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Sarah Bosse

Flos Tierpension

Ein Herz für Tiere

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Mit Illustrationen von Nina Dulleck

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eISBN 978-3-649-63249-8

www.coppenrath.de

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Inhalt

Pelzpopos, Ringelschwänze & Nervenkakao

Flugkatzen, Knabenkraut & stinkige Kämpfe

Halsklöße, Schokoriegel & Nugatschnuten

Milchbärte, Schmollmünder & ein Dream-Team

Plüschpelz, der Buchstabe F & ein rechter Pantoffel

Wilder Radau, Maulwürfe & kleine Seen

Klebriger Haferschleim, ein Klettermax & ein zweiter Versuch

Dicke Tränen, zwei Herzen & ein weiches Tuch

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Pelzpopos, Ringelschwänze & Nervenkakao

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Im Takt der Musik hüpfte Flo die Stufen zur Haustür hinauf. Als sie den Schlüssel ins Schloss steckte, zupfte sie sich die knopfgroßen Kopfhörer ihres iPods aus den Ohren und stutzte. Irgendwas stimmte nicht!

Flo stöhnte erschöpft. Heute war ein langer Schultag gewesen und mittlerweile war es fast vier Uhr. Trotzdem hatte Flo eigentlich noch ganz gute Laune. Doch die war nun mit einem Schlag wie von einem Orkan weggefegt! Denn als sie die Haustür aufschob, erwartete Flo-Zwo sie im Flur. Platt wie eine Flunder lag der Hund da und hatte seine herzerweichendste Unschuldsmiene aufgesetzt.

Flo kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. Wenn Flo-Zwo so guckte, war das immer ein trügerisches Zeichen. Und im selben Moment war ihr auch klar, was er ausgefressen hatte. Besser gesagt: gefressen. Denn unter Flo-Zwos struppiger Hundeschnauze blitzte etwas Rotes hervor.

„Oh nein, das darf doch nicht wahr sein!“ Flo ließ ihre Schultasche auf den Boden donnern und griff zwischen die Hundepfoten. Sofort hob Flo-Zwo schuldbewusst den Kopf und ließ sich seine Beute abnehmen.

Mit gerunzelter Stirn musterte Flo ihren ramponierten Hausschuh. „Flo-Zwo, weißt du was, ich würde dir jetzt am liebsten deinen Pelzpopo versohlen! Mein Pantoffel ist hinüber! Das nenn ich Amtsmissbrauch und Sachbeschädigung im Dienst. Du sollst das Haus bewachen und es nicht zerlegen!“

Seufzend ließ Flo den Pantoffel sinken und ging neben Flo-Zwo in die Hocke, um ihm den Kopf zu kraulen. Mit Knopfaugenblick folgte Flo-Zwo den kleinen Kopfhörern, die an Flos Hals hin und her baumelten. Wie immer konnte Flo dem Mischlingshund einfach nicht böse sein. „So was hast du doch schon seit Ewigkeiten nicht mehr gemacht!“

Früher war das Zerlegen von Sofalehnen und Hausschuhen Flo-Zwos Lieblingsbeschäftigung gewesen. Deshalb war er auch immer wieder im Tierheim gelandet. Die Pflegefamilien, bei denen er untergekommen war, hatten ihn schon nach wenigen Wochen entnervt zurückgebracht, weil Flo-Zwo einfach nicht von ihrer Einrichtung ablassen wollte. Schließlich hatte der Tierschutzverein entschieden, ihn ins „Inventar“ zu übernehmen. Erst als Flo-Zwo merkte, dass er wirklich bleiben durfte, hatte er mit der systematischen Zerstörung seiner Umgebung aufgehört.

Mit dem Tierheim verband Flo-Zwo nur gute Erfahrungen. Er war als Fund-Tier abgegeben worden, abgemagert und mit völlig verfilztem Fell. Außerdem hatte er sich überall blutig gekratzt, weil er über und über mit Flöhen verseucht gewesen war. So war Flo-Zwo zu seinem Namen gekommen. Und weil es mit Andreas’ Tochter Flo schon eine Flo gab, wurde der Hund kurzerhand Flo-Zwo getauft.

Flos Vater, der in einer Tierklinik als Pfleger arbeitete, war der zweite Vorsitzende des Tierschutzvereins.

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Er hatte den Hund aufgepäppelt und von den juckenden kleinen Blutsaugern befreit. Kein Wunder also, dass er schon bald Flo-Zwos absoluter Lieblingsmensch geworden war. Jedes Mal, wenn Andreas nach Hause gehen wollte, hatte Flo-Zwo herzzerreißend zu jaulen begonnen. Und zwar so lange, bis dieser ihn schließlich mitgenommen hatte.

So war Flo-Zwo in die Familie gekommen. Und in seine alte Zerkau-Leidenschaft verfiel er nur noch selten, nämlich immer dann, wenn er sich vernachlässigt fühlte.

Und das war offenbar auch jetzt der Fall.

„Karo?“, rief Flo ins Treppenhaus hinauf. „Karo? Wo steckst du?“

Keine Antwort.

Das hätte ich mir ja denken können!, ärgerte sich Flo. Ihre kleine Schwester Karo kam montags immer schon früher aus der Schule und sollte dann eigentlich sofort mit Flo-Zwo spazieren gehen. So war es abgemacht, damit der Hund nicht länger als bis zur Mittagszeit allein zu Hause war.

Flo griff zum Telefon und drückte die Kurzwahltaste. „Mama?“

„Flo, was ist denn? Ich hab gerade keine Zeit, das Zebrafohlen hat …“, setzte Flos Mutter an, aber Flo fiel ihr direkt ins Wort.

„Ich wollte nur wissen, ob Karo bei dir ist.“

„Karo? Nein, sie sollte doch …“

„Ja, sollte sie. Hat sie aber nicht“, maulte Flo in den Hörer. „Flo-Zwo hat übrigens meinen Pantoffel zernagt. Den linken. Also, dann kümmer dich mal um dein Zebrafohlen. Tschüss, Mama!“

Ohne eine Antwort abzuwarten, legte Flo auf.

„Mama ist wie immer very busy“, erklärte sie Flo-Zwo. „Diesmal geht es um ein Zebrafohlen.“

Flo-Zwo legte den Kopf schief, als würde er sich große Mühe geben zu verstehen, was Flo da sagte. Doch sobald er sah, dass Flo nach der Leine griff, sprang er übermütig auf alle vier Pfoten.

„Ich hatte Karo ja im Verdacht, dass sie gleich nach der Schule mit dem Bus zu Mama in den Zoo gefahren ist, aber jetzt ist klar, wo sie steckt. Komm, machen wir einen Spaziergang.“

Flo steckte sich die Kopfhörer zurück in die Ohren, drückte auf ‚Play‘ und sprang die Treppe vor der Haustür mit einem Satz hinunter.

Kaum waren sie draußen, verschwand Flo-Zwo im nächsten Gebüsch, um sein Geschäft zu erledigen.

Kein Wunder, dass er so ungeduldig war!, dachte Flo.

Bis zur Tierklinik, in der Flos Vater an drei Tagen in der Woche als Tierpfleger arbeitete, war es ein gutes Stück zu laufen. Flo zog den Reißverschluss ihrer Fleecejacke bis oben zu, denn es war ziemlich kühl geworden.

Das erste Stück legte sie im Takt der Musik hüpfend zurück, bis es ihr wieder richtig warm war. Das war Flo-Zwo gerade recht, denn der Hund liebte vor allem vier Dinge: Das erste war Laufen und die anderen drei waren Spaß, Spaß und noch mal Spaß!

Ziemlich außer Atem kam Flo an der Tierklinik an, die sich ein Stück außerhalb des Ortes in den Gebäuden eines ehemaligen Klosters befand.

Enrico, der an der Anmeldung die „Empfangsdame“ war, runzelte die Stirn, als Flo mit dem Hund im Schlepptau ankam.

Flo-Zwo war in der Klinik nicht gerade gern gesehen. Andreas hatte ihn anfangs hin und wieder zur Arbeit mitgebracht und Flo-Zwo hatte den Laden jedes Mal ordentlich aufgemischt. Und um zu verhindern, dass ein genervter Kollege noch auf die Idee kam, dem Hund ein Beruhigungsmittel zu verabreichen, musste Flo-Zwo fortan allein zu Hause bleiben.

Flo hob die Hand zum Gruß. „Hallo, Enrico! Keine Sorge, Flo-Zwo und ich sind gleich wieder weg. Karo ist doch auch hier, oder?“, fragte sie ein bisschen zu laut, weil sie vergessen hatte, die Kopfhörer aus den Ohren zu nehmen.

Enrico zuckte zusammen. Dann verdrehte er die Augen. „Kann man wohl sagen. Ihr beide seid nicht zu überhören. Heute ist hier wohl Familientreffen angesagt, oder wie?“

„Nun komm schon.“ Flo musste Flo-Zwo an der Leine hinter sich herziehen, so sehr sträubte er sich dagegen. Zwischen diesen Mauern bestand immer die Gefahr, gejagt und ausgeschimpft zu werden, das hatte er sich gemerkt.

Augenblicke später wusste Flo, was Enrico gemeint hatte. Karos weinerliche Stimme hallte aus dem Labor über den gesamten Flur.

Mit der Faust schob Flo die Tür auf. „Hey, Nöli, gut, dass die Aufwachstation in einem anderen Trakt ist. Mit deinem Gejammer könntest du ja jedes Tier aus der tiefsten Narkose holen.“

Ihrem Vater stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. „Flo, gut, dass du da bist. Dann kannst du Karo ja direkt mit nach Hause nehmen.“

„Wo ich sie am liebsten in ihr Zimmer sperren und nicht mehr aufs Klo lassen würde. Dann kann sie mal sehen, wie das ist, wenn man muss und nicht darf“, fauchte Flo ihre kleine Schwester an. „Zum Dank hat Flo-Zwo übrigens meinen linken Pantoffel zernagt.“

Ihr Vater legte das Bündel Einwegspritzen, das er in der Hand hielt, auf ein Tablett und fixierte Karo mit festem Blick. „Karo, ich dachte, du bist mit Flo-Zwo draußen gewesen, bevor du hergekommen bist.“

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„Ist sie nicht!“ Flo stemmte die Hände in die Hüften.

Eingeschüchtert lugte Karo unter ihrem Pony hervor. „Aber ich wollte …“, sagte sie mit leiser Piepstimme.

„Karo, wir haben doch schon so oft darüber gesprochen, was es heißt, Verantwortung für ein Tier zu übernehmen“, unterbrach ihr Vater sie.

Plötzlich fing Karo an zu weinen und brüllte, dass ihre Stimme sich überschlug: „Du hast Flo-Zwo doch angeschleppt!“

Andreas schnappte sprachlos nach Luft.

Flo strubbelte ihrer Schwester über den Kopf, doch Karo schlug ihre Hand wütend fort.

„Jetzt dreh mal nicht am Rad“, entgegnete Flo. „Komm jetzt. Wir beide machen einen fabelhaften Spaziergang nach Hause und kochen uns einen leckeren Nervenberuhigungs-Kakao.“

„Ich will aber lieber bei Papa bleiben.“ Karo schob trotzig die Unterlippe vor. „Zu Hause ist es langweilig und blöden Nervenkakao will ich auch nicht.“

„Das geht nicht, Karo, ich habe gerade überhaupt keine Zeit.“ Andreas griff wieder nach den Spritzen. „Kinder, ich muss jetzt wirklich was tun.“

Karo stampfte mit dem Fuß auf. „Ich wollte sowieso lieber zu Mama, aber die hat am Telefon gesagt, sie hat irgendwas mit Kacka.“

„Sie hat was?“, fragte Flo. Ihre Mundwinkel zuckten gefährlich. Auch Flos Vater konnte sich nur mühsam beherrschen.

„Irgendwas mit Kacka“, wiederholte Karo.

Wie auf Kommando prusteten Flo und ihr Vater los. Flo-Zwo hüpfte wie ein Flummi an Flo hoch, so als ob er mit ihnen mitlachen wollte.

„Da hast du dich bestimmt verhört, Karo“, japste Andreas schließlich.

„Hab ich nicht!“, protestierte Karo. „Mama hat gesagt, das sind die mit dem geringelten Schwanz.“

Flo zuckte die Schultern. „Mir hat sie eben nur was von einem Zebra erzählt. Das ist auch geringelt … äh, gestreift.“

Ein merkwürdiger Laut war zu hören. Die Mädchen drehten sich zu ihrem Vater um, der sich beinahe verschluckt hätte, als ihm plötzlich klar geworden war, was Karo gemeint hatte.

„Katta!“, rief er und hustete. „Sie hat bestimmt Katta gesagt. Na, ihr wisst schon, diese Halbaffenart. Die haben lange puschelige Ringelschwänze.“

„Sag ich doch.“ Karo machte ein zufriedenes Gesicht.

Flo zog ihre Schwester mit sich hinaus. „Na, komm schon, du Ober-Affe. Jetzt aber los!“

Flugkatzen, Knabenkraut & stinkige Kämpfe

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Am folgenden Nachmittag besuchte Flo ihren Vater im Tierheim, in dem er jeden Dienstag und Donnerstag arbeitete.

„Guten Tag, Grobi!“, grüßte sie den Papagei, der im Vorraum zum Büro seinen Platz gefunden hatte. Flo tippte mit der Fingerspitze an die Gitterstangen seines geräumigen Käfigs. „Na, redest du mal wieder nicht mit mir?“

Flo kannte das Spielchen schon. Der große Vogel schwieg beharrlich. Er legte lediglich den Kopf schief und tippelte auf seiner Stange hin und her.

Erst in dem Moment, als Flo den Vorraum verließ, schimpfte er ihr ein lautstarkes „Halt! Stehen bleiben!“ hinterher.

„Du hättest von Beruf Bewegungsmelder werden sollen, Grobi!“, rief ihm Flo lachend über die Schulter zu.

Etwas gelangweilt saß sie kurz darauf ihrem Vater an seinem Schreibtisch gegenüber, baumelte mit den Beinen und schaute sich um.

Wann ist Papa wohl endlich mit der Post fertig?, dachte sie ungeduldig, denn sie hatte ihm etwas Tolles zu erzählen.

Flos Blick fiel auf das Foto, das eingerahmt in einem der Regale stand. Es zeigte Flos Eltern vor einem atemberaubenden Bergpanorama.

Flo wusste, dass das Bild auf der Hochzeitsreise ihrer Eltern beim Bergwandern in den Dolomiten aufgenommen worden war.

„Wie heißt noch mal der große Berg da?“ Flo zeigte auf das Bild. „Irgendwas mit Marmelade oder so.“

Ihr Vater schüttelte den Kopf. „Nicht Marmelade. Marmolata.“

„Und wie hieß noch mal die Pensionswirtin, bei der ihr damals gewohnt habt?“, fragte Flo. „Die hatte doch auch so einen witzigen Namen.“

„Frau Wutzel“, brummte ihr Vater in die Lektüre eines Briefes vertieft.

„Ich meine, mit Vornamen“, sagte Flo.

Andreas ließ den Brief sinken und sah seine Tochter über den Rand seiner Lesebrille hinweg an. „Liebe Floriane, was soll das hier werden, ein Quiz? Erzähl mir lieber, wie es in der Schule war.“

Einen Versuch war es wert gewesen, ein paar Informationen aus ihrem Vater herauszukriegen. Flo vermutete nämlich, dass ihr eigener Name irgendetwas mit diesem Urlaub zu tun hatte, aber ihre Eltern rückten einfach nicht mit der Sprache heraus.

Flo ließ die Arme auf die Sessellehnen klatschen und grinste breit. „Hanna und ich sind die Einzigen, die im Englischtest eine Zwei haben.“

Flos Vater schüttelte den Kopf. „Und die anderen haben alle eine Eins?“

Flo sprang auf und boxte ihn gegen die Schulter. „Papa, du bist blöd! Wir sind natürlich die Besten.“

„Schon klar.“ Andreas grinste und wandte sich wieder dem Schreiben zu. „Was ist das eigentlich hier für ein Geräusch?“

„Ups!“ Flo stellte schnell ihren iPod aus, aus dessen Kopfhörern, die um ihren Hals baumelten, noch leise Musik tönte.

Die Dienstage waren die entspanntesten Tage in der Woche, fand Flo. Sie liebte es, sie zusammen mit ihrem Vater im Tierheim zu verbringen. Hier war immer etwas los und außerdem wurde jede helfende Hand gebraucht.

„Wer ist das denn?“, fragte Flo, als sie draußen auf dem Hof ein neues Gesicht entdeckte. Ein Jugendlicher hockte in den Zierbeeten und jätete Unkraut. Wie wenig Spaß ihm das machte, konnte man an seinem Gesicht ablesen. Seine Mundwinkel hingen so weit nach unten, als wären Gewichte daran befestigt.

„Der Neue“, murmelte Andreas lesend.

Jetzt erinnerte sich Flo daran, dass ihr Vater ihr von dem Jungen erzählt hatte, der ihnen zugeteilt worden war. Er hatte etliche Zigarettenautomaten aufgebrochen und war vom Jugendgericht zur Ableistung von Sozialstunden verurteilt worden. Und die arbeitete er jetzt hier im Tierheim ab.

„Ich weiß gar nicht, warum der so griesgrämig guckt“, wunderte sich Flo. „Im Tierheim zu arbeiten, macht doch Spaß.“

Andreas zeigte mit dem Ende seines Kugelschreibers nach draußen. „Das musst du ihm sagen.“

In dem Moment, als Flo hinausgehen wollte, klingelte das Telefon. Bevor ihr Vater nach dem Hörer greifen konnte, hatte Flo ihn sich schon geschnappt.

„Tierschutzverein an der Blumenstiege, Flo am Apparat“, sagte sie.

„Hallo, Flo, ich bin’s“, sagte ihre Mutter am anderen Ende der Leitung. „Kannst du Andreas bitte ausrichten, dass es heute Abend leider wieder später wird?“

Flo runzelte die Stirn. „Hm, ja, mach ich“, antwortete sie einsilbig, denn eigentlich hatte ihre Mutter versprochen, an diesem Abend Flos Lieblingslasagne zu machen.

Ihre Mutter teilte sich mit einem Kollegen die Tierarztstelle im Zoo. Und die Tiere nahmen natürlich keine Rücksicht darauf, wann der Tierarzt Feierabend machen wollte. Wenn sie krank waren, waren sie krank, wenn sie sich verletzt hatten, duldete die Versorgung keinen Aufschub, und wenn Tierbabys geboren wurden, fragten sie nicht vorher nach, ob es gerade passte.

Oft musste man schnell reagieren, wusste Flo. Ihre Mutter hatte ihr erklärt, dass Tiere in der freien Wildbahn möglichst lange zu verbergen versuchten, wenn sie krank waren. Denn sonst galten sie als leichte Beute oder ihre Rangordnung innerhalb ihrer Gruppe war gefährdet. Wenn es ihnen dann so schlecht ging, dass ihre Krankheit offensichtlich wurde, war es oft schon fast zu spät. Daher war es auch so wichtig, dass die Tierpfleger ihre Schützlinge gut kannten, denn ihnen fiel eine Veränderung am schnellsten auf.

Andreas zuckte die Schultern und zwinkerte Flo zu, die noch mit dem Telefon in der Hand dastand. „Lass mich raten, sie wird bei den ‚Kackas‘ gebraucht und kommt deshalb später.“

„Von den Ringelschwänzen hat sie nichts gesagt“, antwortete Flo. „Aber die Mama-Spezial-Lasagne können wir knicken.“

Bevor Flo auf den Hof des Tierheims hinaustreten konnte, rief ihr Grobi noch ein „Halt! Stehen bleiben!“ hinterher. Kichernd ging sie hinaus in die Sonne, die ihr prompt in der Nase kitzelte und sie zum Niesen brachte.

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In einem der Katzengehege ging es hoch her. Neugierig steuerte Flo darauf zu und sah die Katzen aufgeregt miauend und fauchend umherrennen. Eine sprang sogar quer durch den Käfig, als wäre sie ein Flughund und keine Katze. Sie krallte sich an das Außengitter und protestierte lauthals.

Jetzt hörte Flo auch Karins Stimme, die beruhigend auf die Tiere einredete. Vermutlich war eine neue Katze in die Gruppe gekommen. Das sorgte anfangs schon mal für Ärger. In einigen Fällen beruhigten sich die Tiere sogar überhaupt nicht, so wie auch Menschen nicht immer alle gut miteinander auskamen. Dann musste man die Katzen wieder trennen.

Flo wandte den Kopf. Der Junge hockte noch immer vor seinem Beet und zupfte genervt am Unkraut herum. Das heißt, Flo war sich gar nicht mal sicher, dass er wirklich nur das Unkraut ausrupfte. Es sah eher so aus, als zerrte er alles aus der Erde, was er gerade zwischen die Finger bekam.

Flo machte kehrt und schlenderte wie zufällig auf den Jungen zu. Beiläufig kickte sie ein Steinchen über den Weg. „Hi“, sagte sie. „Ich bin Flo, die Tochter von Andreas. Und wie heißt du?“

Der Junge blickte zu ihr auf, antwortete aber nicht. Was geht dich das an?, schien seine Körperhaltung zu sagen.

Flo zuckte die Schultern. „Okay, wenn du mir deinen Namen nicht verrätst, dann nenne ich dich ab jetzt einfach Horst.“

Damit drehte sie sich um und tat so, als ob sie gehen wollte.

„Fips“, sagte der Junge. „Fips Flakowski.“

Flo hätte beinahe losgelacht, riss sich aber zusammen. „Du … du heißt … Fips? Das klingt ja eher wie ein … wie ein …“

„Wie ein Affe, ich weiß!“, blaffte der Junge genervt und riss wahllos irgendein Pflanzenbüschel aus. Flo war sich sicher, dass es sich um eine Staude handelte, die eindeutig kein Unkraut war. „Eigentlich Philipp. Aber alle nennen mich eben Fips.“

„Hör mal“, sagte Flo und ging neben ihm in die Hocke. Sie zeigte auf eine Pflanze mit dunkelgrünen gefleckten Blättern. „Wenn du nicht möchtest, dass mein Vater nachher ausflippt, dann solltest du zumindest das da stehen lassen. Das ist nämlich das gefleckte Knabenkraut.“

„Ist das was Besonderes?“, fragte Fips.

„Ja, das ist was Besonderes“, erwiderte Flo entrüstet, aber dann winkte sie ab. „Ach, lass es einfach stehen, okay?“, sagte sie und wandte sich zum Gehen.

Im Katzenhaus traf Flo Karin, die Leiterin des Tierheims. Sie stand vor einem der Fenster und beobachtete die Katzen, die eben noch in der Außenanlage so einen Aufruhr veranstaltet hatten.

„Was die immer erst für ein Affentheater aufführen“, sagte sie kopfschüttelnd.

„Affentheater?“, wiederholte Flo. „Dann kannst du ja Fips direkt mit hineinstecken.“

„Fips? Den Neuen?“ Karin lachte. Dann seufzte sie. „Ob wir dem noch was beibringen können? Er scheint bisher nicht viel Spaß an unserer Arbeit hier zu haben.“

„Scheint so“, sagte Flo schulterzuckend. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie einem die Arbeit im Tierheim keinen Spaß machen konnte. Obwohl sie zugeben musste, dass Unkrautzupfen auch nicht gerade ihre Lieblingsbeschäftigung war. Aber das war schließlich nur ein winzig kleiner Teil von dem, was im Tierheim zu tun war. In erster Linie ging es um die Tiere und die liebte Flo einfach über alles.

Um sich ein wenig nützlich zu machen, räumte Flo einen Karton Hundefutter, den jemand gespendet hatte, ins Lager und holte dann Joschi, einen der Hunde, aus dem Zwinger, um mit ihm und Flo-Zwo eine kleine Runde zu drehen.

Als Flo zum Tierheim zurückkam, stand Karin neben Fips und hatte die Hände in die Seiten gestemmt. Sie sah ziemlich verärgert aus. Aber Fips’ Miene war nicht zu toppen. Damit hätte er glatt einen Preis beim Wettbewerb „Wer kann so richtig genervt gucken?“ gewinnen können.

Flo musste schmunzeln. Karin hatte Fips ganz offensichtlich eine Standpauke gehalten und beaufsichtigte jetzt, wie er die Stauden, die seine Ausrupf-Aktion überlebt hatten, wieder einpflanzte.

Karin streckte den Zeigefinger aus. „Und mit der Pflanze da bist du bitte besonders vorsichtig, das ist das …“

„… gefleckte Knabenkraut“, fiel Fips ihr ins Wort. „Ich weiß, das ist was Besonderes.“

In diesem Moment nahm Flo aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Es war das Streifenhörnchen, das seit einiger Zeit in einer der Volieren eine Verletzung auskurierte. Spaziergänger hatten es im Wald gefunden und zum Tierheim gebracht, damit es dort wieder aufgepäppelt werden konnte.

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Flo ging zu dem Käfig hinüber und betrachtete das putzige Tier. Es hockte auf einem Birkenzweig und sah Flo aus seinen Knopfaugen an, als wollte es sagen: Sei froh, dass ich mal einen Moment still sitze. Wenn du nur blinzelst, bin ich schon wieder weg.

Und so war es auch. Wenige Sekunden später war das Streifenhörnchen in den hinteren Teil des Käfigs geflüchtet.

Flo schaute ihm gedankenverloren hinterher. Das geringelte Wesen hatte sie an die Kattas erinnert. Was ihre Mutter wohl gerade machte?

Flo beschloss kurzerhand, sich in den nächsten Bus zu setzen und ihre Mutter im Zoo zu besuchen. Ihre Hausaufgaben konnte sie schließlich auch noch später erledigen.

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Am Zoo angekommen, hüpfte Flo gut gelaunt die Stufen zum Verwaltungsgebäude hoch und drückte auf die Klingel. Frau Blum hinter dem Empfangstresen winkte fröhlich. Sie war so klein, dass man ihr Gesicht meist nur von der Nase an aufwärts sah. Aber ihre Augen lachten immer mit.

„Hallo, Flo, schön, dass du uns mal wieder besuchst!“, rief sie. „Wo deine Mutter steckt, weiß ich im Moment nicht. Ich habe sie nur heute Morgen beim Reinkommen gesehen. Sie ist sehr beschäftigt.“

Flo nickte und grinste breit. „Ja, ich weiß, deshalb komme ich ja her. Also, damit meine Mutter sich noch an mich erinnert. Diesmal sind es die Kattas.“

Frau Blum zog erstaunt die linke Augenbraue hoch, was ziemlich lustig aussah. „Die Kattas? Na, wenn du es sagst …“

Flo huschte zum Veterinärstrakt hinüber, wo sie in einem Spind ihre Stallkleidung aufbewahrte. Denn wenn sie sich eins hinter die Ohren geschrieben hatte, dann war es, niemals mit Alltagsklamotten zu den Tieren zu gehen!

Nie würde sie vergessen, wie sie einmal nach der Schule kurz bei ihrer Mutter vorbeigeschaut hatte, um anschließend zu der Geburtstagsfeier einer Klassenkameradin zu gehen. Zuerst hatte sie sich gewundert, dass sich bei der Feier niemand neben sie setzen wollte, bis Lars, der Oberclown in ihrer Klasse, mit einem „Pah, hier stinkt’s ja wie im Pumakäfig!“ in den Raum gepoltert war.

Da war Flo schlagartig klar geworden, dass sie selbst der Grund für den Gestank war. Zwar hatte sie mit den anderen darüber gelacht und so getan, als ob es ihr nichts ausmachen würde, dass sie sie an diesem Nachmittag nur noch mit Faulgas-Flo, Stinky oder Miss Piggy ansprachen, aber am liebsten hätte Flo die Party direkt verlassen und wäre nach Hause gestürmt. Sie mochte sich selbst nicht mehr riechen. Dabei war sie doch nur ganz kurz mit ihrer Mutter bei den Pinselohrschweinen im Gehege gewesen, um Julia dabei zuzusehen, wie sie bei einem der Schweine ein Ekzem behandelte. Und anschließend hatte sie nur ganz kurz im Eselstall geholfen, Futter zu verteilen.

Das passiert mir nicht noch mal, hatte Flo sich geschworen. Wer wurde schon gern Faulgas-Flo genannt?

Daran musste Flo denken, als sie jetzt ins Halbaffenhaus kam. Ihre Mutter hatte ihr nämlich mal erklärt, dass die Katta-Männchen ihre Rangordnung innerhalb der Gruppe bestimmen, indem sie sogenannte Stinkkämpfe austragen. Dabei schmieren sie ein übel riechendes Sekret aus ihren Armdrüsen auf ihren puscheligen Ringelschwanz und wedeln damit in Richtung ihrer Rivalen.

Flo musste grinsen. Bei den Menschen besprühen sich ja eher die Frauen mit irgendwelchen Düften, dachte sie.

Flo blieb einen Moment vor der großen Scheibe stehen und beobachtete die kleine Gesellschaft der Kattas, die sich in die Innenanlage verkrümelt hatte. Draußen war es ihnen wohl gerade nicht sonnig genug.

Sanft strich Flo mit den Fingern über die Scheibe. Sie liebte diese Feuchtnasenaffen mit den spitzen hellgrauen Puschelohren und den orangefarbenen Augen.

Die Kattas sehen witzig und klug aus, beides zugleich, dachte Flo. Schauten sie einen an, hatte man das Gefühl, nicht einem Tier, sondern einem Menschen in die Augen zu blicken. Ihre Gesichter wirkten wie gemalt. Und wenn die Kattas sich manchmal in ihrer Gruppe zusammenkuschelten, dann hatte Flo große Lust, einfach zu ihnen in die Mitte zu krabbeln.

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Wäre ich ein Tier, wäre ich am liebsten ein Katta!, dachte Flo.

Plötzlich fiel ihr auf, dass sich nur ein Teil der Katta-Gesellschaft in der Anlage befand.

Neugierig, was es mit der Halbaffenbande für ein Problem gab, ging sie weiter.

Halsklöße, Schokoriegel & Nugatschnuten

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Natürlich wusste Flo, dass sie sich bei den Tieren ruhig verhalten musste, deshalb klopfte sie leise an die Tür, die „hinter die Kulissen“ führte, also in den Bereich der Anlagen, der für Zoobesucher nicht zugänglich war. Helga, die Pflegerin der Halbaffen, öffnete ihr die Tür und lächelte. „Flo, wie schön, dich mal wieder zu sehen. Komm rein, deine Mutter ist hier.“

Julia stand mit Wolfi, einem weiteren Pfleger, vor einem Käfig, der vor den Blicken der Zoobesucher verborgen war. Zwischen den Zweigen und Blättern sah Flo die anderen Tiere der Katta-Gruppe sitzen.

„Hi, Flo“, sagte ihre Mutter und legte ihr den Arm um die Schulter. Wolfi winkte ihr zu. Dann konzentrierten sich alle wieder auf das Geschehen im Käfig.

„Wir beratschlagen gerade“, erklärte Julia ihrer Tochter, ohne den Blick abzuwenden.

„Was ist denn nun eigentlich los?“, wollte Flo endlich wissen.

Helga zeigte hinauf ins Geäst. „Filiz hat geworfen.“

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Flo blinzelte. Welches von den grau-weißen Tieren war denn noch mal Filiz? Doch dann entdeckte sie das Katta-Weibchen, das ein winziges Baby an den Bauch gedrückt hielt. „Ja, jetzt sehe ich es. Oh, ist das süß! Schade, dass man es kaum sehen kann. Aber wo ist denn jetzt das Problem? Ist es etwa krank?“

„Sechzig, siebzig Gramm wiegt so ein Winzling immerhin“, erklärte Helga. „Aber das Problem ist nicht das Baby da oben, sondern das andere.“