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eISBN 978-3-649-63236-8
© 2019 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,
Hafenweg 30, 48155 Münster
Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Text: Erik O. Lindström
Dieses Werk wurde vermittelt durch die literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Illustrationen: Sonja Bougaeva

Lektorat: Jutta Knollmann
Satz: Helene Hillebrand

www.coppenrath.de

Das Buch erscheint unter der ISBN 978-3-649-62947-4.

Die abenteuerliche
REISE
des MATS
HOLMBERG

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Von Erik Ole Lindström
Mit Illustrationen von Sonja Bougaeva

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Bläst dir der Wind
manchmal hart ins Gesicht,
treibt er dich auch
umso schneller voran.

Alte Seefahrer-Weisheit

Inhalt

Prolog

Nebel

Bohnenkaffee

Blaulicht

Nella

Flucht

Selma

Der Spion

Gewitter

Kalle

Freunde

Abschied

Gefahr

Muffel

Lagerkoller

Zirkus

Holundersaft

Charlie

Lisbeth

Epilog

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Prolog

Ein furchtbares Gewitter tobt über dem Birka-Kanal. Grelle Blitze durchzucken den Himmel und der Donner poltert wie Paukenschläge.

Mats bekommt von alldem nichts mit. Obwohl der kleine Kutter unter dem Tosen des Unwetters ächzt und stöhnt, liegt er friedlich schlafend in der schmalen Kajüte und träumt vom Bogenschießen.

Selma hingegen ist hellwach. Sie hockt vorn am Bug bei den Tieren und befürchtet, dass bei all dem Poltern und Krachen der Mond vom Himmel fallen könnte.

„Mats“, ruft sie nach einer Weile, als es immer schlimmer wird, „Mats, wach bitte auf! Über uns tobt ein Unwetter. Es rumpelt und stürmt, ich habe Angst, dass wir kentern!“

Aber keine Regung von Mats, kein erschrockener Junge, der aus der Kajüte gestürmt kommt. Bodo kläfft und sprintet zu Mats, um ihn endlich aus dem Tiefschlaf zu bellen. Er schleckt ihm sogar einige Male mit seinem langen Lappen quer durchs Gesicht.

„Grrrr, wuff-wuff!“

„Maaaaats!“, schreit Selma, so laut sie nur kann. Irgendwie muss sie das Brausen, das Donnern ja übertönen. „MATS! HILFE!“

Und endlich tut sich etwas in der Kajüte.

„Was ist los?“, murmelt Mats träge.

Blinzelnd öffnet er die Augen, als ein Blitz die Nacht in grelles Licht taucht und es zeitgleich so gewaltig kracht, dass der kleine Kutter sich einen Moment lang in den Wellen aufbäumt.

„Oh nein, Mats, schnell!“, hört er Selma brüllen. „Kalle, er-er ist über Bord gegangen!“

Schlagartig ist Mats hellwach. Wie angestochen schießt er aus der Kajüte und blickt hektisch zu Selma und den Tieren. Der Kutter schwankt bedrohlich hin und her, Wasser schwappt über die Reling.

„Wo?“, keucht Mats nur.

Mit der ausgestreckten Hand deutet Selma stumm auf die Stelle, wo das kleine Schaf gerade eben von einer besonders hohen Welle verschluckt wurde.

Bodo kläfft aufgeregt.

„Nein!“, ruft Mats ihm zu. „Du bleibst bei Selma und den anderen! Versprich es mir. Egal was auch geschieht, du bleibst bei ihnen!“

Dann richtet er sich in dem schaukelnden Kutter auf und springt kopfüber in die dunklen Fluten.

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Nebel

Ein feiner Nebel liegt an diesem Morgen über dem Birka- Kanal. Selbst durch das geschlossene Fenster kann Mats die Luft riechen. Frisch und ein bisschen salzig.

Echtes Kanalwetter, sagt Opa Jacob immer. Das Meer reist mit dem Kanal. Bis hoch zu unserem Haus. Bis in deine Nase und in dein Herz, Mats Holmberg.

Opa hat recht, so wie fast immer. Er ist ein kluger Mann, Mats’ größtes Vorbild. Von ihm hat er alles gelernt: das Angeln, Bootfahren, Schnitzen und sogar, wie man mit einer Lupe Feuer entfacht. Stundenlang kann Mats den Geschichten seines Opas lauschen. Am besten gefällt es ihm, wenn Opa Jacob von seinen Fahrten auf dem Birka-Kanal erzählt, damals, als er noch ein junger Mann war. Lange bevor er Oma Nella geheiratet hat.

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Mats dreht sich in seinem Bett noch einmal auf die Seite und schnuppert den Kanal-Geruch.

Der junge Jacob hatte damals auf dem Frachtschiff Luna angeheuert. Kanal hoch, Kanal runter, kreuz und quer durch Schweden und manchmal weit hinaus aufs offene Meer ist er mit den anderen Matrosen unter dem Befehl des strengen Kapitäns Albersson geschippert. Am wohlsten hat er sich jedoch immer auf dem Birka-Kanal gefühlt. Jede Schleuse eine Herausforderung, ein großes Abenteuer. Die Landschaft entlang des Kanals so schön, dass Opa Jacob noch heute ins Schwärmen gerät. Und darum hat er damals auch genau hier, am Kanal, sein Haus gebaut. Damit er jeden Tag am Ufer sitzen, aufs Wasser schauen oder mit Mats ein wenig mit dem kleinen Kutter auf und ab schippern kann.

Mats wühlt sich aus dem Bett. „Irgendwann werde ich auch mal so richtig auf dem Kanal fahren, genau wie Opa Jacob“, murmelt er und streift sich Jeans und T-Shirt über. Auf nackten Füßen läuft er in das schon reichlich in die Jahre gekommene Badezimmer mit der alten Wanne auf gusseisernen Füßen. Katzenwäsche muss heute früh reichen. Mats hat es eilig, furchtbar eilig. Er will unbedingt noch nach den Tieren sehen, bevor er mit Opa zum Angeln geht. Wie jedes Jahr zu Beginn der Sommerferien.

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Mit schnellen Schritten läuft er die leicht geschwungene Treppe hinunter. Die alten Holzstufen knarren unter seinen Füßen, als wollten sie sich über seine kräftigen Tritte beschweren. Mit einem leidvollen Stöhnen stimmt das Geländer in das Konzert mit ein.

Unten, in der breiten Diele, ist es wesentlich kühler als im ersten Stock mit den beiden Schlafzimmern von Mats und Opa. Das liegt an dem Lehmboden unter den leicht gesprenkelten Fliesen, die überall im Erdgeschoss ausgelegt sind.

Mats liebt es, wenn er ihre Morgenkühle unter seinen nackten Füßen spürt. Im Sommer ist so ein Fußboden praktisch. Im Winter hingegen, wenn Wind und Schnee heftig um das kleine Holzhaus, den Stall und den Schuppen fegen, hat Mats sich schon unzählige Male dicken Teppichboden gewünscht, damit einem nicht die Schuhsohlen am Boden festfrieren.

Opa Jacobs Haus ist alt und alles andere als modern. Doch Mats liebt das rote Haus, die hügelige grüne Wiese, die zum Kanal hin etwas abfällt, und den altersschwachen Bootssteg.

Nirgendwo anders als ganz genau hier am Birka-Kanal möchte er leben. Zusammen mit seinem Opa und den Tieren, vor allem mit Bodo, dem Hütehund, der für sein Leben gern schwimmt.

„Bodo ist überhaupt kein Hund, weißt du, Mats“, hat Opa Jacob früher mit einem Augenzwinkern behauptet. „Bodo ist eigentlich ein Biber mit zu lang geratenen Beinen und Zottelfell.“

Natürlich war das nur ein Scherz. Doch damals war Mats gerade mal vier Jahre alt gewesen und hatte nicht so recht gewusst, ob es langbeinige Biber im Hundefell tatsächlich gibt oder nicht. Später, als Mats in die Schule kam, hat er dann seine Lehrerin, Frau Smilla, danach gefragt. Sie hat nur den Kopf geschüttelt und gelacht.

„Mats, du und deine verrückten Ideen“, hat sie gesagt und ihm durchs Haar gewuschelt. Genau wie sie es heute immer noch macht. Denn Frau Smilla mag Mats einfach zu gern und kann sich jedes Mal über seine ungewöhnlichen Fragen und lustigen Geschichten amüsieren.

Zum Beispiel darüber, dass Mats angeblich mit den Tieren auf dem Hof seines Opas reden kann. Das glaubt ihm weder Frau Smilla noch irgendjemand sonst. Nicht einmal Opa Jacob. Einige in seiner Klasse und auch ein paar der Lehrer halten ihn deshalb für einen Quatschkopf. Einen Unsinn-Erzähler … einen Träumer. Einen, der zu viel Zeit mit einem alten Mann und einem Dutzend Tiere verbringt statt mit gleichaltrigen Kindern. Der sich verrückte Geschichten über die tanzende Hühnerdame Frau Björk und den trägen Hahn Hugo ausdenkt. Oder über das viel zu laut schnarchende Zwergpony Elvin. Und natürlich über die fünf Schafe, die Bodo eigentlich hüten soll. Doch weil der ständig im Kanal herumplanscht, hüten sie sich eben selbst.

Vielleicht hat Mats sich das ja ein wenig von Opa Jacob abgeguckt, das Geschichtenerzählen. Geschichten von Opas Zeit als Seefahrer. Von Stürmen auf hoher See, von Piraten, Wassergeistern und Nixen. Die Leute halten Opa Jacob deshalb für ein bisschen wirr im Kopf. Und sie verstehen nicht, dass so ein Kauz allein mit einem kleinen Jungen leben kann. Deshalb wird nicht nur in der Schule über Mats und Opa Jacob getuschelt. Auch die Nachbarn stecken regelmäßig ihre Köpfe zusammen und lachen über den verrückten Alten, wie sie Jacob häufig nennen.

„Sollen sie doch“, sagt Opa Jacob dann jedes Mal und zuckt mit den Schultern. „Lachen ist schließlich gesund.“

Und dann erzählt er Mats einen extra lustigen Witz, sodass ihr Kichern und Prusten und Bodos vergnügtes Gebell in der ganzen Gegend zu hören sind.

Ja wirklich, Opa Jacob und die Tiere sind Mats’ Familie. Die beste Familie auf der ganzen weiten Welt. Nur manchmal, ganz manchmal, wenn Mats nachts im Bett liegt und nicht einschlafen kann, denkt er an seine Eltern und dass es wirklich schade ist, dass er sie nie richtig kennengelernt hat. Nur wegen dieses blöden Autounfalls, an den er sich gar nicht mehr erinnern kann.

Aber so schnell, wie der Moment kommt, ist er auch wieder vorbei, denn nirgendwo kann es Mats besser gehen als bei Opa Jacob und den Tieren, das weiß er genau.

Bohnenkaffee

Als Mats aus dem Fenster sieht, schweben feine Nebelschwaden wie Gespenster über der großen Wiese und dem Kanalufer. Dafür ist es in der Küche umso gemütlicher. Opa sitzt am Küchentisch und trinkt in kleinen Schlucken seinen geliebten Bohnenkaffee aus dem getupften Becher. Kochend heiß und so stark, dass der Löffel darin stehen kann.

„Morgen, Junge.“ Opas Stimme ist sanft und trocken, das Leuchten in seinen Augen zaubert ein warmes Gefühl in Mats’ Bauch. „Ich habe uns schon ein paar gute Angelköder besorgt.“ Er klopft auf ein Päckchen, das in Butterbrotpapier eingeschlagen ist. „Proviant ist auch vorbereitet. Jetzt musst du nur noch deine Rute, die Rolle und den Haken prüfen.“

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„Mache ich gleich“, verspricht Mats. „Aber vorher sehe ich mal schnell nach den Schafen. Heute Morgen war der Himmel rot wie die Himbeeren im Garten. Vielleicht gefällt den Tieren das Kanalwetter nicht.“

Opa Jacob wiegt den Kopf hin und her. „Hast gut aufgepasst, Mats. Kann schon sein, dass es noch mal umschlägt. Morgenrot mit Regen droht.“

„Halt mir meinen Kakao warm, Opa.“ Mats ist schon über die Türschwelle getreten, da bleibt er noch einmal stehen. „Und mach keinen Quatsch, bis ich wiederkomme.“

Eigentlich sind das Opa Jacobs Worte. Er sagt sie jeden Tag bestimmt zehn Mal zu Mats.

Doch heute ist es umgekehrt. Warum, weiß Mats auch nicht.

Später wird er auf jeden Fall überlegen, ob er da vielleicht schon etwas geahnt hat. Aber in diesem Moment saust er einfach davon, Bodo jagt bellend neben ihm her und Elvin trottet ihnen langsam nach. Das Zwergpony würde nie zugeben, dass es dabei sein will. Dazu ist es viel zu eigensinnig.

„Heja, alle miteinander, habt ihr eine gute Nacht gehabt?“, ruft Mats der Herde schon von Weitem zu.

Bis auf den kleinen schwarzen Kalle, der bereits zu grasen angefangen hat, liegen die Schafe am Kanalufer und dösen.

„Guten Appetit“, wünscht Mats dem schwarzen Kalle und krault ihn hinter den Ohren, dort wo er es ganz besonders gern mag. „Die anderen haben wohl noch keine Lust auf Frühstück, was?“

Kalle blökt und rollt dabei vielsagend mit den Augen.

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„Verstehe.“ Mats grinst. „Haben mal wieder die halbe Nacht durchgequatscht, hm?“

Natürlich hat auch Bodo Kalles Antwort gehört und macht den müden Schafen erst einmal Beine. Zumindest versucht er es. Doch von seinem wilden Gekläffe lässt sich keines der Schafe beeindrucken. Ganz im Gegenteil. Lotte, die so was wie das Anführerschaf ist, gähnt betont ausgiebig, ohne Bodo dabei eines Blickes zu würdigen.

Bodo umrundet die Herde noch ein weiteres Mal. Doch dann sieht er wohl ein, dass es sinnlos ist, und springt mit Anlauf in den Kanal.

PLATSCH!

Das Wasser spritzt so hoch, dass die Schafe eine unfreiwillige Dusche abkriegen und empört auf die Beine kommen. Sie blöken ein paar wüste Beschimpfungen in Richtung Bodo und fangen dann an, ein Stück weiter oben am Hang zu grasen.

„Bodo, du verrückter Kerl!“ Mats lacht. „Du sollst doch nicht ständig die Schafe ärgern. Du musst sie hüten. Schließlich bist du ein Hütehund.“

Bodo taucht ab und an einer ganz anderen Stelle wieder auf. In seinem Maul zappelt ein Fisch.

Zwergpony Elvin ist inzwischen neben Mats getreten und regt sich wiehernd über Bodo auf.

„Ich weiß, Elvin“, besänftigt Mats ihn, „Bodo sollte sich lieber um die Schafe kümmern, statt den Fischen hinterherzutauchen. Aber wenn es ihm doch nun mal so viel Spaß macht. Und außerdem, du weißt doch, was Opa immer sagt: In Wahrheit ist Bodo ein Biber.“

Mats grinst und Elvin trabt schnaubend davon. In der Nähe der fünf Schafe bleibt er stehen und fängt wie sie zu grasen an.

Mit einem tiefen Seufzer lässt sich Mats in das vom Morgentau noch feuchte Gras sinken. Davon bekommt er zwar einen nassen Hosenboden, doch das ist ihm ziemlich egal. Heute ist der zweite Ferientag. Endlich Sommerferien. Herrlich!

Bodo planscht vergnügt im Kanal, die Schafe und Elvin grasen friedlich am Ufer – und Mats sitzt einfach nur da und genießt die warme Morgensonne. Als er sich hinlegen will und dabei die Hände in die Hosentaschen steckt, spürt er zwei flache Kieselsteine. Die hat er gestern am Ufer gefunden. Beide sind ungefähr einen Zentimeter dick, an den Kanten leicht abgerundet und haben eine flache Unterseite. Perfekt zum Flitschen. Mats springt auf die Beine und stellt sich neben Pony Elvin, das gerade gierig aus dem Kanal säuft. Er nimmt den ersten Stein prüfend zwischen die Finger und sieht auf die fast spiegelglatte Wasseroberfläche.

Es kommt darauf an, schnell und möglichst flach zu werfen, so hat es ihm Opa Jacob immer wieder erklärt.

Beim Abwurf gibt Mats dem Stein noch einen leichten Dreh und dann … eins … zwei … Glucksend säuft der Stein einfach ab. Schade! Neuer Versuch. Mats wirft den zweiten Stein, diesmal noch einen Tick flacher und kräftiger.

„Eins … zwei … drei … vier … fünf!“, jubelt er. „Gar nicht schlecht, Elvin, oder?“

Das Zwergpony wiehert wie zur Bestätigung.

Mats nimmt sich fest vor, später noch einmal wiederzukommen, um weitere Steine zu suchen und seinen Rekord zu brechen. Aber heute will Opa Jacob ja mit ihm angeln, das ist fest ausgemacht. Und bevor es losgehen kann, muss Mats noch seine Ausrüstung prüfen.

„Bodo, ich lauf besser zurück. Opa Jacob und ich wollen gleich …“

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Mehr bringt Mats nicht heraus. Laut krähend und gackernd kommen in diesem Moment der alte Hahn Hugo und die Henne Frau Björk über die Wiese vom Hof runter zum Kanal gerannt. Sie flattern wild mit den Flügeln. So als wollten sie jeden Augenblick vom Boden abheben.

Mats hält die Luft an. Wollen die beiden tatsächlich über den Kanal fliegen?

„Was ist denn in euch gefahren?“, wundert er sich.

Frau Björk tanzt sehr gern, aber schnell laufen, das passt ganz und gar nicht zu ihr. Und was Hugo betrifft – Mats kann sich nicht erinnern, ihn überhaupt jemals rennen gesehen zu haben.

„Gooock-gooock-gooock!“, regt sich Frau Björk auf.

„Kikerikiii! Kikerikiii!“, macht Hugo.

„Was? Ich verstehe kein Wort, wenn ihr so durcheinanderredet.“

Hugo baut sich vor Mats zu seiner vollen Pracht auf und beginnt noch einmal von vorn. Und endlich versteht Mats. Sein Magen zieht sich unheilvoll zusammen, während ihm das Herz fast in die Hose rutscht.

„Opa Jacob ist vom Kirschbaum gefallen?“, wiederholt er erschrocken.