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eISBN 978-3-649-63361-7

© 2019 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,

Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Text: Fabian Lenk

Illustrationen: Tobias Goldschalt

Umschlaggestaltung: Guido Lehmköster unter Verwendung

von Illustrationen von Raimund Frey

Lektorat: Lea Daume

Satz: FSM Premedia GmbH & Co. KG, Münster

www.coppenrath.de

Das Buch erscheint unter der ISBN 978-3-649-63326-6

Fabian Lenk

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MIT ILLUSTRATIONEN VON TOBIAS GOLDSCHALT

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Inhalt

DINO TERRA: DER SCHATZ DER SCHRECKENSKRALLEN

JÄGER UND GEJAGTE

SCHÜSSE IN DER NACHT

AUSFLUG INS UNGEWISSE

DIE WARNUNG

UMZINGELT

IM STOLLEN

IM VERSTECK

AUF DER FLUCHT

LOCKVÖGEL

DAS SANDWICH

EIN NEUER FREUND

DINO TERRA: FLAMMEN ÜBER DEM DINO-PARK

DER TURM

EIN MANN VERSCHWINDET

DIE MASKE

DAS FEUER

EINE HEISSE SPUR

BÖSE SCHLAGZEILEN

DER TAUCHER

DER SCHWARZE FLECK

ÜBERFÜHRT

COMPSIS SPEZIALEINSATZ

DINO TERRA: IN DEN FÄNGEN DER DIMETRODONS

DER HERR DER SAURIER

DAS SIGNAL

IM STURM

DIE SCHWARZE GESTALT

DER KRATER

EIN ALTER BEKANNTER

EIN KLEINER SCHERZ

AUF DER FLUCHT

JAGDZEIT

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DER SCHATZ
DER SCHRECKENSKRALLEN

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JÄGER UND GEJAGTE

Er war der Beste: schnell, intelligent, wendig. Kein anderes Tier verfügte über solch bedrohliche Waffen wie der knapp vier Meter lange Deinonychus. Sein Kiefer war mit siebzig messerscharfen Zähnen bestückt. Von seinen dreifingrigen Händen standen gebogene Klauen ab. Auch an den langen Zehen wuchsen dem Raubsaurier gefährlich spitze Krallen, die zu tödlichen Messern wurden, wenn der Deinonychus – die Schreckenskralle – seine Opfer ansprang.

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Das Tier schob sich völlig lautlos in den Schatten eines über fünfzig Meter hohen Baums im Urwald von Dino Terra. Nun war es perfekt getarnt. Aus dem Dickicht hinter ihm folgten vier Artgenossen, drei erwachsene Tiere und ein Junges, das erste Erfahrungen bei der Jagd sammelte.

Die Schreckenskrallen stellten ihrer Beute im Rudel nach, was sie noch gefährlicher machte. Jedes Tier hatte dabei seine Aufgabe. Im Augenblick galt die ganze Aufmerksamkeit der Räuber einer Gruppe von Dickschädelechsen, die auf einer Lichtung weidete. Die fünf Meter langen Pachycephalusaurier hatten die Köpfe gesenkt und rupften die Halme auf der sumpfigen Freifläche ab.

Der junge Deinonychus zuckte nervös. Seine Gier, loszustürmen und seine sichelartigen Krallen in die Flanken einer der Echsen zu schlagen, wurde mit jeder Sekunde stärker. Doch sein Instinkt hielt ihn vorerst zurück, denn die Pachycephalusaurier waren äußerst wehrhafte Gegner. Sie konnten einem Angreifer mit ihren Schädeln, die sie wie einen Rammbock einzusetzen wussten, die Knochen zertrümmern.

Eine der älteren Schreckenskrallen gab einen leisen drohenden Laut von sich und bremste das Jungtier zusätzlich.

Die erfahreneren Jäger hatten einen anderen Plan. Sie würden warten, bis die Pflanzenfresser nahe genug waren und sie dann gemeinsam angreifen, sodass die Herde in Panik auseinanderstob. War erst ein Tier von der Gruppe abgesondert, konnten die Räuber es im Rudel zur Strecke bringen.

Arglos fraßen sich die Dickschädelechsen immer näher an die Baumgrenze heran. Die Deinonychusse im Wald spannten die Muskeln an. Jeden Moment würden sie aus der Deckung hervorbrechen …

Doch in einem hohen Busch auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung lauerte ein weiterer Jäger. Es war ein Mensch mit einem Gewehr. Im Gegensatz zu den Pachycephalusauriern hatte er die Schreckenskrallen längst entdeckt. Er hob seine Waffe mit dem Zielfernrohr und legte auf einen Deinonychus an.

Dann ging alles blitzschnell. Wie auf ein geheimes Kommando hin sprangen die Raubsaurier aus dem Urwald und preschten gierig auf die Dickschädelechsen zu, die brüllend und grunzend die Flucht ergriffen.

Gleichzeitig peitschte ein Schuss durch die Luft, verfehlte aber sein Ziel.

Der Mann mit dem Gewehr fluchte und drückte erneut ab. Diesmal hatte er besser geschossen – eine Schreckenskralle ging getroffen zu Boden. Die anderen Saurier brachen die Attacke ab und stürmten in den schützenden Wald zurück. Der Mann setzte ihnen unverzüglich nach. Weitere Schüsse hallten durch das Unterholz, aber die Gruppe der Schreckenskrallen konnte immer mehr Abstand zwischen sich und ihren Verfolger bringen.

Schließlich gab der Jäger auf: Die flinken Saurier waren ihm im dichten Buschwerk überlegen. Der Mann wischte sich schnaufend den Schweiß von der Stirn. Immerhin eine der Schreckenskrallen hatte er erledigt, ging es ihm durch den Kopf. Und morgen war auch noch ein Tag. Er würde wiederkommen. Mit seinem Gewehr.

„Wow, was für eine Aussicht!“, rief Laurin begeistert. Der Zwölfjährige düste gerade mit seinem Kumpel Raffael und dessen Schwester Elena über das dichte Blätterdach von Dino Terra, einem Planeten, der einige Tausend Lichtjahre von der Erde entfernt lag. Rechts von ihnen erhob sich eine Gebirgskette, links lag das sandige Ufer eines riesigen Sees.

„Das kannst du laut sagen“, murmelte Professor Alexander Hartenstein gedankenverloren, während er weiter auf einen der Bildschirme im Cockpit starrte. Laurins Vater leitete die Forschungsstation in der Stadt Pax, der einzigen menschlichen Siedlung auf Dino Terra. Der noch weitgehend unerforschte Planet war etwa so groß wie die Erde und erst 2040, also vor zehn Jahren, entdeckt worden.

An diesem Morgen war Hartenstein mit seinem Team aufgebrochen, um einen unbewohnten Teil von Dino Terra zu kartieren. Am Steuer des Truckjets, einer dreißig Meter langen Flugmaschine mit Labor, saß die erfahrene Pilotin Pat Pattaboom. Ihre rechte Hand ruhte auf dem zierlichen Sidestick, der vor einigen Jahrzehnten den einfacheren Steuerknüppel ersetzt hatte.

Wie so oft hatte der Professor seinen Sohn und dessen Freunde mitgenommen. Schließlich interessierten sich alle drei brennend für die Welt von Dino Terra. Zu dem wissbegierigen Trio gehörte auch ein kleiner, ziemlich verfressener Saurier namens Compsi, ein Compsognathus, den Raffael einst aus einem Schlammloch gerettet hatte. Seitdem war Compsi dem Jungen nicht mehr von der Seite gewichen.

Raffael blickte durch eine Seitenscheibe auf die üppige Vegetation und genoss den Flug. Vor wenigen Minuten hatte es einen starken Regenguss gegeben, und nun dampfte der Dschungel unter der Sonne, die die restlichen Wolken vertrieben hatte. Ein Regenbogen spannte sich schillernd über die Baumriesen.

„Seht nur, da sind Saurier auf der Lichtung!“, rief Raffaels ältere Schwester Elena plötzlich. „Das sind doch … Dickschädelechsen!“

„Flieg mal langsamer“, bat Hartenstein die Pilotin.

Pat drosselte den Motor. Nun schwebte der Truckjet nahezu geräuschlos über der Schneise im Wald.

Schnell zog Raffael seine Kamera hervor und begann, die Saurier zu filmen. Die Tiere hoben kurz die bulligen Köpfe, um das seltsame Ding über ihnen zu begutachten, und fraßen dann ungerührt weiter.

Da geriet ein anderer Dschungelbewohner ganz am Rand der freien Fläche vor Raffaels Kamera. Der Junge stutzte. Wenn ihn nicht alles täuschte, dann war das ein Deinonychus, ein zwar recht kleiner und leichter, aber extrem schlauer, sprunggewaltiger und gefährlicher Raubsaurier mit furchterregenden Klauen. Eine Schreckenskralle.

Doch mit diesem Räuber stimmte etwas nicht. Der Junge zoomte näher heran. Der Deinonychus schleppte sich gerade zu einer Pfütze.

„Da unten ist ein verletztes Tier! Können wir landen?“, fragte Raffael den Professor und Pattaboom.

„Natürlich“, antwortete die Pilotin. „Der Truckjet wechselt selbst mitten im Flug problemlos in den Hubschrauber-Modus. Also komme ich auch auf einer so kleinen Lichtung runter.“ Sie warf einen fragenden Blick zu dem Teamleiter. Als dieser nickte, setzte sie die Maschine butterweich auf.

Hartenstein, Pat, die drei Kinder und Compsi stiegen aus.

Nun suchte die Herde der Dickschädelsaurier doch das Weite. Auch der Deinonychus versuchte zu fliehen, aber er kam nicht weit.

„Da vorn ist er!“, rief Raffael und deutete in Richtung einer Buschgruppe hinter der Pfütze. Der lange Schwanz des Tieres ragte ein Stück aus dem Gestrüpp hervor.

Von der Wasserstelle führte eine Blutspur zu den Sträuchern, in denen der Saurier Zuflucht gefunden hatte.

Elena beugte sich darüber. „Was ist hier bloß geschehen?“, überlegte sie laut.

„Vielleicht hat es einen Kampf gegeben“, mutmaßte Laurin.

„Dabei wurde der Deinonychus verletzt.“

„Von einer der Dickschädelechsen? Das kann ich mir nicht vorstellen.“ Raffael schüttelte den Kopf. „Die sind doch ganz harmlos.“

„Nicht, wenn sie angegriffen werden“, korrigierte Professor Hartenstein.

Schnell hatten sie das Gebüsch erreicht. Compsi hüpfte aufgeregt zwischen den Kindern hin und her.

Vorsichtig bog Laurin die Zweige auseinander.

Etwas fauchte laut und schnappte nach ihm. Jäh fuhr er zurück.

„So wird das nichts“, erkannte sein Vater. „Wir müssen den Saurier betäuben.“

Pat lief zum Truckjet zurück und holte ein Gewehr mit Betäubungsmunition. Dann trat sie mit der Waffe an das Gebüsch heran. Es ertönte ein gedämpfter Schuss, dem ein Knurren folgte – danach herrschte absolute Stille.

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Raffael hatte trotzdem ein mulmiges Gefühl. War die Schreckenskralle wirklich außer Gefecht gesetzt?

Doch seine Sorge erwies sich als unbegründet. Der Deinonychus schlummerte friedlich zwischen den Wurzeln des Strauches.

Hartenstein und Pattaboom zogen das schwere Tier aus seinem Unterschlupf.

„Vorsicht!“, mahnte Raffael, als er die blutende Wunde am Bauch der Echse sah.

Nun lag der verletzte Saurier im Schatten einer riesigen Palme. Compsi stakste schnatternd um ihn herum. Mehrfach stupste er den weitaus größeren Räuber an – so als wollte er ihn dazu auffordern, mit ihm zu spielen. Doch der Deinonychus rührte sich nicht.

Raffael betrachtete das schöne Tier. Es war fast drei Meter groß, schätzte er, und es hatte kräftige Beine. An Händen und Füßen befanden sich dolchartige Krallen, die einem Gegner zweifellos furchtbare Verletzungen zufügen konnten. Der Schädel war im Vergleich zum Körper ziemlich lang – ein sicheres Zeichen dafür, dass diese Saurierart ein recht großes Gehirn hatte und somit sehr intelligent war. Das Maul stand leicht offen und erlaubte einen Blick auf mehrere Reihen spitzer Zähne.

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„Es handelt sich um ein Jungtier“, erklärte der Teamleiter nach einem fachmännischen Blick auf das Gebiss der Echse. „Und es verliert eine Menge Blut. Die Wunde scheint sehr tief zu sein. Wenn wir die Blutung nicht stoppen, wird es den Tag nicht überleben.“

Pat beugte sich über den Saurier. „Eine seltsame Verletzung. Sieht mir gar nicht nach einem Biss oder einer Blessur aus einem Kampf aus. Aber was auch immer die Ursache ist, wir können hier nicht operieren. Uns fehlt die entsprechende Ausrüstung. Ich fürchte, wir müssen ihn … hierlassen.“

„Nein, auf keinen Fall!“, protestierte Raffael. „Dann stirbt er doch!“

Wieder stupste Compsi die Schreckenskralle an und fiepte kläglich.

„Können wir den Deinonychus nicht mit nach Pax nehmen?“, fragte Elena.

„Ja, gute Idee!“, rief Laurin. „Eure Mutter ist schließlich Tierärztin. Wenn jemand den Saurier gesund pflegen kann, dann ist sie es.“

Professor Hartenstein überlegte einen Moment. Dann tippte er eine Nummer in die textile Tastatur an seinem linken Hemdärmel und telefonierte mit Hera Jork, der Mutter von Raffael und Elena.

„Sie hat zugestimmt, sich um ihn zu kümmern“, sagte der Forscher, nachdem er das Gespräch beendet hatte.

Raffael atmete erleichtert auf.

„Gut, dann holt die Tragen aus dem Truckjet“, wies Laurins Vater die Freunde an.

Sobald die drei zurückgekehrt waren, verknotete der Wissenschaftler die beiden Tragen miteinander. Dann wurde der Deinonychus behutsam auf die nun verdoppelte Liegefläche gehoben und von Pat und Hartenstein zur Maschine geschleppt. Dort versorgte der Professor die Wunde notdürftig.

„Gib Gas, Pat“, rief er nach vorn ins Cockpit. „Viel Zeit haben wir nicht mehr!“

„Nichts lieber als das“, erwiderte die Pilotin lächelnd und jagte den Truckjet von der Lichtung in den nun wieder völlig wolkenlosen Himmel über Dino Terra.

Während des Rückflugs wich Compsi dem verletzten Saurier nicht von der Seite. Er wuselte um ihn herum, keckerte und war sichtlich aufgebracht.

Doch das Jungtier zeigte absolut keine Reaktion – es schlief tief und fest.

Oder war es etwa schon …

Beunruhigt sprang Raffael von seinem Platz hoch und legte seine Hand auf die Brust des Raubsauriers.

Da, der Herzschlag! Es war zwar nur ein schwaches Pochen, doch der Deinonychus lebte.

Ihre Rettungsaktion würde ein Wettlauf mit der Zeit werden, ahnte Raffael, während die Maschine über die Bäume schoss. Hoffentlich erreichten sie Pax, bevor es für das Tier zu spät war.

SCHÜSSE IN DER NACHT

Kurz darauf erreichten die Freunde, Hartenstein und Pattaboom endlich die Stadt. Pat ließ den Truckjet direkt neben der Praxis von Hera Jork aufsetzen.

Mit ihrem Mann Jason leitete die Tierärztin den Dino-Park. Das gewaltige Gelände, auf dem Tausende von Dinosauriern lebten, lockte inzwischen viele Besucher von der Erde an und war eine der Touristenattraktionen in Pax. In erster Linie aber diente der Dino-Park der Forschung. Daher hatte auch Professor Hartenstein hier sein Labor.

Raffaels und Elenas Mutter eilte sofort zu dem verletzten Jungtier, als Hartenstein und Pattaboom mit der Trage in die Praxis stürmten. Gemeinsam hoben sie den Deinonychus auf einen großen Behandlungstisch.

Die Kinder schauten zu, wie Hera den Saurier untersuchte. „Er ist wirklich schon sehr schwach“, meinte die Ärztin besorgt. „Ich nehme an, er hat bereits viel Blut verloren. Bevor ich aber eine Prognose wagen kann, muss ich mir die Verletzung genauer ansehen“, erklärte sie und beugte sich mit einer Pinzette über die Wunde.

Raffael wandte sich ab. Auch Compsi war das alles offenbar nicht geheuer. Er begann, um den Operationstisch zu hüpfen und aufgeregt zu schnattern.

„Haltet Compsi bitte fest, Kinder, er macht mich mit seinem Gezappel nervös“, murmelte Hera Jork.

Raffael schnappte den Compsognathus und nahm ihn auf den Arm, was dem kleinen Saurier überhaupt nicht passte.

Minuten verstrichen. Es herrschte gespannte Stille.

„Ich fasse es nicht“, stieß die Tierärztin schließlich hervor. Dann zog sie die Pinzette aus der Wunde. Zwischen den Zangen klemmte etwas. „Eine Patrone“, sagte Elenas und Raffaels Mutter. „Dieser Saurier wurde angeschossen.“

Professor Hartenstein trat näher heran. „Aber, aber … das gibt es doch gar nicht“, stammelte er und betrachtete das Geschoss.

Er schüttelte ungläubig den Kopf.

„Ich kann das einfach nicht glauben. Wer schießt denn auf einen Dinosaurier?“

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„Genau das ist die Frage“, erwiderte Hera Jork knapp.

„Wie kann es überhaupt sein, dass so etwas mitten im Dschungel passiert?“, mischte sich nun auch Elena ein. „Ich dachte immer, dass nur in Pax Menschen leben …“

„Davon bin ich bisher auch ausgegangen“, bestätigte der Wissenschaftler.

Die Tierärztin begann, die Wunde zu säubern. „Aber irgendjemand ist da draußen“, sagte sie bestimmt. „Wisst ihr noch, wo ihr den Deinonychus gefunden habt?“

„Sicher“, kam es von Pattaboom. „Ich kann dir die genauen Koordinaten nennen. Aber was hast du vor?“

„Ich will mir die Gegend mal anschauen“, antwortete Hera, die jetzt die Wunde zunähte. „Wenn auf Dino Terra tatsächlich illegal gewildert wird, müssen wir das unterbinden.“ Sie setzte den letzten Stich und schützte die frische Naht mit einem sterilen Verband.

„Wird er durchkommen?“, fragte Laurin mit einem besorgten Blick auf das noch immer betäubte Jungtier.

Die Ärztin sah ihn fest an. „Ich tue alles, was in meiner Macht steht. Aber der Deinonychus ist durch den hohen Blutverlust extrem geschwächt. Ich kann dir nicht versprechen, dass er überlebt. Die nächsten beiden Tage werden entscheidend sein.“

Laurin schluckte. Er wurde traurig – und zugleich wütend auf den unbekannten Schützen, was wie immer dazu führte, dass sich seine Nasenspitze weiß verfärbte. Was brachte einen Menschen dazu, auf einen Dinosaurier zu schießen? In diesem Moment beschloss er, der Sache auf den Grund zu gehen. Und er war sich sicher, dass Elena und Raffael dasselbe dachten.

„Dürfen wir drei dich begleiten?“, fragte er Hera deshalb geradeheraus.

Die Veterinärin zögerte einen Moment, doch dann zuckte sie mit den Schultern und meinte: „Gut, von mir aus …“

„Ist das nicht zu gefährlich?“, hielt Laurins Vater dagegen.

Aber Hera Jork winkte ab. „Nein, verlass dich auf mich. Ich möchte lediglich ein paar Erkundungen anstellen – aus sicherer Entfernung. Wir werden kein Risiko eingehen und bei dem kleinsten Anzeichen von Gefahr sofort die Ranger oder Polizei verständigen.“

Elena nickte. Auf die zwei Meter großen Roboterpolizisten und die Ranger war immer Verlass.

„Na gut“, gab jetzt auch der Professor sein Einverständnis.

Sein Sohn hätte am liebsten losgejubelt. Die Jagd auf den Wilderer klang nach einem spannenden Abenteuer – und die drei Freunde durften ganz vorn mit dabei sein!

„Okay, dann lasst uns packen!“, rief er. „Wann wollen wir starten?“

Hera warf einen Blick auf ihre Uhr. „In zwei Stunden. Und nehmt wirklich nur das Nötigste mit. Wir werden uns sicher nicht allzu lang im Dschungel aufhalten.“

Zwanzig Minuten später waren Elena, Laurin und Raffael damit beschäftigt, ihre Rucksäcke zu packen. Laurin steckte unter anderem sein Spezialwerkzeug ein: Es handelte sich um einen handlichen Griff, in den verschiedenstes Zubehör eingesetzt werden konnte – Schraubendreher, Zangen, Sägen, Bohrer …

Drückte der Junge einen Knopf am Ende des Griffs, summte ein Motor los, der zum Beispiel die Säge antrieb. Berührte er einen anderen Schalter, funktionierte das Gerät wie eine Taschenlampe, und das Betätigen einer weiteren Taste genügte, um einen Laserstrahl zu aktivieren, der sogar Stahl durchschnitt.

Auch Elena stellte unter Hochdruck ihre persönliche Ausrüstung zusammen. Ihr Zimmer lag ganz unten im Haus der Jorks, das auf massiven Stelzen im Wasser eines Sees stand. Elenas Reich befand sich mitten darin und hatte eine große Panoramascheibe, durch die man die faszinierende Unterwasserwelt von Pax betrachten konnte.

Ganz gegen ihre praktische Veranlagung konnte Elena sich heute nicht so recht entscheiden. Auf ihrem Bett lagen Klamotten, Bücher, ein Headset, Knabberzeug, ein handlicher Computer, ein Head-mounted-Display und noch einiges mehr.

Ihr war klar, dass sie auf keinen Fall alles mitnehmen konnte. Der kleine PC durfte aber nicht fehlen, beschloss das computerbegeisterte Mädchen. Doch was sollte sie dafür zurücklassen?

Unschlüssig schaute sich Elena in ihrem Zimmer um und plötzlich musste sie grinsen: Da war ja noch der gute alte Harvey, der ihr als Trainingspartner diente. Der Karatesack hing regungslos von der Decke.

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„Du pennst schon wieder, was?“, scherzte Elena, nahm ein paar Schritte Anlauf und sprang mit der Eleganz einer Raubkatze auf ihn zu.

Zack! Harveys Schlummerzeit wurde mit einem technisch einwandfreien Karatetritt beendet.

„Nicht schlecht!“, kommentierte der nun hin und her schwingende Sack, in den ein Sprachmodul eingebaut war, das auf Berührung reagierte. „Aber auch keine Meisterleistung.“

„Und wie gefällt dir das?“, rief Elena und startete eine neue Attacke, diesmal einen Nidan-geri, einen zweifachen Fußtritt im Sprung.

Harvey wackelte noch mehr. „Hoho“, lachte er hohl. „Bitte nicht kitzeln!“

Elena wurde langsam sauer. Sie musste das Sprachmodul endlich mal umprogrammieren lassen. Aber jetzt hatte sie Wichtigeres zu tun. Diese blöde Packerei!

Da hatte sie eine großartige Idee. Sie reihte alles – außer dem PC – nebeneinander auf und nahm einfach jeden zweiten Gegenstand mit. Der Rest blieb auf dem Bett.

Als Elena fertig war, ging sie zum Sandsack und knuffte ihn freundschaftlich.

„Kein guter Schlag, du Anfänger. Da musst du wohl noch üben!“

Raffael war mit seinen Vorbereitungen viel schneller als seine Schwester. Vor allem achtete er darauf, dass seine Kameraausrüstung komplett war, denn er liebte es, Dinosaurier zu beobachten und sie zu filmen.

Also nahm er die Kamera zu jedem Ausflug mit. Oft ging er aber auch ins große Stadion von Pax und zeichnete wichtige Fußballspiele und andere Sportereignisse auf. Zu Hause vertonte er diese dann und fügte der Live-Atmosphäre eigene Kommentare hinzu – schließlich träumte er schon lange davon, Sportreporter zu werden.

AUSFLUG INS UNGEWISSE

Pünktlich kamen die drei Kinder mit ihrem Compsognathus am Flugfeld zusammen. Um kranke Tiere transportieren zu können, besaß Hera Jork einen eigenen Truckjet, der sogar über einen Operationstisch verfügte.

„Soll Compsi etwa auch mit?“, fragte die Ärztin wenig begeistert.

Die Freunde grinsten, und Raffael beeilte sich, gegen die Vorbehalte seiner Mutter zu argumentieren. „Du weißt doch, wie es ist, wenn Compsi allein zu Hause bleibt“, sagte er. „Dann macht er nur Blödsinn.“

Hera Jork seufzte. „Da hast du recht. Ich hoffe bloß, dass wir nicht ein Übel gegen das andere tauschen. Wenn er also mitkommt, müsst ihr gut auf ihn aufpassen.“

„Machen wir!“, riefen die Kinder im Chor.

Und so stiegen sie zu fünft in den Truckjet.

„Fliegst du selbst?“, fragte Elena, als ihre Mutter sich zielstrebig in den Pilotensessel fallen ließ.

„Ja, Pat hat momentan einfach zu viel um die Ohren.“

„Ach so …“, murmelte das Mädchen.

Hera sah sie forschend von der Seite an. „Zweifelst du etwa an meinen Flugkünsten?“

Elena überlegte. Ihre Mutter war zwar eine brillante Tierärztin, aber eine lausige Pilotin. Es gelang ihr nie, die Maschine ruhig in der Luft zu halten. Wenn Elena das allerdings laut aussprach, durfte sie garantiert gleich wieder aussteigen.

Hera Jork schaute ihrer Tochter tief in die Augen. „Wolltest du noch etwas sagen?“

„Hhm, nö.“

„Fantastisch, dann kann es ja losgehen!“

Kurz darauf raste der Truckjet über die Baumwipfel von Dino Terra wie eine beschwipste Riesenhummel. Summend saß Hera am Sidestick, während ihre Passagiere die Landschaft bewunderten.

Raffael ließ während des gesamten Flugs die Kamera laufen. Die üppige Vegetation zog ihn in ihren Bann. Er sah schlanke Nadelbäume und mächtige Ginkgos, aber auch unzählige Eichen. Dann folgte ein regelrechter Wald aus Farnen, deren ausladende Wedel über drei Meter lang waren. Ein Schwarm grüner Anurognathiden stob zeternd aus einem Gebüsch hervor, als die Maschine näher kam.

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Wenig später hatte Raffael besonders viel Glück: Ein Quetzalcoatlus-Pärchen schwebte majestätisch am Himmel.

„Seht nur!“, rief er den anderen zu.

„Irre!“, stieß Laurin hervor. „Die haben sicher eine Spannweite von über zehn Metern!“

„Richtig“, kam es von Hera. „Bei manchen Exemplaren sind es sogar bis zu vierzehn Meter!“, fing sie sofort an, ihr Fachwissen abzuspulen. „Dennoch ist das Tier vergleichsweise leicht – es wiegt etwa hundertfünfzig Kilo. Ein Quetzalcoatlus ist ein geschickter Jäger, er fängt seine Beute vom Boden oder von der Wasseroberfläche weg. Wenn wir unseren Dino-Park einmal ausbauen sollten, werden wir auch ein Gehege für diese Vögel anlegen – aber das müsste wirklich extrem groß sein …“

Noch während sie sprach, streifte etwas die Unterseite des Truckjets.

„Sollten wir nicht ein bisschen höher fliegen?“, fragte Elena mit angespannter Stimme.

„Kein Problem, ich habe nur einen Moment nicht aufgepasst“, gab ihre Mutter lachend zurück. „Aber keine Sorge, die Kiste hält eine Menge aus.“

Ja, zum Glück, dachte Elena, verkniff sich jedoch einen Kommentar.

Nach weiteren bangen Minuten drosselte die Tierärztin endlich das Tempo.

„So, jetzt müssten wir gleich da sein“, sagte sie mit einem Blick auf das Navigations-System und den Radar.

„Da vorn ist die Lichtung, auf der wir den verletzten Saurier gefunden haben!“, rief Laurin.

Rumpelnd setzte die Maschine auf.

Ohne Zeit zu verlieren, stiegen die fünf aus, und Hera ließ sich von den Kindern die Stelle zeigen, wo der verwundete Deinonychus gelegen hatte.

„Wenn ihm hier irgendwo ein Mensch aufgelauert hat, dann muss er doch auch Spuren hinterlassen haben“, überlegte Raffael laut.

„Ja, davon sollte man ausgehen. Schauen wir uns um“, schlug die Ärztin vor.

Nach kurzer Absprache bildeten sie zwei Teams: Raffael, Laurin und Compsi hielten sich zusammen in westlicher Richtung, Hera und Elena übernahmen die andere Seite der Lichtung.

Der Compsognathus schien den Ausflug zu genießen. Auf seinen staksigen Beinen flitzte er von Gebüsch zu Gebüsch, schnüffelte mal hier, scharrte mal dort und verschwand plötzlich in einem Feld von mannshohen Farnpflanzen, aus dem er nur wieder herausfand, indem er wie ein Känguru hüpfte.

Laurin war es schließlich, der an einer etwas sumpfigen Stelle einen Fußabdruck entdeckte. Raffael fotografierte die Spur sofort ab. Dann riefen die beiden Jungen Elena und Hera zu sich.

„Ein ziemlich großer Abdruck“, sagte die Ärztin. „Ich würde mal tippen, dass er von einem Mann stammt.“

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„Klar“, stimmte Elena ihr zu. „Welche Frau hat schon solche Quadratlatschen?“

Sie überlegte einen Augenblick und fragte dann in die Runde:

„Aber wie können wir den Beweis sicherstellen?“

„Bereits geschehen.“ Raffael deutete auf seine Kamera.

„Sehr gut, womöglich werden wir das Foto noch einmal brauchen“, lobte seine Mutter und kniff die Augen zusammen. „Da sind noch mehr Fußspuren. Sie führen in den Dschungel …“

Laurin zögerte keine Sekunde. „Kommt, wir folgen den Abdrücken. Vielleicht finden wir so den Täter.“

Doch Hera stoppte ihn. „Es dämmert bereits. Und ich möchte nicht im Dunkeln durch den Wald irren. Das wäre viel zu gefährlich.“

Genau, fügte Raffael im Stillen hinzu. Wer weiß schon, ob der Kerl mit dem Gewehr nicht noch irgendwo lauert.

„Lasst uns morgen der Spur nachgehen“, schlug die Tierärztin vor. „Ich werde zur Sicherheit ein Gewehr mit Betäubungsmunition mitnehmen.“

In diesem Moment hallte ein Schuss durch den Urwald. Kreischend erhoben sich die Vögel von den Wipfeln. Compsi versteckte sich hinter Raffael und fiepte ängstlich.

„Das … das war ganz in der Nähe“, stammelte Raffael.

„Ja“, sagte Hera tonlos.

Bäng! Noch ein Schuss.

Diesmal folgte ein aggressives Fauchen.

Laurin schloss die Augen. Wie seine Freunde kannte er sich bestens mit Dinosauriern aus. Und wenn ihn nicht alles täuschte, war das gerade ein Deinonychus gewesen.

Hatte der Täter etwa wieder auf einen Saurier geschossen? Aufgebracht wollte der Junge in die Richtung rennen, aus der die Schüsse gekommen waren.

„Nein, du bleibst hier“, ordnete Raffaels und Elenas Mutter an. „Wir gehen jetzt zusammen zum Truckjet.“

Widerstrebend folgte Laurin ihr und den anderen. „Was macht der Kerl hier draußen?“, überlegte er dabei laut. „Ich meine, es ist doch selbst für ihn extrem gefährlich.“

„Ich kann mir auch nicht erklären, warum jemand freiwillig auf den Schutz des elektromagnetischen Schilds über der Stadt verzichtet.“ Elena schüttelte ungläubig den Kopf. „Er muss hier wie ein Einsiedler ohne Strom und Wasser hausen“, fügte sie hinzu. „Es sei denn …“ Sie hielt inne und zog nachdenklich die Stirn in Falten.