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eISBN: 978-3-649-63373-0

© 2019 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,

www.wildsoul-wirsindeins.alexia-meyer-kahlen.com

www.coppenrath.de

Alexia Meyer-Kahlen

Wild
Soul

WIR SIND EINS

Inspiriert von Erlebnissen von Tanja Riedinger
mit ihrer Andalusierstute Estella und Mustang Feenja

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Inhalt

„Wild hearts can’t be tamed“

I. Alegría

II. Sayquíca

III. Wild Soul

IV. We are one

Nachwort

„Wild hearts can’t be tamed“

Estellas wilde Mähne flattert mir ins Gesicht, ich sitze auf ihrem blanken Rücken. Frei galoppiert sie durch das Wasser ans Land, ein leises Pfeifen und sie steht. Ich rutsche von ihrem Rücken und gehe in die Hocke, auch sie neigt den Kopf nach unten und legt sich in den warmen Sand.

Ich verspüre tiefe Dankbarkeit und ein starkes Gefühl der Freiheit und des Vertrauens.

Das war nicht immer so.

Als Estella vor zehn Jahren in mein Leben trat, hat sich alles verändert. Sie kam als schmächtiges, dreijähriges Pferdchen auf den Hof und lief dort als Schulpferd. Meine Mutter hat trotz ihres unscheinbaren Äußeren erkannt, was für ein großes Herz diese Andalusier-Stute hat, und sich für sie entschieden.

Von Anfang an hat mich Estellas Blick in den Bann gezogen und den starken Wunsch in mir geweckt, einmal vollkommen frei mit ihr zu sein, mit ihr zu spielen und mehr über die Kommunikation mit Pferden zu erfahren.

Wie das Leben so spielt, wurden uns immer wieder Stolpersteine in den Weg gelegt.

Lahmheiten, eine erschreckende Diagnose vom Tierarzt, welche sich später als Fehldiagnose herausstellte, Unfälle und falsches Training durch unser Unwissen.

Doch manchmal sind die dunkelsten Momente dafür da, zu hinterfragen und die Blickrichtung zu wechseln. Jedes Mal, wenn etwas nicht geklappt hat, hat mir Estella einen neuen Weg gezeigt und bestätigt: Aufgeben ist keine Option, wenn man einen Traum wirklich verfolgt.

Inzwischen ist viel passiert. Estella war schon an den verschiedensten Orten in Deutschland, bei größeren Shows und Events. Sie ist im Internet bekannt geworden, Texte und Bilder werden von Tausenden von Menschen gelesen und gelikt.

Wenn wir zusammen sind, macht es jedoch keinen Unterschied, was außen abläuft. Die Freuden in den kleinen Momenten sind von großer Bedeutung, die gemeinsamen Abenteuer so viel wert.

Da meine große Faszination schon immer bei den ursprünglichen und wilden Pferden lag, durfte ich mich zudem in Deutschland und in Amerika diesen Tieren annähern. Auch in diesem Buch führt die Reise zu den Wildpferden in die USA. Dort darf die Protagonistin Sam sich sogar in völliger Freiheit einer Wildpferdeherde anschließen und deren Vertrauen gewinnen.

Die Annäherung, wie sie in diesem Buch beschrieben ist, spricht bei mir selber einen großen Wunsch an, ist jedoch (noch) nicht wirklich passiert.

An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass dieses Buch keine Biografie oder eine genaue Abbildung meiner Arbeit mit den Pferden darstellt. Es handelt sich um eine fiktive Geschichte, welche im Kopf der wunderbaren Autorin Alexia Meyer-Kahlen während unserer langen Gespräche entstanden ist.

Die Hauptcharaktere und einige Ereignisse im Buch sind inspiriert von meinen Erlebnissen zusammen mit meiner besten Freundin Bettina sowie mit Estella und mit der Mustang-Stute Feenja, die ich eine Zeit lang ausbilden durfte.

Ein Großteil der Geschichte, die genauen Dialoge und insbesondere die zweite Hälfte des Buches sind fiktiv. Die dort beschriebene Art der Pferdearbeit habe ich bis jetzt auch nur in ihren Ansätzen erfahren und es läuft im echten Leben doch häufig anders ab als in unserer idealisierten Vorstellung.

Ich denke, es ist sehr wichtig, sich selbst nicht unter Druck zu setzen aufgrund einer scheinbar perfekt dargestellten Beziehungen von anderen. Es gibt nie den einen, richtigen Weg, kein Wahr oder Falsch.

Pferde halten uns den Spiegel vor, sie bringen uns auf unseren eigenen und authentischen Weg, wenn wir lernen zuzuhören.

Ein lebenslanger und wunderschöner Prozess, in dem wir lernen dürfen, große Freude in den spontanen und unzähligen schönen Momenten zu finden.

Geschichten wie diese schaffen einen Raum für Träume und ein Gefühl für das Zusammensein mit den Pferden, welches uns alle inspirieren soll.

Lieber Leser, liebe Leserin, ich wünsche mir, dass du dich immer wieder an deine eigenen Träume erinnerst, während du dieses Buch in der Hand hältst.

Wenn du an sie glaubst und mit großer Freude daran arbeitest, können sie dich an die überraschendsten Orte bringen und Unmögliches möglich machen.

Du bist die Hauptperson in deiner Geschichte.

Alles Liebe,
Tanja

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I. Alegría

Sam wachte auf und spürte ihr Herz, wie es völlig verrückt klopfte. Sie hatte wieder den Traum gehabt.

Ein breites, seichtes Flussbett am Grund eines Tales. Rechts und links des friedlich dahinplätschernden Wassers ragten bewaldete Hänge empor. Es war still. Plötzlich erschien ein großer schwarzgrauer Hengst, gefleckt wie ein Leopard und schlank wie ein englisches Vollblut, zwischen den Bäumen und blieb regungslos stehen. Aufmerksam schaute er sich um, sog die Luft ein, lauschte. Entweder bemerkte er Sam nicht oder sie schien ihn nicht zu stören.

Der Hengst trat ganz aus dem Wald hervor und näherte sich dem Flussufer. Noch einmal spitzte er die schlanken Ohren und überprüfte seine Umgebung auf mögliche Gefahren, bevor er seinen edlen Kopf senkte und ein paar Schlucke Wasser nahm. Dann wandte er sich um und zog sich etwas zurück.

Zuerst zögerlich, dann immer vertrauensvoller, traten nun mehrere Stuten aus dem Wald zum Wasser. Einige hatten Fohlen neben sich laufen, andere schienen noch trächtig. Auch ihre Farben waren außergewöhnlich: Die meisten waren Blau-, Braun- oder Rotschimmel, die an Rücken und Hüften dieselbe Tigerschecken-Zeichnung aufwiesen wie der Schwarzgraue.

Im Traum hielt Sam den Atem an, während sie auf einer flachen Sandbank am Flussufer kauerte. Die Pferde strahlten etwas überirdisch Schönes aus.

Die Stuten und Fohlen schienen sich an Sams Anwesenheit ebenfalls nicht zu stören. Ein Pferd nach dem anderen senkte seinen Kopf zum Fluss und begann zu trinken. Auch die etwas älteren Fohlen versuchten, mit ihrer Nase den Wasserspiegel zu erreichen, was ihnen aufgrund ihrer langen, staksigen Beine aber kaum gelang.

Während die Stuten ihren Durst löschten, blieb der grau gefleckte Hengst abseits stehen und nahm weiterhin aufmerksam seine Umgebung wahr. Sein Blick streifte unbewegt über Sam, als wäre sie einfach ein Teil der ihn umgebenden Natur.

Als die letzte Stute sich vom Wasser abgewandt hatte, trat der große Schwarzgraue noch mal selbst an den Fluss und trank sich in großen Zügen satt. Dann drehte er sich zum Waldrand und verschwand mit seiner Herde zwischen den Bäumen.

An dieser Stelle erwachte Sam normalerweise immer und spürte ihr klopfendes Herz.

Sie drehte sich auf den Rücken und blickte an die Decke ihres Zimmers. Warum nur rief der Traum in ihr jedes Mal so starke Gefühle hervor? Er kam seit drei Jahren in unregelmäßigen Abständen und spielte sich stets so oder so ähnlich ab. Doch jeder Version war gemein, dass die ungewöhnlichen Geschöpfe, die offenbar vollkommen frei in der atemberaubend schönen Natur des Traumes lebten, sich durch Sams Anwesenheit in keinster Weise aus der Ruhe bringen ließen.

Zum ersten Mal aufgetaucht war der Traum, kurz nachdem ihre Mutter Alegría gekauft hatte. An Sams zwölften Geburtstag. Die knapp vierjährige Andalusierstute war damals im Schulbetrieb des Stalles mitgelaufen, in dem Sam und Kati Reitstunden nahmen. Halb, um sie aus ihrem Schulpferdedasein zu erlösen, und halb, weil ihre Mutter überzeugt war von Alegrías gutem Charakter, wurde die junge Stute Sams Pferd. In den letzten drei Jahren hatte sich Alli, wie Sam sie zärtlich nannte, zu einer selbstbewussten Spanierin entwickelt und war für jeden Spaß zu haben. Es störte sie ganz und gar nicht, wenn Sam mal wieder auf irgendwelche verrückten Ideen kam, wie falsch herum auf ihr zu reiten, im Galopp auf ihrem Rücken zu stehen oder auf dem am Boden liegenden Pferd einen Handstandüberschlag zu machen.

Sam griff nach ihrem Wecker. Halb zwei. Mist. Sie musste morgen fit sein. Alli und Sam hatten es ins Finale des Cavallo-Videowettbewerbs geschafft und morgen in aller Frühe ging es mit dem Hänger nach Schloss Wickrath. Dort würde die bekannte Pferdezeitschrift nach den Live-Darbietungen der fünf Finalisten das „beste Kumpel-Pferd Deutschlands“ auswählen. Es war der Hammer, dass sie überhaupt unter die letzten fünf gewählt worden waren. Noch viel mehr bedeutete es Sam allerdings, dass es ihre erste Show vor einem großen Publikum sein würde und sie endlich auch mal live zeigen konnte, was sie und Alli in der Freiheitsdressur erreicht hatten.

Seit sie mit elf Jahren auf einer Galashow einen berühmten französischen Meister der Freiheitsdressur gesehen hatte, dem seine zehn Pferde allesamt mit viel Freude folgten, wusste sie: Genau da wollte sie eines Tages auch mal stehen. Ganz frei mit einem Pferd diese Art von Verbindung zu haben, egal ob da eine Umzäunung stand. Und diese Verbindung auch zu spüren, wenn sie auf dem Rücken des Pferdes ohne Zaum und Sattel galoppierte. Das Gefühl musste einfach unbeschreiblich sein.

Jetzt war sie fünfzehn und ihrem Herzenswunsch ein gutes Stück näher gekommen, auch wenn sie noch lange nicht da war, wo sie einmal sein wollte.

Ob sie Kati texten sollte, dass sie wieder den Traum gehabt hatte? Kati – allerbeste Freundin, Seelenvertraute und unverzichtbare Partnerin in der Arbeit mit Alli.

Es war zu einem guten Teil Katis unermüdlicher Unterstützung zu verdanken, dass Alli heute mit Sam durch dick und dünn ging und ihre echte Freundin und Lehrmeisterin geworden war.

„Bling.“ Genau in diesem Moment tauchte eine Nachricht auf Sams Display auf. „Kann nicht schlafen. Guck mal, was für ein cooles Zitat ich grade gelesen habe: Ich bin das Land, meine Augen sind der Himmel, meine Glieder die Bäume, ich bin der Fels, die Wassertiefe. Ich bin nicht hier, um die Natur zu beherrschen oder sie auszubeuten. Ich bin selbst Natur. Hoffentlich läuft morgen alles gut.“

Sam musste lächeln. Typisch Kati. Seit sie sich zu Beginn der 5. Klasse begegnet waren – die eine im Pferdepulli, die andere mit Pferdemäppchen –, waren sie immer auf genau derselben Wellenlänge.

„Bin auch wach“, textete Sam zurück. „Hatte wieder den Traum.“

„Echt? Meinst du, es hat was mit morgen zu tun?“

„Weiß nicht. Vielleicht ist es ja ein gutes Zeichen.“

„Wie findest du den Spruch?“

Sam las ihn noch mal: Ich bin das Land, meine Augen sind der Himmel, meine Glieder die Bäume, ich bin der Fels, die Wassertiefe. Ich bin nicht hier, um die Natur zu beherrschen oder sie auszubeuten. Ich bin selbst Natur.

„Irgendwie krass. Das beschreibt genau die Atmo in meinem Traum. Woher hast du den?“

„Im Internet gefunden“, schrieb Kati zurück. „So ein Indianerspruch.“

„Cool. Können wir ja auf unserem Kanal posten.“

„Hab ich auch schon gedacht.“

Als Sam mit Kati vor drei Jahren einen YouTube-Kanal gestartet und kleine Filmchen eingestellt hatte, wie sie mit Alli wild johlend durch die Obstplantagen galoppierten, hätte niemand gedacht, dass sie mal so weit kommen würden. Jetzt waren sie schon bei über 10 000 Followern.

„Hey. Meinst du, wir haben morgen eine Chance?“

Kaum hatte Sam die Worte eingetippt, ärgerte sie sich, dass sie sie geschrieben hatte. Darauf kam es doch gar nicht an. Wichtig war, dass Alli mit ihrer Aufmerksamkeit ganz bei ihr blieb, wenn sie zum ersten Mal in total fremder Umgebung und vor so vielen Leuten miteinander frei arbeiteten. Wenn sie zusätzlich noch unter die ersten drei kämen, konnte das der Anfang eines neuen Weges sein – mit Einladungen zu weiteren Shows oder der Möglichkeit für Sam, auch mit anderen Pferden frei zu arbeiten. Aber das war jetzt total zweitrangig.

Schon texte Kati zurück: „Wenn ihr es nicht verdient habt, auf dem Treppchen zu stehen, dann weiß ich nicht, wer.“

„Du bist die Beste!“

„Du auch.“

Sam wälzte sich im Bett hin und her. Sie wusste, dass sie versuchen sollte zu schlafen, doch ihre Gedanken kehrten immer wieder zum morgigen Tag zurück. Würde ihr Auftritt die Leichtigkeit und Harmonie ausstrahlen, die ihr in der Verbindung zu Alli so wichtig war? Das Bewerbungsvideo aus dem ganzen Material zusammenzuschneiden, das Kati in den letzten Monaten gefilmt hatte, war eine Sache gewesen. Klar hatten sie dort viele tolle Elemente aus ihrer Arbeit gezeigt: wie Alli Sam draußen in der Natur frei im Galopp über Hindernisse folgte, wie sie sich auf Sams Kommando auf die Hinterhand setzte oder stieg, wie sie zusammen Ball spielten oder die Stute ihr Küsschen gab. Und natürlich durfte Sams Spezialität im Video nicht fehlen: der Handstandüberschlag auf der liegenden Alegría.

All das war schön und eindrucksvoll und sicher auch der Grund dafür gewesen, dass sie es ins Finale des Cavallo Cups geschafft hatten. Doch in der Show morgen musste sie das toppen.

Keiner außer Kati und Sams Mutter Bea konnte nachvollziehen, was für ein langer und mühseliger Weg es gewesen war, aus dem abgestumpften Schulpferd, das sich in seinen jungen Jahren schon in sein Schicksal ergeben hatte und nichts mehr vom Leben erwartete, das Bündel an Lebendigkeit und Freude zu machen, das Alli heute war.

Jedenfalls meistens, denn einstudierte Dinge abzufragen war bei Alegría immer noch tagesformabhängig. Manchmal schaltete sie einfach ab, wie sie es damals als Schulpferd getan hatte, und verlor sich irgendwo in sich selbst. Aber das alles war in den vergangenen drei Jahren so viel besser geworden!

Jetzt musste sich zeigen, ob Alegría wirklich Gefallen daran fand, sich vor einem Publikum zu präsentieren.

Ein Grinsen schlich sich auf Sams Gesicht, als ihr Katis Kommentar dazu einfiel: „Alli ist genauso eine Rampensau wie du, darauf könnte ich wetten. Sie ist schließlich nicht ohne Grund dein Pferd.“

Sam seufzte auf. Kati kannte sie und Alli besser als irgendjemand sonst auf der Welt. Hoffentlich hatte sie recht.

Plötzlich kamen ihr die Worte aus Katis Spruch wieder in den Sinn: Ich bin nicht hier, um die Natur zu beherrschen oder sie auszubeuten. Ich bin selbst Natur.

Und was, wenn es hieß: Ich bin nicht hier, um das Pferd zu beherrschen oder es auszubeuten. Ich bin selbst Pferd?

Konnte man wirklich dahin kommen, das zu spüren? Dass man im Fühlen, Denken und Handeln komplett eins war mit seinem Pferd?

Sams Herz begann, wild zu klopfen. Ich bin selbst Pferd. Ja, genau so musste es heißen, und irgendwann würde sie aller Welt zeigen, dass das möglich war.

Nach nicht einmal zwei Stunden Schlaf wachte Sam erneut auf. Draußen wurde es gerade hell. Der Wecker würde sowieso um Viertel nach fünf klingeln, da konnte sie auch jetzt schon zu Alli fahren.

Ihrer Mutter legte sie einen Zettel hin: „Hi Bea. Bin schon zum Stall. Wir wollen um halb 7 verladen. Es reicht, wenn du mit dem Hänger 6.15 da bist. Danke! Sam.“

Sie griff sich zwei Äpfel, einen für sich und den anderen für Alli, schwang sich auf ihr Fahrrad und radelte los. Es war nicht ungewöhnlich, dass Sam noch vor der Schule die sieben Kilometer zum Stall fuhr, um mit Alegría in Ruhe etwas zu üben. In dem modernen Freizeitstall standen über achtzig Pferde, und auch wenn die Anlage sehr weitläufig war, benutzte immer irgendwer die Halle, den Roundpen oder einen der beiden Außenplätze. Und abends war es sowieso rappelvoll.

Zu diesen Zeiten war es Sam und Kati nicht möglich, mit Alli frei zu arbeiten – es sei denn, sie gingen mit ihr ins Gelände. Die Freundinnen hatten keine Lust auf Gaffer, und viele im Stall fanden das, was sie mit Alli machten, sowieso total schräg und auch irgendwie beängstigend.

„Pferde sind dazu da, geritten zu werden, und nicht, Menschen hinterherzulaufen“, kam ihr die Stimme einer entrüsteten Pferdebesitzerin in den Sinn, die beobachtet hatte, wie Sam mit Alli das freie Folgen im Schritt, Trab und Galopp übte.

Manchmal kam es ihr so vor, als seien sie und Kati auf einem ganz anderen Planeten als der Rest der Pferdewelt – von ein paar Ausnahmen abgesehen.

Klar, ihr Weg war nicht immer einfach. Wie oft hatte es in den letzten drei Jahren mit Alli Diskussionen, Frustrationen und Rückschritte gegeben. Doch Kati und sie hatten gelernt, jeden Tag einfach nur ihr Bestes zu geben. Es ging in jedem Moment eben nur, was ging. Das musste man akzeptieren. Geduldig sein, das Ziel nicht aus den Augen verlieren. Und vor allem, niemals aufgeben. Dann wurden die guten Tage irgendwann mehr. Und jetzt würde sie ihre erste Live-Show mit Alli geben. Unfassbar!

Die hübsche braune Andalusierstute mit dem weißen Stern zwischen den Augen brummelte zärtlich, als Sam sich im frühen Morgenlicht durch die Stallgasse schlich. Allis Herdenkumpel waren alle auf der Weide, aber sie schien zu fühlen, dass es einen besonderen Grund gab, warum sie in der Box zurückgeblieben war.

„Na, meine Schöne“, flüsterte Sam und trat zu ihr.

Alli schnoberte behutsam Sams Gesicht und Hals ab.

Sam liebte diese Momente der Nähe und hielt ganz still, bis Alli ihr Begrüßungsritual beendet hatte. Immer wenn die Stute ihre Zuneigung so spontan ausdrückte, wurde Sam von einer Welle der Dankbarkeit durchflutet. Die kleine Spanierin war so eine Kämpferin. Sie wollte leben, lernen und glücklich sein. Und hatte Sam trotz aller Schwierigkeiten niemals im Stich gelassen.

„Du warst immer für mich da. Und ich werde immer für dich da sein“, flüsterte Sam ihr zu und gab ihr einen sanften Kuss auf die Nase. „Und wir werden gemeinsam noch soooo viele Abenteuer bestehen.“

Als verstehe sie jedes Wort, spitzte Alli die Ohren und blickte Sam aufmerksam an.

„Heute ist der Beginn von etwas ganz Großem, meine Schöne“, fuhr Sam fort. „Heute dürfen wir vielen Menschen zeigen, wie toll du dich entwickelt hast. Und wie stolz wir alle auf dich sind!“

Alli stupste Sam übermütig mit der Nase an, als wolle sie sagen: Ich bin bereit. Wann geht’s los?

Obwohl Sam schon so früh aufgestanden war, verlief die Abfahrt wie üblich chaotisch. Tausend Sachen fielen ihr in letzter Minute noch ein, die sie unbedingt mitnehmen musste, und dabei vergaß sie fast die wesentlichen Dinge. Auch Kati, die um halb sechs am Stall aufgetaucht war, war vor lauter Aufregung nicht so organisiert wie sonst. Dreimal lief sie los, um das Putzzeug zu holen, doch erst als sie schon eine Stunde unterwegs waren, fiel Kati ein, dass sie es doch hatte stehen lassen.

„Zum Glück ist Alli schön sauber. Wir müssen nur aufpassen, dass sie sich dort vor der Show nicht noch in irgendwelche Äppel legt, dann passt das schon“, meinte Sam gelassen.

„Eure Nerven möchte ich haben“, warf ihre Mutter kopfschüttelnd ein.

Bea Gerst hatte sich breitschlagen lassen, die beiden Mädchen samt Alli nach Schloss Wickrath zu fahren. Aber natürlich war sie auch gespannt darauf, wie ihre Tochter und Alegría sich präsentieren würden.

„Es ist wie verhext“, meinte Sam jetzt. „Egal, wie viel wir vorausplanen, es läuft bei uns einfach nie nach Plan. Wer da nicht spontan und flexibel ist, bekommt mit uns wirklich die Krise.“

„Das kannst du wohl laut sagen“, lachte ihre Mutter in gespielter Verzweiflung auf. „Mich wundert nur, wo ihr die Disziplin herholt, so fokussiert mit Alegría zu arbeiten.“

„Am Ende hat zum Glück immer alles geklappt“, warf Kati ein. Ihre Eltern und die Gersts waren gut befreundet, sodass sie Beas ironische Kommentare nicht persönlich nahm.

„Wenn Sophie mitgekommen wäre, würde sie uns jetzt erst mal einen Vortrag über effiziente To-do-Listen halten“, grinste Sam. Ihre drei Jahre jüngere Schwester war wirklich das komplette Gegenteil von ihr. Sophie war genau in dem Alter, in dem Sam damals Alli bekommen hatte, doch für Pferde interessierte sie sich keinen Deut. Gnädig hatte sie ihre Mutter mit Sam auf den Cavallo Cup nach Schloss Wickrath ziehen lassen.

„Sam. Ruf doch bitte mal zu Hause an, ob bei Sophie alles in Ordnung ist“, meinte Bea Gerst jetzt. Sie hatten geplant, erst am nächsten Tag wieder zurückzufahren, damit die ganze Fahrerei für Alli nicht zu viel würde. „Ich habe schon ein ganz schlechtes Gewissen, die Kleine allein zu Hause zurückzulassen.“

„Mama, Sophie ist 12!“, rief Sam nun entrüstet aus. „In dem Alter sind Kati und ich mit Alli schon stundenlang allein durch die Wälder gezogen.“

„Du bist eben immer etwas anders gewesen“, gab ihre Mutter zurück. „Sophie ist nicht so ein Freigeist. Sie ist noch so viel kindlicher als du in dem Alter.“

„Aber Robert ist doch heute Abend zu Hause“, versuchte Kati, Sams Mutter zu beschwichtigen.

„Genau. Papa ist doch auch noch da“, gab Sam zurück. „Alles ist gut, Mama.“ Damit war das Thema für sie erledigt.

Sie wandte sich Kati zu. „Hey. Lass uns bitte noch mal den Ablauf durchgehen.“

Die Freundinnen besprachen ausführlich die Choreografie von Sams Show, die sie in den letzten Tagen zu einer fröhlichen spanischen Musik zusammengestellt hatten.

Zuerst kam der Teil, wo Sam Alli nur mit Halsring und ohne Sattel in verschiedenen Tempo- und Richtungswechseln ritt. Dann wollte sie die Stute durch einen großen gelben Ring springen lassen, und im Anschluss sollte Alli sich in engen Kreisen galoppierend um eine Tonne biegen, ohne dass Sam auf ihrem Rücken sie zu lenken schien.

„Den Ring und die Tonne haben wir eingepackt, richtig?“, hakte Sam nach.

„Check. Sind im Hänger“, nickte Kati.

Zum Abschluss des ersten Teils würde Sam ein paarmal im Galopp von Alli abspringen und nach ein paar Galoppsprüngen wieder auf ihren Rücken hinaufspringen.

Dann ging es zum Herzstück ihrer Show. Sam wollte Alli vom Boden aus als Erstes zu beiden Seiten in engen Volten dirigieren. Anschließend hatten sie einige schnelle Tempo- und Richtungswechsel eingeplant, um zu zeigen, wie bereitwillig Alegría Sam folgte. Zum Abschluss dieses Teils sollte Alli sich auf Sams Zeichen hin zu einer kleinen Levade erheben.

„Spätestens wenn die Musik in den langsameren Teil wechselt, musst du auf die Tonne“, erinnerte Kati sie.

Sam nickte. Sie würde auf die Tonne hinaufspringen, und Alli sollte frei im Trab um sie zirkeln, während Sam auf der Tonne stehend ihrerseits ein paar Kunststücke vorführte. Dann ging es noch mal auf den Boden, wo Alli neben ihr her galoppieren und sich dann direkt aus dem Galopp hinlegen würde. Über der liegenden Alli wollte Sam zum Abschluss ihren berühmten Handstandüberschlag zeigen.

Sam und Kati gaben sich ein High Five: „Das wird!“

„Klar wird das was“, grinste Bea Gerst in den Rückspiegel. „Daran hatte ich nie den geringsten Zweifel!“

Nach ihrer Ankunft bezog Alli ihre Paddockbox in dem Reitzentrum, wo sie bis morgen untergebracht sein würde, während Sam, Kati und Bea im Strom der Besucher über das Gelände der Cavallo Academy bummelten. Entlang der Alleen des Schlossparks boten Dutzende Aussteller die neuesten Pferdeartikel an, ein großes Zelt war zum „Hörsaal“ umfunktioniert worden und dort fanden zahlreiche Vorträge statt. Auf dem Reitplatz, der zum Cavallo-Ring umbenannt worden war, gaben bekannte Pferdetrainer jeder Ausrichtung im Halbstundentakt Shows und Demos, Workshops und Live-Trainings.

„Das ist ja der Wahnsinn, was hier los ist“, meinte Bea Gerst zu den Mädchen, die ihr gar nicht richtig zuhörten. An jeder Ecke war ein anderes bekanntes Gesicht der Pferdeszene zu entdecken.

Sam bekam ganz rote Ohren bei dem Gedanken, dass sie in ein paar Stunden selbst vor all diesen Leuten auftreten würde.

„Das sind hier bestimmt 2 000 Zuschauer!“, flüsterte Kati ihr aufgeregt zu.

Sam nickte. Ihr Mund war zu trocken, um irgendetwas zu antworten.

„Schatz, du solltest unbedingt noch etwas essen“, meinte nun Bea Gerst und steuerte einen Essensstand an.

Das war zu viel.

„Muss zu Alli“, murmelte Sam, drehte sich auf dem Absatz um und rannte davon.

Erst als sie in Allis Box hockte und der Stute zusah, wie sie bedächtig kleine Büschel von Halmen aus ihrem Heunetz zupfte, kam Sam wieder runter.

Alli schien die Ruhe selbst zu sein. Als habe sie die lange Fahrt und die fremde Umgebung total lässig weggesteckt.

„Hey. Machen wir das gleich zusammen?“, flüsterte Sam ihr zu und zupfte einen Heustängel aus ihrer Mähne.

Alli schnaubte zufrieden und auch Sam entfuhr ein tiefer Seufzer.

Wo war eigentlich das Problem? Egal, wer da nachher am Ring stehen und ihr zusehen würde – das, was sie und Alli verband, konnte ihnen keiner nehmen. Sie würden einfach zusammen sein, aufeinander hören und tun, was sie sonst auch taten.

Sie strich Alli über die Stirn. „Du hast recht, mein Schatz. Danke.“

Während Sam und Alli vor dem Cavallo-Ring im Park von Schloss Wickrath auf ihren Auftritt warteten, hatte Sam für einen Moment die Augen geschlossen und ließ im Schnelldurchgang noch mal die Choreo ihrer Show durchlaufen. Irgendwann spürte sie, wie Kati sanft ihren Arm berührte.

„Ihr seid gleich dran. Break a leg. Alles wird gut.“

Sam atmete tief durch und konzentrierte sich einen Moment auf Alli. Sie spürte, dass ihre kleine Stute ganz bei ihr war. Dann öffnete sie die Augen und sprang auf Allis Rücken.

Die Stimme der Ansagerin ertönte aus dem Lautsprecher: „Unsere nächste Finalistin ist die fünfzehnjährige Samantha Gerst und ihre siebenjährige Andalusierstute Alegría. Kurz etwas zu ihrer Geschichte: Als Sam Alegría vor drei Jahren bekommen hat, war die Stute schon täglich im Schulunterricht eines Reitstalls mitgelaufen. Sam hat uns erzählt, dass Alegría damals auf nichts mehr Lust hatte. Jetzt zeigen uns die beiden, wie weit sie miteinander gekommen sind. Einen dicken Applaus für Sam und Alegría. Wir wünschen euch viel Erfolg und dem Publikum viel Spaß an euer Darbietung.“

Es ging los. Sam spürte eine prickelnde Aufregung, die auch ihre kluge und mutige Spanierin erfasste.

Wir machen das jetzt zusammen, schien sie Sam zu kommunizieren. Und wir machen es gut.

Ihre Musik setzte ein. Sam ritt nur mit Halsring auf Allis blankem Rücken im Trab ein und ließ die Stute zunächst zu beiden Seiten ein paar Volten gehen. Das bunte Publikum, das auf allen vier Seiten den Platz umringte, schien Alli nicht im Geringsten zu stören. Ganz im Gegenteil. Sie schien sogar Spaß daran zu haben, sich vor allen zu präsentieren.

Dann galoppierte Sam an und sprang mit Alli durch den gelben Reifen. Wenn sie irgendeinen Zweifel gehabt haben sollte, ob die Andalusierstute heute zeigen würde, was sie konnte, war dieser verflogen. Als seien sie mit einer Art unsichtbarem Band verbunden, flogen sie von Höhepunkt zu Höhepunkt ihrer Show. Nach dem Ring kam die Tonne, das Auf- und Abspringen im Galopp, die Levade, es war wie ein Rausch, ein Traum. Unbeirrbar blieb Alli mit ihrem Fokus ganz bei Sam und ließ sich von ihr durch die verschiedenen Showelemente führen. Und obwohl Sam ganz konzentriert bei ihrem Pferd und ihrer Darbietung war, konnte sie gleichzeitig spüren, dass das Publikum von der kleinen Andalusierstute, die Sam so bereitwillig folgte, total berührt war.

Kaum stand Sam nach ihrem abschließenden Handstandüberschlag wieder auf dem Boden, brach ein tosender Beifall aus. Das Publikum hörte gar nicht mehr auf zu applaudieren.

Sie nahm Kati und ihre Mutter wahr, die am Ausgang des Platzes standen und übers ganze Gesicht strahlten. Sam lief auf sie zu, während Alli munter neben ihr hergaloppierte. Ja, es war für sie beide gut gelaufen, sogar sehr gut, das hatte sie mit jeder Faser gespürt.

Sam war die letzte der fünf Finalistinnen gewesen, die ihre Show präsentiert hatte, und so erklang schon eine halbe Stunde später die Stimme der Ansagerin: „Ich glaube, die Jury hat fertig beraten.“

Sam hatte neben Kati und ihrer Mutter am Rande des Platzes gewartet und meinte, vor Spannung zu platzen. Würde es für sie und Alli einen Platz auf dem Treppchen geben?

Sie erhaschte einen Blick ihrer Mutter und atmete tief aus. „Ich weiß, Mama“, stieß sie hervor. „Wir haben eine super Show gemacht und es kommt nicht aufs Gewinnen an. Aber trotzdem …“

Die Ansagerin meldete sich wieder: „Wir rufen jetzt die Kandidatinnen noch mal alle zurück in die Bahn, damit wir die Platzierung vornehmen können.“

Kati trat einen Schritt zur Seite, sodass Sam mit Alli, die immer noch nur einen Halsring trug, den Reitplatz betreten konnte, wo die anderen vier Paare sich schon aufgestellt hatten.

Die Chefredakteurin der Cavallo trat mit ihrem Mikrofon auf den Platz.

„Wir kommen nun zur Siegerehrung des Cavallo Cups hier auf der Cavallo Academy. Noch mal zur Erinnerung: Siebenundvierzig hatten sich mit einem Video beworben, fünfzehn hatten es ins Voting geschafft, fünf ins Finale, und die haben Sie jetzt hier alle gesehen. Jede einzelne Leistung war großartig. Ich bin schwer beeindruckt von euren Auftritten, die Jury stimmt mir zu, und ich denke, Ihnen im Publikum wird das ähnlich gehen. Insofern stehen hier aus meiner Sicht schon mal fünf Sieger.“

Es gab einen Applaus vom Publikum.

Sam stand mit Alegría zwischen einem Mädchen mit einem Minishetty und einem anderen, das ebenfalls eine Andalusierstute neben sich hatte, die allerdings deutlich größer als Alli war.

Die Frau verkündete nun, dass es zwei vierte Plätze gab, rief genau diese beiden nach vorne, gratulierte ihnen und überreichte jeder einen Geschenkkorb.

Dann fuhr sie fort: „Das dritt-tollste Kumpelpferd in Deutschland ist …“

Hier machte sie eine Pause, und Sam bemerkte, dass sie aufgehört hatte zu atmen. Alli schien dagegen tiefenentspannt, und als ein Mädchen mit einem großen Warmblut nach vorne gerufen wurde, nahm auch Sam wieder einen tiefen Atemzug. Alles, was jetzt kam, war ehrenvoll.

Marschmusik setzte ein und die Redakteurin fuhr fort. „Zweitplatzierte in unserem Cavallo Cup sind Alegría und Samantha. Auch euch beiden herzlichen Glückwunsch.“

Sam schritt mit Alli stolz nach vorne und stellte sich auf. Während die Frau weitersprach, begann Alli, seelenruhig den Inhalt des Geschenkkorbs zu untersuchen.

„Das sah alles sehr leicht aus, sehr harmonisch. Du hattest viele tolle Elemente drin, es war sehr sportlich und zugleich einfallsreich, zum Beispiel mit dem Auf- und Abspringen. Das hat alles ganz super geklappt und ihr habt uns eine wunder-, wunderschöne Show geliefert.“

Sam strahlte über so viel Lob, während Alli inzwischen ein Bündel Möhren aus dem Geschenkkorb gezogen hatte, das sie am Grün wild kopfnickend hin und her schleuderte.

„Und dein Pferd scheint ein echtes Showtalent zu sein“, setzte die Cavallo-Chefredakteurin lachend hinzu, während das Publikum spontan applaudierte.

Dann erfolgte die Vergabe des ersten Platzes an ein älteres Mädchen auf einem großen Schecken, das sein Pferd zunächst mit Sattel und Kandare dressurmäßig geritten und dann erst Letztere gegen einen Halsring eingetauscht hatte.

Als sie zusammen mit den anderen vier Finalistinnen die Ehrenrunde drehte, fühlte Sam sich mit ihrem zweiten Platz total zufrieden und glücklich. In ihrer Art der Freiheitsdressur war sie unschlagbar gewesen, das stand fest. Vor lauter Übermut sprang sie im Galopp noch ein paarmal vom Pferd ab und wieder auf.

Kati fiel Sam als Erste jubelnd um den Hals. „Ich hab dir doch gesagt, dass ihr aufs Treppchen kommt. Suuuuper. Herzlichen Glückwunsch.“

Sam drückte ihre Freundin ganz fest und flüsterte: „Danke, Kati. Ohne dich wäre das alles nicht passiert.“

Dann wurde sie von ihrer Mutter umarmt.

„Ich bin stolz auf dich“, flüsterte sie Sam ins Ohr. „Diesen Erfolg habt du und Alli euch echt verdient. War ein langer Weg …“

„Danke, Mama, für dein Vertrauen in uns und deine ganze Unterstützung“, gab Sam bewegt zurück.

Bea Gerst wandte sich an die beiden Mädchen. „Wie wär’s, wenn ich mal eben in unserem Hotel für die Nacht einchecke und ihr hier alles klarmacht? Wir treffen uns dann später bei Alli an der Box, gehen irgendwo lecker essen und feiern ein bisschen, was meint ihr?“

Kati und Sam nickten begeistert. Lecker essen klang jetzt wunderbar, nachdem die ganze Aufregung von ihnen abgefallen war.

Kaum war Sams Mutter im Trubel der aufbrechenden Menschenmassen verschwunden, drängelte sich ein Typ Mitte dreißig, mit Spitzbärtchen und einer Bandana als Kopfbedeckung zu ihnen durch.

„Sam? Hi. Mein Name ist Joe Gärtner, ich schreibe für die Alternative Horsemanship. Weiß nicht, ob du die Zeitschrift kennst. Erst mal Glückwunsch zu deiner tollen Show, hat mich schwer beeindruckt, wie deine Stute dir gefolgt ist. Ich würde gerne in unserer nächsten Ausgabe etwas über dich machen. Da geht es schwerpunktmäßig um Problempferde und was Leute für Wege gefunden haben, ihnen zu helfen. Ich hab gehört, deine Stute hatte keinen so guten Start. Jetzt steht sie ja top da. Darf ich dir dazu ein paar Fragen stellen?“

Sam wurde knallrot. „Klar. Gleich hier sofort?“, sprudelte es aus ihr heraus.

„Ähm, wollten wir nicht mit Bea essen gehen und deinen Erfolg feiern?“, warf Kati vorsichtig ein.

„Dauert nicht lang“, gab Sam schnell zurück und warf ihrer Freundin noch einen beschwörenden Seitenblick zu, der so viel sagte wie: „Komm mir jetzt bloß nicht mit so was Unwichtigem wie Essen.“

„Okay, okay …“, meinte Kati betont beiläufig. „Ich bring dann schon mal Alli in ihre Box und packe unsere Sachen zusammen, du kannst ja nachkommen.“ Damit schlenderte sie davon.

Sam setzte sich mit Joe etwas abseits auf ein Rasenstück vor dem historischen Barockschloss.

„Cool, dass es gleich geklappt hat”, grinste Joe. „Was getan ist, ist getan, sage ich immer. Also, erzähl mir doch einfach mal, wie es angefangen hat mit Alegría und dir.“

Er schaltete sein Aufnahmegerät ein.

„Für Alli ist am Anfang so ziemlich alles schiefgelaufen“, setzte Sam an. „Sie wurde viel zu jung eingeritten, mit zweieinhalb, und mit drei hat man mit ihr schon Sliding Stops auf dem eisigen Reitplatz gemacht. Das war umso schlimmer, da andalusische Pferde bis fünf wachsen, sie war also mit drei sehr zerbrechlich und sah aus wie ein halbes Fohlen.“

„Das ist ja gruselig“, schauderte Joe. „Kannst du den Lesern kurz erklären, was ein Sliding Stop ist?“

„Das ist ein Manöver aus dem Westernreiten, wo das Pferd aus dem vollen Galopp anhält, indem es sich auf die Hinterbeine setzt und auf den Hinterhufen weiterrutscht, während es mit den Vorderbeinen bis zum Stillstand weiterläuft. Der Hammer, das mit so einem jungen Pferd zu machen. Ja, und kurz darauf musste Alli dann jeden Tag mit Ausbindern in der Anfängerreitstunde gehen. Sie war selbst noch ein Baby, im Kopf und körperlich, deshalb war sie ‚todbrav‘ und wurde bei den Kindern eingesetzt und vormittags in der Hausfrauenstunde. Das alles war natürlich megaschlecht für ihren Geist und ihren Körper.“

Joe nickte betroffen. „Das ist echt hart. Ein Wunder, dass sie überhaupt noch auf den Beinen steht.“