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Bereits erschienen:

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Band 1

eISBN 978-3-649-63367-9

eISBN 978-3-649-63368-6

© 2019 der neu illustrierten Ausgabe Coppenrath
Verlag GmbH & Co. KG, Hafenweg 30, 48155
Münster
Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise
© 2007 der Originalausgabe:
Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,
Text: Sarah Bosse
Illustrationen: Cathy Ionescu
Lektorat: Jutta Knollmann
Satz: FSM Premedia GmbH & Co. KG
www.coppenrath.de

Das Buch erscheint unter der ISBN 978-3-649-62458-5.

Sarah Bosse

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Fass dir ein
Herz, Anna

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Mit Illustrationen von
Cathy Ionescu

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Inhalt

Ein Morgen voller Sorgen

Erzähl mir von Nora

Nora schweigt

Nervenflattern

Was für eine Nacht!

Pferdeliebe

Im Mühlental

Zum guten Schluss

Heilpädagogisches Reiten

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„Halt deinen blöden Schnabel, sonst stülp ich dir einen von meinen Socken über den Kopf!“, brüllte Robert und knallte sein Fenster zu.

Der Hahn Justus flatterte aufgeregt mit den Flügeln und plusterte sich auf.

„Das würd ich mir gut überlegen“, sagte Anna grinsend zu dem eindrucksvollen Vogel. „Ich würd jetzt an deiner Stelle nicht mehr krähen. Roberts Socken sind echt nicht ohne.“

Es gab zwei Dinge, die Annas Bruder überhaupt nicht ausstehen konnte: Wenn man ihm seine geliebte Gitarre wegnahm. Und … wenn man ihn in den Ferien nicht ausschlafen ließ.

Anna war da anders. Sie liebte es, in aller Frühe über den Hof zu stromern, wenn der Morgendunst noch wie eine Schicht Watte über den Weiden hing, und mit den Tieren den Tag zu beginnen.

Gab es etwas Schöneres, als morgens in den Stall zu kommen und von den Pferden mit leisem Wiehern begrüßt zu werden? Gab es etwas Angenehmeres als die vertrauten Geräusche im Stall, das Scharren der Hufe und das Schnauben, wenn die Pferde ihre Mäuler tief in die Futterraufen tauchten? Wenn sie fraßen, klang es so, als kauten sie auf einer Portion Knäckebrot herum.

Außerdem war es ein schönes Gefühl, den Tag mit Stallarbeit zu beginnen und dann hungrig zum Frühstückstisch zu eilen, wo bereits eine Tasse mit heißem Kakao wartete. Das machte Anna glücklich.

Heute war ein besonders schöner Tag. Die Sonne brach gerade durch den Hochnebel und tauchte den Hof in orangefarbenes Licht. Anna lachte, als Justus empört sein buntes Gefieder aufplusterte und seinen Unmut über Roberts Drohungen laut schimpfend an seinem Hühnervolk ausließ. Heftig flatternd drehte er eine Runde über den Hof, dass die Hühner zu allen Seiten davonstoben. Kaum hatte Anna ihm den Rücken zugedreht, ließ er sich wieder auf dem Zaun nieder und krähte erneut aus vollem Halse.

„Armer Robert“, kicherte Anna. Auf dem Weg zum Stall lief sie am alten Speicher vorbei, in dem ihre Freundin Luisa wohnte. Anna hob ein Steinchen auf und warf es gegen ihr Fenster. Adelheid, Luisas Mutter, die in dem alten Haus eine Tierarztpraxis betrieb, sah das gar nicht gern, denn einmal hatte Anna ein scharfkantiges Steinchen erwischt, das auf der Fensterscheibe prompt einen Kratzer hinterlassen hatte. Also machte sich Anna lieber sofort wieder aus dem Staub, um nicht erwischt zu werden, und setzte ihren Weg zum Stall fröhlich von einem Bein aufs andere hüpfend fort.

Luisa war nicht direkt ein Morgenmuffel, aber sie brauchte morgens immer ein bisschen länger. Meist hatte Anna dann schon die Pferde begrüßt und beim Füttern und Fegen geholfen, ehe Luisa im Stall auftauchte.

„Guten Morgen, meine Schöne!“, grüßte Anna ihre Ponystute Fee und drückte ihr einen Kuss auf das weiche Maul.

„Hier, ein kleiner Morgengruß“, flüsterte sie und hielt Fee eine Möhre vors Maul, die sie aus der Speisekammer gemopst hatte. Knurpsend verspeiste das Pony das knackige Gemüse.

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„Bei dir möchte ich auch gern Pony sein“, sagte plötzlich eine warme, dunkle Stimme. Rolf, Annas Vater, lehnte sich über die Boxenwand und grinste. Da hatte Anna eine Idee. Kurz entschlossen griff sie noch einmal in ihre Tasche und klaubte eine weitere Möhre heraus, die sie ihrem Vater auf der flachen Hand vor den Mund hielt. „Recht so?“

„Pft!“, machte Rolf und zeigte Anna lachend einen Vogel. In diesem Moment tauchte Luisa neben ihm auf. Die Haare standen ihr wüst vom Kopf ab, als hätte sie in eine Steckdose gefasst. „Ah, da kommt ja Hilfe. Sehr schön. Die hinteren beiden Boxen müssen nämlich noch komplett ausgemistet und mit neuer Einstreu versehen werden. Helft ihr mir?“

„Geht klar“, antwortete Anna. Luisa nickte ihr zu. Natürlich waren sie dabei! Das Ausmisten war eine anstrengende Arbeit, die den Mädchen aber viel Spaß machte.

Luisa hielt Anna die Hand hin. Die schlug ein und sagte: „Moin, erst mal, du verschlafene Amazone.“

„Kommen heute etwa zwei neue Pensionspferde?“, fragte Luisa, als Rolf durch die Stallgasse verschwunden war.

„Ja und nein“, antwortete Anna und machte sich auf den Weg zu einer der leer stehenden Boxen, in der sie Schubkarren, Besen, Mistforken und Strohballen aufbewahrten.

„Wenn ich Paps richtig verstanden habe, kommt gegen Mittag das Voltigierpferd, das Mama ausgesucht hat, und heute Nachmittag zieht ein weiteres Pensionspferd bei uns ein.“

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Annas Mutter Isabel gab auf dem Ponyhof im Mühlental Reitunterricht. Obwohl sie den Hof mit ihrer Familie erst vor einem halben Jahr übernommen hatte, genossen sie bereits einen guten Ruf, und ihre Reitkurse waren besonders bei den Kindern beliebt.

Luisa lehnte sich auf den Stiel der Mistforke. „Ein Voltigierpferd? Erzähl mal.“

Anna schnappte sich die Schubkarre, in der Forken, Schippe und Besen lagen, und machte sich auf den Weg zur hintersten Box, einer der Luxusboxen, wie sie sie spaßeshalber nannten. Diese Boxen waren besonders geräumig und verfügten über einen Auslauf. „Mama hat das Inserat im Landwirtschaftlichen Wochenblatt entdeckt. Da wurde ein gut ausgebildetes Voltigierpferd zum Verkauf angeboten. Eine Stute. Mücke heißt sie. Viel mehr weiß ich nicht. Ich bin selbst gespannt.“

„Aber was ist mit Digger?“, fragte Luisa. Annas Mutter hatte für den Voltigierunterricht bisher ihr eigenes Pferd, den Wallach Digger, eingesetzt.

Anna schüttelte den Kopf und stellte die Karre vor der Box ab. „Das war nur eine Notlösung. Digger eignet sich nicht so richtig zum Voltigieren. Wenn er zu lange in der Volte galoppieren muss, wird er ungeduldig, und Mama hat außerdem das Gefühl, dass sein Rücken das auf Dauer nicht mitmacht. Sie will da nichts riskieren.“

Luisa verzog den Mund. „Verstehe. Das ist natürlich gerade bei den Anfängern nicht so prickelnd, wenn das Pferd ungeduldig wird.“

Anna trat in die Box und stieß die Forke in die Einstreu. „Für Digger ist es auch doof. Und jetzt lass uns zusehen, dass wir hiermit schnell fertig werden, dann können wir noch ein bisschen trainieren, wenn du Lust hast.“

Luisa griff nach der zweiten Forke. „Klar hab ich Lust. Also, auf geht’s!“

Im Nu war die Box für den Neuankömmling hergerichtet. Rolf, der sich bereits um die andere Box gekümmert hatte, warf einen zufriedenen Kontrollblick hinein und hob anerkennend den Daumen. Das war für die Freundinnen das Zeichen, Fee und den Connemara-Schimmel Zorro aufzuzäumen und zu satteln und die beiden auf den Ausreiteplatz zu führen, wo sich die Mädchen einen kleinen Spring-Parcours aufgebaut hatten.

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Nach dem Einreiten schnallten Anna und Luisa die Steigbügel etwas kürzer, um sich besser im leichten Sitz halten zu können, und ritten zur Einführung über die Caveletti, die am Rande der Bahn auf dem Boden lagen.

„Hast du dich jetzt für das Springturnier nächste Woche angemeldet?“, fragte Luisa.

„Klar!“, rief Anna. „Ist zwar nur ein kleines Turnier, aber um zu gucken, was die Konkurrenz hier so macht, ist es perfekt. Freitagmorgen geht es los.“

Dann steuerten die Mädchen in den Hindernis-Parcours. Das Springreiten liebten beide. Sie genossen die Anspannung beim Anreiten auf die Hindernisse und den Moment der Stille, wenn sie gemeinsam mit den Ponys darüber hinwegschwebten.

Anna und Fee hatten schon einige Erfahrung und bewältigten die Oxer leicht. Luisa, die noch nicht so lange ritt wie ihre Freundin, hielt sich lieber an die kleineren Hindernisse.

„Puh!“, rief Anna nach einer Weile und wischte sich unter dem Rand der Reitkappe den Schweiß von der Stirn. Trotz der noch kühlen Witterung war ihr ganz schön warm geworden. „Ich muss sagen, du hast dich, seit du hier wohnst, echt verbessert.“