.

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Vidar trifft seinen Halbbruder bei Zielübungen mit dem Bogen in dessen Schlosshof an.

»Vidar, wie schön, dich zu sehen! Was verschlägt dich zu mir?«, grüßt Wali ihn.

»Hast du je davon gehört, dass in der Schutzmauer um Asgard ein Stein fehlt?«, fragt Vidar rundheraus.

Wali schüttelt den Kopf. »Es tut mir sehr leid, lieber Bruder, aber ich bin viel jünger als du. Was du nicht weißt, weiß ich auch nicht.«

»Das habe ich befürchtet«, gibt Vidar zu. »Aber ich hoffe, dass uns ein Ausblick von Vaters Thron in die neun Welten weiterbringt.«

»Dann komm mit in meine Halle«, lädt Wali ihn ein.

Eine silberne Kuppel überspannt den prächtigen Marmorsaal, durch den die beiden Brüder eilig auf den Thron zuschreiten.

»Au-uuu!« Zwei Wölfe jaulen neben einer weißen Säule, kommen aber nicht näher heran.

Vidar begrüßt Geri und Freki. Die beiden Wölfe hat Wali von Odin geerbt, genau wie den Thron, von dem aus man in alle Welten blicken kann. Vidar hingegen hat die beiden Raben seines Vaters bekommen und die große Aufgabe, als sein Nachfolger die Welten zu regieren.

Ein lautstarkes Grölen lässt die beiden Brüder herumfahren.

»Wo sind denn alle?« – »Gibt es hier nichts zu trinken?«

Magni und Modi, die Söhne Thors, poltern herein, und Vidar bereut im selben Augenblick, ihnen Bescheid gegeben zu haben.

»Wir suchen den Grund für ein Loch in der Asgardmauer«, erklärt Vidar.

»Wenn du ein Loch in der Mauer brauchst, kann ich dir gerne eines schlagen«, bietet Modi an.

Wali verdreht die Augen. »Müsst ihr bei jedem Treffen damit angeben, dass ihr Thors Hammer geerbt habt?«

Magni und Modi grinsen einmütig. »Müssten wir nicht«, sagt Magni. »Aber wir tun es gern«, ergänzt Modi.

»Wenn ich nur hier bin, um mir das anzuhören, drehe ich sofort wieder um«, lässt sich eine weibliche Stimme vernehmen.

»Ich weiß es überaus zu schätzen, dass du es einrichten konntest herzukommen, Hel«, bemüht sich Vidar schnell, sie zu beruhigen.

»Was besorgt dich?« Hel wendet Vidar ihre wunderschöne Seite zu.

»Kannst du etwa meine Gedanken lesen?«, fragt Vidar erschrocken.

»Nein, aber ich kann Gesichtsausdrücke deuten. So viele Menschen passieren täglich meine Schwelle ins Reich der Toten. Und ich lasse mir nicht gerne etwas vormachen, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Und weißt du dann auch etwas über den Stein, der in Asgards Schutzmauer fehlt?«, fragt Vidar.

Hel wiegt bedächtig ihren Kopf. »Noch nicht genug, aber ich fürchte, mein Vater Loki ist darin verwickelt.« Sie tritt neben Vidar auf den Sockel von Odins Thron und zeigt von dort aus in die Ferne. »Suche in der Menschenwelt nach einem Eiland, das den göttlichen Funken in sich birgt, dann hast du deine Antwort.«

Aber so sehr Vidar sich auch anstrengt, er kann in ganz Midgard nichts finden, auf das die Beschreibung zutrifft.

»Ich sehe nichts«, sagt er.

»Ich auch nicht«, sagt Wali.

»Haha«, witzelt Magni. »Noch blinder als ihr Vater mit seinem einen Auge!«

Vidar ignoriert diese unverschämte Bemerkung und konzentriert sich ganz auf Hel.

»Sucht nicht das Offensichtliche«, sagt sie. »Wenn es mit meinem Vater zu tun hat, dann ist es trickreich verborgen und hält ihm die Hintertür offen, auch nach Jahrtausenden Unheil in unseren Welten anzurichten.«

Vidar läuft ein Schauer über den Rücken. Schon Odin konnte den fiesen Loki kaum in Schach halten, aber ohne ihn wird es fast unmöglich, eine von Lokis Untaten in den Griff zu bekommen. Vor allem, solange sie nicht genau wissen, was der listenreiche Gott angerichtet hat.

Er blickt zu Hel. Wie sie wohl darüber denkt?

»Sorge dich nicht, ich bin nicht mein Vater!«, sagt Hel. »Wenn wir etwas finden, könnt ihr auf mich zählen!«

Wali springt vom Thron auf. »Da! Der Nebel mitten im Meer. Könnte es das sein, was wir suchen?«

Alle fünf jungen Götter drängen sich um den Thron und betrachten Walis Entdeckung.

»Ein Versteck im Nebel, das wäre ganz der Stil meines Vaters«, meint Hel.

»Mitten im Ozean, dann könnte aus dem Stein tatsächlich eine Insel geworden sein«, vermutet Vidar. »Ein Stück von Asgard mitten in Midgard!«

»Wir gehen einfach hin und zerstören die Insel, dann sind wir das Problem los!«, schlägt Modi vor.

»Genau!«, stimmt sein Bruder Magni ihm zu. »Und den Stein bringen wir zurück, dann können wir auch gleich die Mauer reparieren!«

»Nichts da«, unterbricht Vidar. »Es wird nichts zerstört, bevor wir nicht mehr wissen.«

»Und wenn uns dein Zögern in Gefahr bringt?«, gibt Wali zu bedenken.

»Das Geheimnis im Nebel könnte Jahrtausende alt sein, älter als du, älter als ich«, entgegnet Vidar. »Da werden ein paar Tage mehr nicht schaden, um herauszufinden, was genau dort erschaffen wurde. Ich will nicht etwas auslöschen und erst dann fragen, wer oder was es ist. Wir sind Götter, keine Riesen!«

»Ach, du bist so vernünftig. Immer verdirbst du uns den ganzen Spaß!«, mault Magni.

Aber Vidar lässt nicht locker: »Als euer Anführer fordere ich euch auf zu schwören, dass wir zunächst den Nebel lüften, ohne uns in irgendeiner Form einzumischen!«

»Ich wäre nicht so zimperlich«, grunzt Modi.

»Dann ist es ja doppelt gut, dass Odins Söhne seinen Thron bewachen und nicht Thors Krawallmacher«, sagt Hel spitz.

»Du musst gerade reden«, schnappt Magni. »Dein Vater ist wahrscheinlich schuld an dem Loch in unserer Mauer und wir müssen wieder einmal unter seinen alten Schandtaten leiden!«

»Schluss jetzt!«, befiehlt Vidar. »Schwört mir euren Gehorsam oder ihr könnt Hel gleich in ihr Reich begleiten!«

Er streckt ihnen die Hand hin. Wali ist der Erste, der zu seinem Bruder hält und einschlägt, zögernd folgen Magni und Modi, und zum Schluss legt Hel ihre feingliedrige Hand obenauf und besiegelt das Versprechen der fünf.

»In einem Zehntag treffen wir uns wieder und tragen zusammen, was wir herausgefunden haben«, bestimmt Vidar zum Abschied.

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UNTERRICHT AUF DER KORALLENBANK

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»Aquina.«

»Aquina, du bist dran!«

»AQUINA! Dein Skjol, bitte!«

Aquina spürt einen Stoß in ihre Rippen, er kommt von ihrem Freund Orchid, der direkt neben ihr auf der großen Korallenbank hockt und jetzt die Augen so unauffällig wie möglich nach vorne rollt. Sie folgt seinem Blick und schaut in Manatis strenges Gesicht. Die alte Gesangslehrerin erinnert Aquina immer ein wenig an eine Seekuh – mit den gleichen Falten und der flachen Nase und, wenn man genau hinsieht, sogar ein paar Borsten auf den Wangen. Es ist eindeutig, dass Manati auf etwas wartet, sie tippt die Fingerspitzen aneinander, immer schneller und ungeduldiger. Inzwischen haben sich auch alle anderen elf Meerkinder zu Aquina umgedreht.

»Sing!«, zischelt Jade, die genau wie Aquina fast zwölf Jahre alt ist und auf ihrer anderen Seite sitzt.

Ach, darum geht es also! Aquina erhebt sich mit einem Schlag ihrer Schwanzflosse, räuspert sich, dann fängt sie an. Ihre Stimme klingt zart und sucht nach den ersten Tönen. In Gedanken ist Aquina noch bei den zierlichen Rückwärtsfischen, die sie bis eben am Rand der Korallenbank beobachtet hat. Sie schwimmen Schwanzflosse voran. Für den, der in ihren Schwarm gerät, bewegt sich angeblich sogar die Zeit rückwärts. Als sie kleiner war, hat Aquina es ausprobiert, trotzdem könnte sie nicht sicher sagen, ob es stimmt. In dem kurzen Moment, in dem der Schwarm an ihr vorbeizog, passierte nicht genug, um eine Veränderung zu bemerken. Außer dass ein paar Fische sacht ihre Arme streiften, geschah genau genommen gar nichts. Wie immer hier unten auf dem Meeresgrund war auch damals schon alles friedlich und ruhig.

Aquina packt das alles in ihre Melodie: wie wunderschön es in der Unterwasserstadt Aquamaris ist – und das ist es ganz ohne jeden Zweifel –, aber aufregend geht anders. Aquina merkt selbst, wie ihr Gesang sogar ohne Worte beschreibt, was ihr durch den Kopf geht. Inzwischen hat sie ihre volle Stimmkraft gefunden. Aus dem Augenwinkel sieht sie einen kleinen Neonseestern, der an der karstigen Felswand neben der Korallenbank hängt und seine Farbe im Rhythmus ihrer Melodie wechselt. Jetzt gibt Aquina mehr Druck, klar wie das Meerwasser an Sommertagen schmeichelt ihr Lied, greift die zarten Schattierungen von Rot, Lila und Orange der Korallenbank auf, die sich mit dem Blau des Wassers vermischen. Zu der Anmut ihrer Umgebung legt sie ihre eigene Sehnsucht in die Töne.

Als sie geendet hat, schüttelt Manati missbilligend den Kopf. »Du träumst doch schon wieder am helllichten Tag! Wann wirst du endlich begreifen, dass wir Sirenen mit dem Skjol unsere Feinde abschrecken und nicht anlocken wollen? Setz dich!« Sie lässt ihren Blick in der Runde schweifen. »Wer kann mir ein anständiges Skjol vortragen? Larima, willst du es versuchen?«

Das besonders blasse Meermädchen mit den schlammfarbenen Haaren springt auf, als hätte es nur auf die Gelegenheit gewartet. Sie setzt zu einem Knurren, Donnern und Grollen an, das einer Gewitterfront ähnelt. Zum Abschluss lässt sie das Zischen eines Kugelblitzes hören und schickt ihn mit einem überlegenen Lächeln in Aquinas Richtung. Selbst Manati zuckt kurz, aber deutlich zusammen und Aquina würde am liebsten mitgrollen vor Zorn. Das ist mal wieder typisch für diese Streberin, es nicht nur perfekt zu machen, sondern Aquina ihr Versagen auch noch richtig dick unter die Nase zu reiben.

»Sehr gut, Larima!«, lobt Manati überflüssigerweise. Dann fährt sie fort: »Nehmt euch ein Beispiel daran, so setzt man seine Stimme für den Schutz unserer Insel richtig ein! Alle anderen überlegen sich bis morgen, welche Abwehrtöne sich sonst noch für diese wichtige Aufgabe eignen könnten.«

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»Mach dir nichts draus!«, raunt Jade Aquina zu, als sie mit den anderen von der Korallenbank in die Mittagspause aufbrechen. »Dafür ist deine Stimme viel schöner als die von Larima.«

Aquina verzieht das Gesicht. »Was nützt mir das, wenn ich nie singen darf, was ich will?«

Darauf hat Jade auch keine Antwort. »Komm doch zur Ablenkung mit mir, Orchid und Ruby zum Oberfelsen, es soll dort besonders viele Austern geben!« Aquina schüttelt den Kopf. »Danke, aber ich esse doch keinen Fisch mehr!«

Jade reißt die großen grünen Augen noch weiter auf. »Echt jetzt? Auch keine Muscheln? Du ziehst das immer noch durch?«

Aquina seufzt leise. Wieso versteht nicht einmal Jade sie? »Fische und Muscheln sind meine Freunde, genau wie du. Dir würde ich auch nicht die Nasenspitze abbeißen oder deine abstehenden Öhrchen zum Morgenmahl verspeisen!«

»Selber abstehende Öhrchen«, brummt Jade und zupft sich sofort die langen schwarzen Haare über die Ohren, was allerdings kaum mehr als vorher verbirgt. »Was isst du denn stattdessen?«

»Meersalat, Seespargel und Algenpesto und ich baue meine eigenen Meerkräuter an«, erklärt Aquina stolz.

»Du tust WAS?« Jade vergisst sofort ihre Ohren.

»Ja-aa, ungefähr so hat meine Mutter auch reagiert.«

»Kein Wunder! Du bist die einzige – öhm, wie nennt man das eigentlich? – Nicht-Fisch-Esserin in ganz Aquamaris.«

»Ich bevorzuge Algetarierin!«

»Gut, du verrückte Algetarierin. Zwischen den Austern gibt es bestimmt auch ein paar knackige Algen für dich!«

Jade schielt zu Ruby und Orchid, die bereits ein gutes Stück entfernt zum Oberfelsen schwimmen.

»Oder du kommst mit zu mir und ich zeige dir meinen Kräutergarten«, lockt Aquina. »Du bekommst auch eine leckere Seegurke bei uns!«

»Seegurken sind aber keine Pflanzen«, staunt Jade.

»Ich weiß«, lächelt Aquina, »meine Mutter denkt, damit könnte sie mich austricksen. So wie mit dem Fisch in Meersalzkruste letzte Woche. Aber wenn du meine Portion für mich mitisst, habe ich wieder ein paar Tage meine Ruhe!«

»Da möchte ich mich lieber nicht einmischen …«, zögert Jade.

Aquina tastet mit ihrer türkis-silbrigen Schwanzflosse nach der grünen von Jade und hakt sich ein. »Na, komm schon, du bist meine beste Freundin, wir müssen doch zusammenhalten!«

»Morgen«, sagt Jade, »morgen komme ich mit, versprochen. Und dann futtere ich dir meinetwegen auch so viele Seegurken weg, wie du willst. Aber lass uns heute zum Oberfelsen!«

Aquina zieht ihre Schwanzflosse zurück. »Kein Problem, dann schwimm du zu den Austern und ich mache mich auf zur Oberfläche.«

Jade verschluckt vor Schreck fast eine Portion Meerwasser. »Du willst nach oben? Du weißt doch, dass wir das ohne unsere Eltern nicht dürfen!« Sie streckt wie zum Beweis ihre hellen Arme aus. »Die Sonne ist gefährlich für unsere Meermenschenhaut und könnte sogar unseren Fischschwanz austrocknen!«

»Was für ein Quatsch!«, lacht Aquina. »An dieses Kindermärchen glaube ich nicht mehr, seit ich sechs bin!«

»Dann warst du schon öfter allein oben?«, fragt Jade zaghaft.

»Klar«, brüstet sich Aquina. »Schon so oft, dass ich es gar nicht mehr zählen kann! Magst du vielleicht doch mitkommen?«

In Jades Gesicht ringen sehr deutlich Angst und Neugier miteinander. Aber dann schüttelt sie sehr entschieden den Kopf. »Ich trau mich nicht, aber heute Nachmittag erzählst du mir davon, versprochen?«

»Versprochen«, sagt Aquina.

Ein klitzekleines bisschen ist sie enttäuscht, obwohl sie eigentlich wusste, wie es ausgehen würde. Sie gönnt Jade und den anderen den Spaß an den Oberfelsen, die am Rand der Stadt liegen. Sie überlegt sogar, doch mitzugehen, aber es zieht sie einfach wie magisch noch viel weiter nach oben.

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Aquina gleitet durch das Wasser. Beinahe schwerelos, nur ab und zu gibt sie sich einen sanften Schub mit ihrem Fischschwanz. Sie hat es nicht eilig. Unten in der Tiefe, wo Aquamaris liegt, sehen fast alle Farben so aus, als läge ein bläulicher Filter darüber, besonders bei Rot und Gelb ist das so. Doch je näher sie ihrem Ziel kommt, desto verheißungsvoller zaubert die Sonne satte hellgelbe Lichtpunkte auf die Wasseroberfläche, von denen Aquina beinahe hypnotisch angezogen wird. Wieso bloß kommen die anderen Meermenschen so gut wie nie nach oben? Sie liebt die Sonne, die Wärme und die klaren Farben. Mit einem glücklichen Seufzer legt sie sich auf den Rücken und lässt sich von den Wellen tragen. Die Welt ist einfach sorglos hier oben. Ewig könnte sie so liegen. Aquina blinzelt in die Sonnenstrahlen, die sie auf der Nase kitzeln. Wie es wohl wäre, ein Mensch zu sein, so wie ihre Vorfahren? Aquina kneift die Augen zusammen, als sie darüber nachdenkt.

Von ihrer Mutter weiß sie, dass ihre Vorfahren ursprünglich Menschen waren – Wikinger –, als sie nach Rulantica kamen. Ihr Anführer hieß Viken Rangnak, der für seinen Clan eine neue Heimat suchte, nachdem das karge Eiland, von dem sie stammten, sie kaum noch ernährte. Für seine Suche bat er die alten nordischen Götter um Hilfe. Zunächst schien ihn keiner zu erhören, und die Wikinger kreuzten ziellos durchs Nordmeer, bis sich schließlich der listige Gott Loki zu erkennen gab. Er brach ein Horn seines mächtigen Helms ab, übergab es Viken und wies ihn an, nach einem weiteren Tag auf See hineinzublasen, sobald er auf eine dichte Nebelwand stoßen würde. Viken hielt sich an Lokis Anweisungen und tatsächlich tauchte aus dem Nebel eine verheißungsvolle Insel auf. Viken und sein Clan erkundeten sie und beschlossen, dort sesshaft zu werden. Sie nannten die Insel Rulantica. Und so heißt sie bis heute.

Unter der Insel wiederum liegt Aquamaris, die Unterwasserstadt, in der Aquina lebt. Nach Odins Fluch wurden die Wikinger zu Meermenschen. Damit weder Aquina noch die anderen Sirenen jemals vergessen, wie alles angefangen hat und warum sie hier sind, hat Kailani den Friggtag eingeführt, an dem sie vom Fluch Odins, für immer auf die Quelle des Lebens achten zu müssen oder von Svalgur verschlungen zu werden, und natürlich von Friggs Prophezeiung berichtet. Aquina kann diese Geschichte selbst im Schlaf in- und auswendig. Das kommt daher, dass ihre Mutter Kailani gleichzeitig die Anführerin der Sirenen ist. Aquina weiß, dass sie als Kailanis Tochter viele Vorteile hat: ein schönes Zuhause im Muschelpalast, Zugang zu zahlreichen Sagen und Legenden … aber die vielen Verbote sind eindeutig die Kehrseite.

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Aquina hebt leicht den Kopf aus dem Wasser und schielt hinüber zum Land, das nur ein paar Meter von ihr entfernt aus dem Wasser ragt. Einsam und friedlich liegt die Insel da. Zu dumm, dass ihre Vorfahren damals nicht ahnten, in welche Falle der fiese Loki sie gelockt hatte. Sonst wären sie heute noch Menschen und Aquina könnte sich die ganze Welt ansehen und wäre nicht an die Dreimeilenzone rund um Rulantica gebunden. Und sie könnte so schön singen, wie sie wollte, und müsste kein schauriges Skjol von sich geben, um Eindringlinge abzuwehren.

Bei ihren Ausflügen an die Oberfläche stellt sie sich oft vor, wie ihre Vorfahren in der Wikingersiedlung Rangnakor zu leben. Auch vom Wasser aus kann sie heute noch ein paar der hohen Pfahlbauten mit den geschnitzten Giebeln aus Holz ausmachen. Die Farbe der Balken ist längst abgeblättert, die Bauten sind verwittert und zum Teil eingestürzt, andere werden von Raubvögeln wie den großen schwarzen Mauks als Nistplätze benutzt. Aber in Aquinas Fantasie sitzt sie mit Viken an einer Feuerstelle, rührt in einem großen Kessel und bereitet sich auf die Fahrt mit einem der stolzen Wikingerschiffe vor. Sie will neue Städte und Länder entdecken, mit Menschen reden, die sie nicht schon ihr ganzes Leben lang kennt, und Abenteuer erleben. Oder wenigstens alle Winkel der Insel erkunden, die sie vom Wasser aus nicht sehen kann. Wie es sich wohl angefühlt hat, an Land zu leben und überall hingehen zu können?

Kailani könnte es ihr erzählen, denn sie gehört zu den Uralten, den Unsterblichen, die damals von Menschen in Meermenschen verwandelt wurden. Doch immer wenn Aquina damit anfängt, wiegelt ihre Mutter nur ab: »Wir konnten dafür nicht so gut schwimmen.«

»Ihr konntet es wenigstens ein bisschen«, entgegnet Aquina dann ungeduldig, »aber ich kann gar nicht laufen, nicht einmal kurz!«

»Glaub mir, im Meer ist es viel schöner als an Land«, will Kailani sie jedes Mal beruhigen und vergisst doch nie zu mahnen: »Halte dich fern von Rulantica! Auch vom Wasser aus, hast du verstanden? In der alten Pfahlstadt sollen sich gefährliche Wesen angesiedelt haben. Das ist nichts für ein junges Meermädchen wie dich!«

»Gefährliche Wesen gibt es hier doch auch. Eishaie und Teufelsrochen zum Beispiel«, hat Aquina ihr nicht nur einmal entgegengehalten.

Aber Kailani lässt sich in diesem Punkt nicht umstimmen. »Das ist etwas ganz anderes. Den Umgang mit den Gefahren im Meer hast du gelernt, von mir, von Papa und in der Schule. Darauf bist du vorbereitet, auf die Landgefahren nicht!«

Die Warnungen machen die Insel für Aquina aber nur interessanter. Seit einiger Zeit wagt sie sich immer näher heran und versucht, so viel wie möglich von der Inseloberfläche zu erspähen. Ihrer Mutter verschweigt sie diese Erkundungstouren wohlweislich.

Die Neugier und das Fernweh ziehen und zerren in Aquina wie das Brennen von Salz auf der Haut, wenn sie das Gesicht zu lange in die Sonne streckt. Sie kann es gerade noch aushalten, aber es geht nie ganz weg, solange sie nichts dagegen unternimmt.

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Als ob jemand ihre Gedanken gelesen hätte, ertönt plötzlich ein ohrenbetäubendes Heulen, das selbst Larimas Skjol in den Schatten stellt. Blitzschnell rollt Aquina sich herum und hält Ausschau nach der Ursache. Nichts zu sehen. Doch das Geräusch kommt eindeutig von der Insel, und Aquina hat eine schreckliche Vorahnung, wer es sein könnte. In einer Geschwindigkeit, die selbst einen Schwertfisch wie eine Meeresschnecke aussehen lassen würde, schwimmt Aquina auf das Ufer zu.

Der Strand von Rulantica glüht in der Sonne. Er wurde deshalb früher Goldstrand genannt. Allerdings hat sich dort inzwischen allerlei Strandgut angesammelt. Hauptsächlich von den zahlreichen Schiffen, die Exena, die Anführerin der Quellwächter, hier im Laufe der Jahrhunderte versenkt hat und deren Wracks nach und nach angespült wurden.

Aquina schlängelt sich durch die Wrackteile und sieht sich gleichzeitig über Wasser um. Gerade noch kann sie einem Mast ausweichen, der knapp unter der Wasseroberfläche wie ein Speer nach oben ragt. Kratsch, mit ihrer Flosse schrappt sie gleich über den nächsten Mast. Hoffentlich hat sie dabei keine Schuppen angeschrammt. Sie taucht mit dem Kopf unter Wasser, um sich wenigstens kurz zu orientieren, wo die nächsten Hindernisse lauern. Es ist purer Leichtsinn, sich in das Labyrinth der Schiffswracks zu verirren. Es gibt nur einen, der leichtsinnig genug wäre, es trotzdem zu riskieren, um zum Strand zu gelangen …

Schon von Weitem bestätigt sich ihr Verdacht. Im goldenen Sand bemerkt sie einen knallblauen kugeligen Kopf und fünf Fangarme, die wie wild durch die Gegend fuchteln. Der sechste Fangarm scheint irgendwie im angeschwemmten Abfall festzustecken, denn der kleine Kugelkopf zieht und zerrt und heult immer wieder herzzerreißend. So dicht sie kann, schwimmt Aquina heran, aber es liegt trotzdem noch mindestens eine Schiffslänge zwischen ihnen.

»Snorri!«, ruft sie.

Der kleine Kopf dreht sich zu ihr. Im Gegensatz zu Aquina kann ihr Tintenfischfreund mit seinen sechs Armen auch an Land herumspazieren und normalerweise beneidet sie ihn darum, aber heute scheint ihm seine Neugierde zum Verhängnis geworden zu sein. »Was hast du dort verloren, Snorri? Der Strand ist doch gefährlich mit all dem morschen Krempel!«

»SNRRR, SNG, SNGG!«, antwortet er schrill.

Aquina weiß genau, dass er sie verstanden hat, auch wenn sie seine Sprache nur vage deuten kann. Aber um zu begreifen, dass er sich einen Arm eingeklemmt hat und deshalb nicht mehr vom Strand wegkommt, reichen Snorris Klagelaute vollkommend aus.

»Was soll ich tun?«, jammert Aquina. »Ich kann nicht an Land, um dir zu helfen.«

»SNNN-NN«, macht Snorri statt eines Vorschlags. Sein pinkfarbener Kamm am Kopf schwillt bereits feuerrot an vor lauter Anstrengung. Aquina versucht, sich ein Stück über die Wasseroberfläche zu stemmen, um zu sehen, wo Snorri festhängt, aber das ist aus der Entfernung unmöglich zu erkennen. Aquina spürt die aufkeimende Panik des kleinen Tintenfischs über die Wellen hinweg. Snorri ist zwar in der Lage, eine ganze Weile außerhalb des Wassers zu leben, aber wenn er sich nicht fortbewegen kann, ist er leichte Beute für Robben oder andere Raubtiere. Oder die Sonne trocknet nach und nach seine zarte Meereshaut aus. Aquina muss schlucken, sie kann doch nicht tatenlos zusehen! Ach, könnte sie einfach an Land gehen und ihren Freund aus dieser Lage befreien! Wenn sie doch bloß Beine hätte … Hat sie aber nicht, also muss ihr etwas anderes einfallen. Auf keinen Fall kann und will sie zusehen, wie ihr Tintenfischfreund so ein schreckliches Ende findet. Er ist der Einzige, der ihre Sehnsucht, noch mehr von der Welt zu erkunden, versteht, ganz ohne Worte. Und mit dem sie auf Streifzüge gehen kann, ohne sich anhören zu müssen, wie gefährlich das für ein Meermädchen ist.

Snorri zieht weiter an seinem Arm, legt aber zwischendurch immer längere Pausen ein. Seine erschöpften Atemzüge dringen bis zu Aquina ins Wasser. Hektisch schaut sie sich um. Noch ist kein Feind in Sicht, aber eine Lösung leider auch nicht, außer diesen blöden Wracks. Moment! Vielleicht sind die verrottenden Schiffe gar nicht so blöd – Aquina taucht kurz ab und nimmt bei einem Schiff eine lockere Planke ins Visier. Ob die bis ans Ufer reicht? Sie löst die Planke vom Rumpf und taucht mit ihr zurück nach oben. Mist, die Holzlatte ist nicht lang genug! Aber wenn sie eine unversehrte wählt, die die volle Schiffslänge hat, dann müsste es klappen. Aquina taucht erneut ab und steuert das nächste geeignete Wrack an. Gar nicht so leicht, eine Planke abzumontieren!

Aquina zerrt unter Wasser fast so wie Snorri oben. Zum Glück spielt zumindest das Gewicht im Wasser keine große Rolle, aber die alten rostigen Nägel, die die Bretter zusammenhalten, erfüllen auch nach langen Jahren noch erstaunlich gut ihre Aufgabe. Endlich, mit einem lauten Krack, lösen sich die mittleren Nägel, jetzt hängt alles nur noch an einer Seite. Aquina umfasst das Plankenende und zuckt zurück, als ihr ein schlangenförmiger Fisch entgegenschnellt – eine braungraue Wrackmuräne zeigt ihre spitzen Zähne. Aquina hat sie nicht nur aus ihrem Mittagsschlaf geweckt, sondern hat ihre Behausung zerstört und das nimmt sie ihr richtig übel. Sie faucht und stößt urplötzlich aus dem Innern des Wracks hervor, direkt auf Aquinas Gesicht zu. Mit den meisten Meeresbewohnern kommt Aquina prima aus, aber mit Muränen, vor allem mit Wrackmuränen, ist nicht zu spaßen. Doch heute kann sie nicht einfach verschwinden, Snorri ist viel zu wichtig! Aquina weicht im Zickzack aus, hält den linken Arm schützend vor ihr Gesicht und rupft mit dem rechten schnell weiter an der Planke. Nur ein Stückchen noch, dann gibt der letzte Nagel nach. Aber die Muräne hat ebenfalls eine Kehrtwende hingelegt und denkt gar nicht daran, den Abbau ihres Unterschlupfs tatenlos hinzunehmen. Sie schnappt zu. Uh, wie das brennt! Aquina beäugt die fiesen kleinen Löcher, die die Zähne auf ihrem Handrücken hinterlassen haben. Jetzt ist aber Schluss mit lustig! Das Meermädchen ist richtig geladen, und ohne weiter nachzudenken, brüllt sie die Muräne an: »VERSCHWINDE

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Eine wütende kleine Welle drängt den Fisch zurück, er ist von diesem Ausbruch mindestens so überrascht wie Aquina selbst. Wahrscheinlich ist die Muräne es gewohnt, dass bereits bei ihrem Anblick alle fliehen, spätestens aber, wenn sie zubeißt. Kurz glotzt sie mit ihren runden weißen Augen, in denen die starren schwarzen Pupillen wie Tiefseekrater aussehen, dann tritt sie tatsächlich den Rückzug in den Schiffsbauch an.

»Warum nicht gleich so?«, knurrt Aquina ihr hinterher. Sie reibt sich die Hand, bevor sie weiter an der Planke zerrt. »Dieses Ding muss doch endlich … Hilfe!« Beinahe wäre Aquina abgerutscht, als plötzlich doch der letzte Nagel nachgibt und wie ein Geschoss aus dem Schiffsrumpf geschleudert wird. Das lange Holzbrett federt hinterher und landet mit Schwung in Aquinas Armen. Auch wenn unter Wasser alles weniger wiegt, ist die Planke verdammt unhandlich, Aquina eiert von links nach rechts, in die Mitte und wieder nach links, sie kann das lange Ding kaum halten, geschweige denn ans Ufer zu Snorri schieben. Die ganze Mühe und der Biss umsonst!

Aquina legt die Planke auf einem Schiffsdeck ab und streckt den Kopf aus dem Wasser, um nach Snorri zu sehen. Unverändert. Er hängt immer noch fest, nur seine Gegenwehr hat nachgelassen, weil ihm die Kraft ausgeht. Flehend winkt er ihr mit einem seiner freien Arme zu und lässt wieder einen Klagelaut hören, der Aquina antreibt. Sie muss eine Lösung finden! Neben ihr ragt etwas aus dem Wasser. Nicht besonders hoch, nur ein paar Schuppenlängen. Der höchste Mast des gesunkenen Schiffs und gleich darunter das, was die Seeleute Krähennest nennen: der Ausguck, in den sie den schwindelfreisten Matrosen schicken, damit er berichtet, wenn Land in Sicht kommt oder Gefahr droht. Das hat diesem Schiff allerdings nichts genutzt. Selbst wenn der Matrose aufgeweckt genug gewesen sein sollte, die Eiswelle vorher zu sehen, hätte er sich und die Mannschaft nicht retten können. Exena ist genauso eiskalt wie ihre Magie, und wenn sie ein Schiff bemerkt, das der Insel zu nahe kommt, dann ist es wenige Wellenschläge später bereits auf dem Weg zum Meeresgrund und mit ihm die gesamte Mannschaft, die zu Eisblöcken gefriert und keine Chance hat, dem sicheren Tod zu entgehen. Das unterscheidet Exena und die Quellwächter grundsätzlich von den Sirenen: Sie sorgen für handfeste Taten gegen die Menschen anstelle von reinen Abwehrgesängen und normalerweise findet Aquina das furchtbar. Aber nun kommt ihr der Mast des gesunkenen Schiffs wie gerufen. Wenn sie es schafft, die Planke bis hier hochzuhieven, dann könnte sie das Krähennest als Auflage benutzen.

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Aquinas Gesicht läuft fast so rot an wie Snorris Kamm, als sie versucht, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Immer wieder rutscht die Planke ihr aus der Hand, beinahe schlägt sie sich selbst damit nieder, weil das dumme Teil anfängt, sich um sich selbst zu drehen.

»Halte durch!«, ruft sie über das Wasser und meint damit genauso Snorri wie sich selbst.

Sie könnte sehr gut Hilfe gebrauchen, aber es ist weit und breit niemand in Sicht, außer ein paar Schwarmfischen, die nicht einmal in der Lage wären, einen Nagel hochzuheben. Also gut, noch einmal! Mit der Kraft der Verzweiflung packt Aquina das Holzbrett, das schon wieder fast bis zum Grund gesunken ist. Vorsichtig, damit es nicht abdriftet, wuchtet sie es höher und höher. Sie wackelt und wankt, stützt die Planke zusätzlich mit ihrem Fischschwanz, kommt dadurch zwar langsamer, aber dafür stabiler voran. Als ob zumindest das Meer auf ihrer Seite ist, hält es diesmal ganz still, bis Aquina die Planke auf die Höhe des Krähennests gezerrt hat und ablegen kann. Ab jetzt ist es viel einfacher. Wie auf einer Schiene kann sie die Planke in Snorris Richtung schieben, ohne sie gleichzeitig anheben zu müssen.

»Vorsicht!«, ruft sie ihrem Freund zu. »Hier kommt Hilfe!«

Snorri beäugt das Brett zuerst wie eine Schlange, die es auf ihn abgesehen hat, und weicht, so weit wie es sein eingeklemmter Arm zulässt, zurück. Erst als er begreift, dass die Planke nicht vorhat, ihn zu fressen, sondern dass Aquina sie lenkt, beruhigt er sich etwas.

»Na los, halt dich mit den freien Armen daran fest!«, fordert Aquina ihn auf.

Immer noch skeptisch tippt Snorri mit einer Fangarmspitze auf die Planke. Trotz der ernsten Lage muss Aquina sich ein Schmunzeln verkneifen. Snorris behutsame Tests sind einfach zu niedlich!

»Trau dich!«, feuert sie ihn an.

Wahrscheinlich hätte Snorri die Planke noch eine ganze Weile umtänzelt, doch da fällt ein Schatten auf ihn. Snorri und Aquina legen die Köpfe in den Nacken und blinzeln in den Himmel. Aquina zuckt zusammen, ein schwarzer Mauk!

»Mrk, mrrrrk!« Das Kreischen des riesigen Vogels hört sich wie ein Triumphschrei an.

»Er hält dich für sein Mittagessen«, ruft Aquina. »Schnapp dir endlich das Brett!«

Der kreisende Vogel verleiht Snorri den nötigen Antrieb. Er schlingt seine Fangarme um das Holz, so fest er kann, und kneift die Augen zusammen.

Zuerst probiert Aquina, das Brett zu sich ins Wasser zu ziehen, aber sie merkt schnell, dass die Kraft in ihren Armen nicht ausreicht. Man müsste …

»MRRRRK

Der Mauk setzt zum Tiefflug an. Keine Zeit mehr zum Überlegen. Aquina hat nur einen Versuch. Sie zieht sich am Krähennest hoch und lässt sich dann von so weit oben wie möglich – Fischschuppenpo voran – auf die kurze Seite des Bretts plumpsen.

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Dann passiert alles gleichzeitig. Aquina spürt den schmerzhaften Aufprall auf dem Brett, bevor es über sie hinwegklappt. Sie landet im Wasser. Ein Pfeifgeräusch in der Luft. Etwas saust über Aquinas Kopf. Ein lautes Platschen. Das Brett fliegt ihr um die Ohren. Der Mauk lässt ein Kreischen hören. Das Brett überschlägt sich und fällt ins Wasser. Aquina taucht unter.

Hat sie es geschafft? Hat der Schwung gereicht, um Snorri zu befreien? Oder hat der spitze leuchtend rote Schnabel des Mauks ihn gefangen? Aquina hält auf die Stelle zu, von der das erste Platschen kam. Kein Snorri. Nein, das darf nicht sein! Er muss doch hier irgendwo sein! Mit jedem Schwimmzug wächst ihre Verzweiflung.

»Snorri! Snorriiiii!«

»Snr.« Sehr leise, sehr klein. Aber Aquina hat es gehört. Er ist da, hockt auf dem Meeresboden und hält sich mit zwei Armen den Kopf.

»Geht es dir gut?« Aquina lässt sich neben Snorri nieder und zählt als Erstes nach: eins, zwei, drei, vier, fünf … sechs. Puh, zum Glück sind noch alle Fangarme dran!

Snorri streckt ihr einen Arm entgegen, der deutlich rot und angeschwollen ist. Mit zarten Fingern streicht Aquina darüber. »Tut’s sehr weh?«

Snorri schiebt die Unterlippe vor und nickt.

»Kannst du ihn noch bewegen?«

Er hebt den Arm und zeichnet einen Kreis ins Wasser, verzieht aber das Gesicht.

Aquina lächelt ihn aufmunternd an. »Wenn das noch geht, wird es ganz schnell wieder gut!«

Sie legt den Arm um den kleinen Sixtopus und er kuschelt sich an sie. »Was wolltest du eigentlich an Land?«, fragt Aquina.

Snorri macht eine Unschuldsmiene.

»Sag schon«, drängt Aquina.

Ein verschmitztes Lächeln huscht über sein Gesicht, bevor er ein Stück zur Seite rutscht, damit Aquina sehen kann, worauf er bisher gesessen hat. Aquina betrachtet das zerquetschte Etwas. Es muss vor dem Aufprall handtellergroß und wahrscheinlich fast rund gewesen sein und mit einer Art rot-gelben Schale, aus der jetzt platt gedrückt der Innenteil herausquillt. Und der ist einfach bloß: Matsch – unansehnlich, gelb mit bräunlichen Flecken. In der Mitte ragt ein kleiner Holzstängel heraus. Dieser Matschhaufen kann unmöglich der Grund für Snorris waghalsige Aktion sein.

»Hast du dir deswegen den Arm eingeklemmt?«, fragt Aquina fassungslos. »Und das Zeug noch nicht mal losgelassen, als du dich mit aller Kraft an der Planke festhalten solltest?«

Snorri senkt den Kopf und schielt sie schuldbewusst von unten an, bevor er nickt.

»Bist du von allen Meergeistern verlassen? Für so was setzt man doch nicht sein Leben aufs Spiel!«

Statt einer Antwort steckt Snorri einen Fangarm in den Haufen und anschließend in seinen Mund. Genießerisch verdreht er die Augen und schmatzt dazu. Aquina schüttelt sich angewidert. »Du willst doch wohl nicht behaupten, dass das schmeckt?«

Snorri streckt erneut einen Arm aus, nimmt vorsichtig etwas von dem Brei und reicht ihn Aquina.

»Das esse ich nicht!«

Aber der Sixtopus lässt nicht locker, er schwenkt den Fangarm unter ihrer Nase, bis sie den süßlichen Duft wahrnimmt.

»Riecht tatsächlich besser, als es aussieht«, räumt Aquina ein.

Snorri grinst und schleckt sich über die Lippen. Soll sie es wagen? Giftig ist es sicher nicht, und wenn es gar nicht schmeckt, kann sie es einfach wieder ausspucken. Also öffnet Aquina den Mund und lässt sich von Snorri füttern, sie erwartet nicht allzu viel. Irgendwas zwischen dem meersalzigen Geschmack der Algen und dem zartwürzigen Aroma der Kräuter aus ihrem Garten, vielleicht mit einem Hauch Grundschlamm. Aber der Matsch übertrifft jede Erwartung, so was hat Aquina noch nie in ihrem Leben gegessen. Er ist saftig und süß, gleichzeitig frisch und knackig, aber ohne den knirschenden Sand, den man bei jeder Nahrung aus dem Wasser normalerweise im Mund hat. Es ist ihr völlig egal, wie er aussieht, sie würde den Haufen am liebsten komplett verdrücken und nie wieder etwas anderes essen.

»Snorri, das ist köstlich! Wo kommt das her? Gibt es noch mehr davon?«

Snorri grinst vom linken bis zum rechten Ohrentrichter, weil er sich so freut, seine Freundin auf den Geschmack gebracht zu haben. Eifrig deutet er nach oben.

»Schon klar, das kommt vom Land«, übersetzt Aquina. »Aber wie komme ich da ran?«

Er winkt ihr, ihm zu folgen, und pulpt los. Der Schmerz in seinem Fangarm scheint schon wieder fast vergessen. Snorri ist eben ein kleines Energiebündel. Aquina schwimmt ihm hinterher. Gleich nach dem Auftauchen suchen sie als Erstes den Himmel ab, aber der schwarze Mauk hat sich zum Glück bereits verzogen. Snorri hält auf Rulantica zu, schwimmt aber am Strand vorbei.

»Du weißt, dass ich nicht an Land gehen kann?«, erinnert Aquina ihn zur Vorsicht.

Snorri lässt ein schadenfrohes Schnattern hören.

»Mach dich nur über mich lustig«, mault Aquina. »Das nächste Mal rette ich dich nicht, wenn du wieder irgendwo festhängst!«

Zur Versöhnung hakt Snorri sich bei ihr unter und deutet in einiger Entfernung auf eine Reihe von großen Pflanzen am Ufer, die fast bis in den Himmel ragen. Aus einem Stamm wachsen mehrere kleine Arme, die sich immer weiter verzweigen und mit grünen Blättern bewachsen sind. Aquina bestaunt die Pflanzenriesen, die ihr noch nie so richtig aufgefallen sind, obwohl sie schon hin und wieder über die Wasseroberfläche gespäht hat. Aber bisher blieb ihr Blick immer an den alten Schiffen und Ruinen von Rangnakor hängen.

Snorri war da wohl wesentlich aufmerksamer, denn erst jetzt entdeckt Aquina sie auch: Die runden roten Kugeln zwischen den grünen Blättern müssen es sein. Wenn sie nicht platt gedrückt sind, sehen sie genauso lecker aus, wie sie schmecken. Aquina läuft das Wasser im Mund zusammen. Doch die Freude währt nur kurz. Auch wenn die Riesenpflanzen relativ nah am Ufer stehen, sind sie für Aquina unerreichbar. Sie seufzt und schielt zu Snorri. Er kann sich zwar im Gegensatz zu ihr und im Gegensatz zu den achtbeinigen Tintenfischen, die Aquina außer ihm kennt, auch an Land bewegen, doch sie bezweifelt, dass er auf die Riesenpflanzen klettern und sich eine der Kugeln pflücken könnte. Oder hat er etwa …?

»Wie bist du an die Kugeln herangekommen, Snorri? Mit deinem Schwebezauber? Ist der so stark?«

Aquina fällt ein, dass der kleine Tintenfisch ihr vor einiger Zeit ein Geheimnis gezeigt hat: Wenn er sich ganz fest auf einen Gegenstand konzentriert, dann kann er ihn herbeirufen, ohne ihn zu berühren. Snorri hat es ihr mit einer großen bunt schillernden Muschel vorgeführt, die wie von Geisterhand durchs Wasser auf sie zugeschwebt ist. Aber das war unter Wasser und Aquina hat es für eine Art Wellenzauber gehalten. Kann Snorri das auch an Land und in der Luft?

Snorri schüttelt den Kopf und richtet wie zur Bestätigung seine Tentakel auf den Pflanzenriesen mit den roten Kugeln. Aquina sieht, wie der Kamm ihres Freundes vor Anstrengung anschwillt, und tatsächlich bewegen sich die Kugeln ein bisschen, als würde eine unsichtbare Hand an ihnen ziehen. Doch ihr hölzerner Stiel bleibt fest mit den Armen der Pflanze verwachsen. Snorris Kraft reicht nicht aus, um sie abzulösen. Aquina ist trotzdem schwer beeindruckt: ein Über- und Unterwasserzauber!

Jetzt taucht Snorri kurz zurück ins Wasser und kommt mit einem Stein wieder, dreht sich auf den Kopf und streckt die Fangarme in die Luft, als wäre er eine Art Ableger der Riesenpflanze. Er schüttelt die Fangarme und lässt nach einer Weile den Stein ins Wasser plumpsen. Aquina klatscht in die Hände. »Ich verstehe! Die Kugeln fallen irgendwann herunter und dann musst du sie bloß noch vom Boden aufheben!«

Snorri nickt und freut sich, dass Aquina seine Pantomime erraten hat.

»Und wie lange müssen wir noch warten, bis die nächste herunterfällt?«

Snorri hebt und senkt die Fangarme. Eine Weile starren beide sehnsüchtig zu den roten Kugeln. Plötzlich fangen die Riesenpflanzen an zu vibrieren.

Aquina reißt die Augen auf. Das kann nicht von Snorri kommen. »Was ist das denn nun wieder?«, fragt sie.

»Snrr, snrr«, macht Snorri und zeigt auf Rulantica.

»So weit habe ich es auch verstanden, dass das von der Insel kommt.«

»Sn«, seufzt Snorri.

»Ja, ich weiß, manchmal wäre es besser, wir würden die gleiche Sprache sprechen«, stimmt Aquina zu.

Bevor sie sich über die Verständigung weiter Gedanken machen kann, wird das Beben stärker und stärker. Nicht nur die Riesenpflanzen wackeln, sondern die ganze Insel. Aquina schwimmt ein Stück weiter, um besser sehen zu können.

»Sn, sn!« Snorri deutet noch weiter ins Inselinnere.

»Was ist d…?«

Doch im selben Augenblick erkennt Aquina, was er meint. In der Inselmitte thront ein Berg, neben dem alle anderen Felsen wie Spielzeug aussehen, und obwohl er weit vom Meer entfernt liegt, spürt Aquina, welche Kraft von ihm ausgeht. Ihm fehlt die Spitze auf dem Gipfel, als ob jemand sie abgebissen und dafür einen Krater zurückgelassen hätte. Gerade jetzt fängt es aus dem Krater an zu qualmen. Zuerst nur eine dünne hellgraue Rauchsäule, die aber schnell dichter und dunkler wird. Gleichzeitig zittert die Erde weiter, das Wasser, das Aquina eben noch türkisklar und ruhig umgeben hat, bildet Kreise und trübt sich augenblicklich ein. Und dann geht es erst so richtig los. Der Berg spuckt glühende Steine aus seinem Inneren, sie fliegen über die halbe Insel, manche erlöschen sofort wieder, aber einige werden beim Aufprall sogar flüssig und fließen wie Feuerzungen weiter.

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»Der Feuerberg«, flüstert Aquina tonlos. Sie hat ihre Mutter und die älteren Sirenen von ihm flüstern gehört. Wie gefährlich es in seiner Nähe ist, vor allem wenn er nicht nur wie jetzt ein paar vereinzelte Brocken in die Luft schleudert, sondern wenn er richtig ausbricht, sich seine geballte Wut in glühenden Strömen über das Land ergießt und sich angeblich selbst das Wasser in Ufernähe in kochend heiße Lava verwandelt. »Der Feuerberg ist die Magie der Insel selbst«, hat Aquinas Vater Bror einmal behauptet und Kailani hat ergänzt: »Das liegt daran, dass Rulantica eigentlich ein Stück von Asgard ist, dem Land, in dem die Götter zu Hause waren. Loki hat einst ein Stück davon abgebrochen, um es über die Regenbogenbrücke in unsere Welt Midgard rollen zu lassen und daraus Rulantica für uns Menschen zu erschaffen.«

Bisher konnte Aquina sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass irgendjemand oder irgendetwas es mit der Eismagie der Quellwächter aufnehmen könnte. Aquina hatte die Quellwächter schon bei ihrem Training beobachtet, wenn sie in vollem Galopp auf ihren Wasserpferden, den Kelpies, dahinschnellten und mit Eispfeilen aus ihren Fingerspitzen selbst noch so kleine und weit entferne Ziel trafen. Es war jedes Mal ein tödlicher Treffer, hart, kalt und präzise berechnet. Gegenangriffe konnten sie mit einem Eisschild abblocken. Undurchdringlich und unüberwindbar. Nur die mächtige Seeschlange Svalgur könnte ihnen gefährlich werden, sollte sie jemals in ihrer heiligen Halle erwachen.

Aber jetzt, da Aquina den Ausbruch des Feuerbergs sieht, ist sie sich nicht mehr so sicher. Was würde wohl passieren, wenn Feuer und Eis aufeinanderprallen? Sie spürt die Urgewalt des Bergs. Er schüchtert sie ein, gleichzeitig ist sie fasziniert. Eigentlich müsste sie fliehen, sich so weit und so tief wie möglich vor dem Ausbruch verstecken. Aber sie kann einfach nicht wegschauen. Das glühende Farbenspiel in pulsierendem Orange- Gelb hält Aquina in seinem Bann, jedem einzelnen Lavastein staunt sie hinterher, bis sein flüssiges Feuer sich auf die Insel ergießt. Wie lange sie den Feuerberg bewundert, kann Aquina gar nicht mehr einschätzen, aber nach und nach werden die Steinausbrüche weniger, das Glühen verschwindet, der Rauch zieht sich zurück, der Berg liegt dunkel und stumm im Schatten und rührt sich nicht mehr. Erst jetzt klappt Aquina den Mund wieder zu und erwacht wie aus einem Traum.

»Schnnn«, seufzt Snorri neben ihr. Das Schauspiel hat ihn ebenfalls beeindruckt, und er bemerkt als Erster, was es noch bewirkt hat. Aufgeregt zupft er Aquina am Arm.

»Ja doch, das war wunderschön«, lächelt Aquina, aber Snorri lässt nicht locker.

Endlich versteht Aquina.