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Bisher sind von Ross Welford im Coppenrath Verlag erschienen:

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eISBN: 978-3-649-62514-8

eISBN: 978-3-649-62906-1

eISBN 978-3-649-63242-9

© 2019 für die deutschsprachige Ausgabe

Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG, Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Originally published by HarperCollins Publishers under the title:

The 1,000 year old boy

© Ross Welford 2018

Translation © Petra Knese 2018 translated under licence from

HarperCollins Publishers Ltd

Ross Welford asserts the moral rights to be identified

as the author of this work.

Aus dem Englischen von Petra Knese

Umschlaggestaltung © HarperCollins Publishers 2017

Umschlagillustration © Tom Clohosy Cole

Lektorat: Jutta Knollmann

Satz: Sabine Conrad, Bad Nauheim

www.coppenrath.de

Das Buch erscheint unter der ISBN 978-3-649-63027-2

Ross Welford

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Aus dem Englischen von Petra Knese

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Inhalt

Teil 1

ALFIE

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

Teil 2

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

Teil 3

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

75. Kapitel

76. Kapitel

77. Kapitel

78. Kapitel

79. Kapitel

80. Kapitel

Teil 4

81. Kapitel

82. Kapitel

83. Kapitel

84. Kapitel

85. Kapitel

86. Kapitel

87. Kapitel

88. Kapitel

89. Kapitel

90. Kapitel

91. Kapitel

92. Kapitel

93. Kapitel

94. Kapitel

95. Kapitel

96. Kapitel

97. Kapitel

98. Kapitel

99. Kapitel

100. Kapitel

101. Kapitel

102. Kapitel

103. Kapitel

104. Kapitel

105. Kapitel

Dank

Über den Autor

Teil 1

ALFIE

Möchtet ihr ewig leben? Ich kann es leider nicht empfehlen. Mittlerweile habe ich mich dran gewöhnt und mir ist natürlich klar, dass es etwas Besonderes ist. Bloß will ich es nicht mehr. Ich möchte älter werden, genau wie ihr.

Das ist meine Geschichte. Ich heiße Alve Einarsson und ich bin tausend Jahre alt. Über tausend sogar.

Wollen wir Freunde sein? Dann nennt mich doch Alfie. Alfie Monk.

1. Kapitel

South Shields, 1014 nach Christus

Mam und ich saßen auf einem flachen Felsen und schauten hinüber zur Flussmündung, wo sich die Rauchschwaden aus dem Dorf mit den tief hängenden Wolken vermischten.

Der Fluss wird von allen Tyne genannt. Damals haben wir es »Tine« ausgesprochen, aber es war bloß unser Wort für Fluss.

Mam weinte und fluchte. Von der anderen Seite des Flusses kamen Schreie. Brandgeruch wehte vom Fort auf der Felskuppe herüber. Die Menschen, viele davon unsere Nachbarn, drängten sich am Ufer, doch der Fährmann Dag würde ihretwegen nicht noch mal zurückkehren. Jedenfalls nicht jetzt, denn dann würde man auch ihn töten. Nachdem sein Floß uns abgesetzt hatte, war er Entschuldigungen stammelnd davongelaufen.

Hinter den Menschen am Ufer tauchten die Männer auf, die in Booten gekommen waren. Einen Moment hielten sie inne – arrogant, furchtlos – und stürzten sich dann mit erhobenen Schwertern und Äxten auf ihre wehrlosen Opfer. Einige versuchten noch, sich ins Wasser zu retten. Aber weit kamen sie nicht, denn mitten auf dem Fluss wartete schon ein weiteres Boot auf sie.

Ich vergrub den Kopf in Mams Schal, aber sie zog ihn fort und wischte sich die Tränen weg. Ihre Stimme zitterte vor Wut.

»Sey, Alve. Sey!«

So sprachen wir damals. Das war einer dieser altnordischen Dialekte, wie man heute sagt. Wir hatten keinen Namen dafür. Und gemeint hat sie: »Sieh! Sieh, was sie uns antun, diese Männer, die mit ihren Booten aus dem Norden gekommen sind.«

Aber ich konnte nicht hinsehen. Ich stand auf und ging wie benommen ein Stück, doch immer noch hörte ich das Morden, immer noch roch ich den Rauch. Es zerriss mich fast, noch am Leben zu sein. Mam kam mir mit dem kleinen Holzwagen nach, in den wir alle Habseligkeiten gestopft hatten, die auf Dags Flussfähre Platz fanden.

Meine Katze Biffa lief neben uns her. Plötzlich schoss sie ins Gras, um eine Maus oder einen Grashüpfer zu jagen. Sonst brachte mich das immer zum Schmunzeln, aber nun fühlte ich mich so leer wie ausgeweidet.

Nach ein oder zwei Meilen fanden wir eine Höhle in einer geschützten Bucht. Die Sonne war so stark, dass wir das alte Brennglas von Da, so nannte ich Vater, benutzen konnten. Es war eine gewölbte, polierte Kristalllinse, die das Sonnenlicht zu einem schmalen Strahl bündelte, der Funken schlug. Ich hatte Angst, die Plünderer würden uns verfolgen, aber Mam sagte Nein, und sie behielt recht. Wir waren entkommen.

Als wir ihre Boote drei Tage später wieder in See stechen sahen, machte ich den größten Fehler meines Lebens. Tausend Jahre habe ich jetzt gewartet, um ihn wiedergutzumachen.

2. Kapitel

Warum hast du es dann gemacht?«, wollt ihr jetzt sicher fragen. Nur zu, meinetwegen. Ich habe es mich selbst wieder und wieder gefragt und verstehe es immer noch nicht ganz.

Nur so viel: Ich war jung und sehr, sehr verängstigt. Ich wollte etwas tun, irgendetwas, um mich stärker zu fühlen, um Mam besser beistehen und uns beide beschützen zu können.

Und so wurde ich ein Nimmertoter wie Mam.

Es begann vor langer Zeit, und wenn ich lange sage, meine ich vor vielen hundert Jahren. Und passiert ist es so:

Meinem Vater hatten fünf kleine Glasperlen gehört, die wir livperler nannten.

Lebensperlen.

Sie waren das Wertvollste, das wir besaßen. Mam sagte, sie wären das Wertvollste überhaupt auf der Welt.

Menschen hatten getötet, um an die Perlen zu gelangen. Und mein Da war gestorben, um sie zu beschützen. Deshalb erzählten wir niemandem von unserem kostbaren Besitz.

Nun waren noch drei übrig. Eine für Mam und zwei für mich, wenn ich älter war.

Das wusste ich alles. Mam hatte es mir oft genug gesagt. »Erst wenn du groß bist, Alve. Du musst dich gedulden.«

Aber ich konnte es nicht abwarten.

Am dritten Abend in der Höhle, als Mam unterwegs auf der Suche nach frischem Wasser war, öffnete ich den kleinen Tontopf und nahm die livperler heraus. Obwohl sie schon alt waren, glänzten die Glasperlen im Halbdunkel der Höhle. Und als ich eine vors Feuer hielt, leuchtete die dicke Flüssigkeit innen bernsteinfarben.

Biffa saß gegenüber vom Feuer auf einem kleinen Felsvorsprung, ihre gelben Augen glänzten wie die Glaskugeln. Verstand sie, was ich vorhatte? Sie maunzte, gab diesen kleinen Katzenlaut von sich, bei dem wir immer glaubten, sie würde mit uns sprechen. Biffa schien eine Menge zu verstehen.

Ich hockte mich hin, nahm das Messer, das kleine aus Stahl von Da, dessen Klinge sich im Holzgriff versenken ließ, und hielt es ins Feuer. Dann blickte ich zum Höhleneingang, um mich zu vergewissern, dass ich auch allein war, und schluckte schwer.

Als ich mir mit der heißen Klinge zweimal den Oberarm ritzte, sickerte Blut hervor. Zwei kurze Schnitte wie Mams Narben. Wie auch Da sie gehabt hatte. Nimmermale. Ich weiß nicht, ob es eine Rolle spielt, dass man sich zweimal schneidet, wahrscheinlich nicht. So wurde es eben gemacht.

Weh tat es erst, als ich die Wunden mit Daumen und Zeigefinger auseinanderzog. Ich zerbiss die Glasperle. Wie das Blut aus meinen Schnitten quoll der gelbe Sirup hervor. Ich gab ihn auf die Fingerspitzen und rieb ihn in die Wunden, bis nichts mehr davon übrig war. Es brannte wie frische Brennnesseln im Frühling.

Was dann geschah, war ein Unfall. Ich habe es in Gedanken immer wieder durchgespielt, so wie Leute heute »Videoclips« abspielen. Hätte ich anders handeln können?

Ich weiß es nicht.

Biffa war vermutlich bloß neugierig. Gewusst kann sie nichts haben, aber sie war eben eine sehr kluge Katze. Auf einmal sprang sie mit einem leisen Grollen durch die Flammen auf mich zu. Ohne nachzudenken, riss ich das Messer hoch, das noch neben mir auf dem Boden lag. Ein einfacher Reflex. Es ritzte ihr leicht in die Vorderpfote, aber sie miaute nicht einmal. Als sie hinter mir landete, fuhr ich herum und fegte mit meiner Tunika eine weitere Lebensperle vom Felsregal, wo ich sie deponiert hatte. Ich verlor das Gleichgewicht und zertrat die Perle versehentlich.

Entsetzt starrte ich ein paar Augenblicke darauf.

Schlimm genug, dass ich mich Mams Anordnungen widersetzt hatte, nun hatte ich auch noch eine weitere kostbare Lebensperle verschwendet.

Die zähe bernsteinfarbene Flüssigkeit sickerte heraus. In dem Moment dachte ich nur daran, dass sie nicht vergeudet werden durfte, packte Biffa am Nackenfell und rieb ihr die Flüssigkeit in die verletzte Pfote.

(Im Lauf der Jahre habe ich Mam immer wieder versichert, dass ich das nicht mutwillig getan habe. Ich wollte die Perle nur nicht verschwenden.)

Dann wickelte ich einen Streifen sauberen Stoff um meinen Arm und einen um Biffas Bein. Ihr schien das nichts auszumachen. Sie leckte sich die Schnurrhaare, gähnte und rollte sich zusammen. Gegen den blauen Abendhimmel sah ich Mams Gestalt am Höhleneingang mit einem Kübel Wasser auftauchen und ich schämte mich ganz schrecklich.

Manchmal schäme ich mich immer noch.

Bis dahin hatte ich elf Winter erlebt.

Und ich sollte über tausend Jahre lang elf bleiben.

3. Kapitel

All das ist Ewigkeiten her.

Ich habe schon einige Male versucht, meine Geschichte zu erzählen, musste aber schnell einsehen, dass keiner sie hören will. Ich muss wesentliche Einzelheiten wie die Lebensperlen auslassen, also denken die Leute, ich nehme sie auf den Arm (bestenfalls) oder ich bin ernsthaft irre (schlimmstenfalls).

Manchmal frage ich mich, ob die Leute wohl anders reagieren würden, wenn ich alt aussähe. Also wenn ich faltig und glatzköpfig wäre, gebückt ginge, mit zitternder Stimme spräche, riesige, von Adern durchzogene Ohren und schlecht sitzende Klamotten hätte. Nur dass dann keiner mehr glauben würde, ich nähme ihn auf den Arm. Da würde gleich jeder denken, dass mir das Alter den Verstand geraubt hätte.

»Gott hab ihn selig, den alten Alfie«!, hieße es dann. »Heute hat er schon wieder unentwegt von den Wikingern gefaselt.«

»Was? Oh, oh. Gestern hatte er es mit Charles Dickens. Meint, er hätte ihn getroffen!«

»Im Ernst? Der arme Kerl. Zum Glück ist er harmlos. Tut keiner Fliege was zuleide, ist eben nur vollkommen gaga.«

Aber ich sehe kein bisschen alt aus. Ich sehe aus wie elf.

Als ich aufgehört habe zu altern, hatten die Wikinger ihre Besetzung vom Nordosten Englands schon so gut wie abgeschlossen. Es waren die Schotten gewesen, vor denen Mam und ich geflohen waren. Es sollte noch etwas über fünfzig Jahre dauern, bis der Süden des Landes besetzt wurde, nämlich 1066 von den Normannen. (Wenn ihr mich fragt, waren das im Grunde bloß Wikinger, die Französisch gelernt hatten. Aber mich fragt ja keiner. Nor-manne, Nord-mann, versteht ihr, was ich meine?)

Und falls es euch interessiert, Charles Dickens bin ich wirklich begegnet, aber erst viele Jahre später.

Seht ihr? Ihr glaubt mir auch nicht, oder? Ich kann es euch nicht verübeln, schließlich bin ich der einzige verbliebene Nimmertote auf Erden. Und jetzt, wo Mam von mir gegangen ist, ist das ewige Leben überhaupt kein Leben mehr.

Bloß, wenn ihr mir schon nicht glaubt, wie überzeuge ich denn erst Aidan Linklater und Roxy Minto? Deren Hilfe brauche ich nämlich, um den Fluch des endlosen Lebens aufzuheben.

Und wenn die beiden mir nicht glauben, bin ich, wie man heute sagt, geliefert.

AIDAN

Ich verrate euch lieber gleich, warum ich so genervt bin. Dann ist das geklärt. Und wir können dazu übergehen, wie ich Alfie kennengelernt habe und sich mein Leben für immer verändert hat.

4. Kapitel

Whitley Bay, heute

Wir sind umgezogen, so fängt es schon mal an. Schlimm genug, aber nun haltet euch fest:

1. Das Haus ist kleiner. Viel kleiner und hat kaum Garten, nur so eine Holperwiese, auf der man nicht mal Fußball spielen kann. Mum hat mich mehr als einmal daran erinnert, wie glücklich ich mich schätzen kann, dass wir überhaupt einen Garten haben, und wenn sie das sagt, tut es mir leid, davon angefangen zu haben, denn ich weiß ja, warum wir umgezogen sind. Bloß mein Freund Mo, der in einer Wohnung wohnt, kam sonst immer vorbei, weil er keinen Garten hat, aber das ist ja jetzt wohl witzlos.

2. Wenn wir Besuch haben, muss ich mir nun das Zimmer mit Libby teilen, die eine echte Nervensäge ist. Libby ist sieben und steht auf My Little Pony.

3. Inigo Delombra, der in meine Stufe geht, wohnt jetzt in unserem alten Haus. Ich glaube, er hat sogar mein altes Zimmer. Wenn er mich sieht, grinst er immer so dämlich, als wollte er sagen: »Loser!«

Wenigstens konnte ich auf meiner Schule bleiben, aber so wie es mit Spatch und Mo läuft, hätte ich ebenso gut wechseln können.

Und noch was: Mum und Dad sind nur noch am Streiten. Gestritten haben sie eigentlich schon immer viel – »kabbeln« nennen sie es –, doch in letzter Zeit ist es viel schlimmer geworden, und sie glauben, ich merke es nicht. Es geht ums Geld, immer ums Geld. Genaueres weiß ich nicht. Irgendwie haben sie das Geld »schlecht angelegt« und Mum gibt Dad die Schuld daran. Mum arbeitet nun in einem Callcenter, was sie grässlich findet.

Neulich Abend habe ich Libby oben auf der Treppe erwischt, als sie gelauscht hat. Sie fragte: »Lassen sie sich jetzt scheiden, Aidan?«

Natürlich musste ich sagen: »Ach, Quatsch!« Libbys Kinn zitterte, aber geweint hat sie nicht. Jedenfalls nicht vor mir. Zum Glück, sonst hätte ich auch noch losgeheult.

So, nachdem das geklärt wäre …

Jetzt mal ehrlich. Wenn euch ein Junge, den ihr gerade erst kennengelernt habt, erzählt, er wäre tausend Jahre alt, wie würdet ihr wohl reagieren?

Vielleicht würdet ihr lachen und sagen: »Ja, alles klar!«

Oder ihr ignoriert ihn einfach, so nach dem Motto: Den Irren provoziere ich lieber nicht.

Man könnte auch mit einer witzigen Bemerkung kontern: »Und ich bin der Kaiser von China!«

Okay, mit witzigen Bemerkungen habe ich es nicht so, aber ihr wisst, was ich meine.

Als Alfie also zu mir sagte: »Aidan, ich bin über tausend Jahre alt«, habe ich ihm logischerweise nicht geglaubt.

Und dann musste ich es doch, denn so unglaublich es auch war, es stimmte.

Aber damit ihr das kapiert, muss ich noch mal ein bisschen zurückgehen.

5. Kapitel

Am Anfang der Osterferien sind wir – ich, Mum, Dad und Libby – ins neue Haus gezogen. Nach drei Tagen hatten wir alles ausgepackt. Auch meine Xbox, die beim Umzug zu Bruch gegangen war. Ich fragte Mum, ob ich eine neue haben könnte, doch sie lachte nur traurig, was wohl nein bedeutete. Als sie dann noch meinte, wir hätten »andere Prioritäten«, bereute ich, überhaupt gefragt zu haben.

Vor mir lagen die gesamten Ferien.

»Ruf deine Freunde an und geh runter zum Strand«, sagte Mum alle fünf Minuten.

Aber leider war Spatch mit seinen italienischen Großeltern in Neapel, wo er jede Ostern hinfährt, und diesmal hatte er auch Mo eingeladen. Mich nicht.

Vor den beiden habe ich so getan, als machte es mir nichts aus, aber das tat es. Als ich mit Mum darüber sprach, sagte sie bloß: »Ach, na ja. Wir hätten uns den Flug eh nicht leisten können. Ist doch nicht so schlimm.« Aber darum geht es ja gar nicht. Spatch war es wohl ein wenig peinlich. Er sagte, im Bauernhaus seiner Großeltern wäre kein Platz mehr gewesen, aber ich habe Fotos von dem Haus gesehen und es ist riesig, außerdem hätte ich auch mit dem Fußboden vorliebgenommen. Fast wäre es mir rausgerutscht, ist es aber zum Glück nicht.

Um der Sache noch die Krone aufzusetzen, wie Dad gerne sagt, kamen auch noch Tante Alice und Onkel Jasper zu Besuch. Tante Alice geht ja noch, aber Onkel Jasper? Oh Mann!

Dad war auch nicht begeistert, denn er stöhnte und sagte zu Mum: »Mein Gott, können die nicht ins Hotel? So viel Platz haben wir auch nicht.«

»Sie ist meine Schwester, Ben.«

Dad schnalzte nur mit der Zunge und verdrehte die Augen.

Am vierten Ferientag kamen also Tante Alice und Onkel Jasper am Morgen und ich wurde mit Luftmatratze in Libbys Zimmer einquartiert. Libby war noch ein paar Tage im Zeltlager, also musste ich mir das Zimmer noch gar nicht richtig mit ihr teilen, aber trotzdem …

Wir saßen in der Küche zwischen all den Kartons, die die Umzugsfirma dagelassen hatte. Dad arbeitet zurzeit nicht, deshalb war er zu Hause, kochte Tee und erkundigte sich nach Jaspers Boot (offenbar ein »unverfängliches Thema«). Mum machte ein großes Gewese um Tante Alices Bluse. Tante Alice ist viel älter als Mum und Jasper ist viel jünger als Tante Alice, wobei er dank seines Bartes älter als alle beide aussieht, falls das verständlich ist.

Nachdem Tante Alice gesagt hatte, wie groß ich geworden war, kam die einzige Bemerkung, die an mich gerichtet war, von Jasper.

»Und was ist mit dir, Junge? Bekommst du auch genug frische Luft? Du siehst ja aus wie der Tod auf Latschen!« Und dann grinste er und entblößte seine langen weißen Zähne, als würde er es nicht ernst meinen, tat er aber.

Tante Alice meinte daraufhin: »Ach, Jasper, er sieht doch prima aus!«

Und Mum sagte mit leicht scharfem Unterton: »Ihm geht’s gut, Jasper. Stimmt’s, Aidan?«

Ich nickte heftig, als könnte ich meinem Onkel damit zeigen, dass auch ich so »fit wie ein Turnschuh« war, um eine seiner Formulierungen zu übernehmen.

Er gab einen Grumph-Laut von sich und fügte hinzu: »Seeluft. Ein wenig von der guten ventum maris. Das brauchst du, Junge.« Dann nahm er schlürfend einen Schluck Tee (schwarz, ohne Zucker).

Tja, so redet er, dieser Jasper.

Soweit ich es beurteilen kann, spricht er weder mit einem regionalen Dialekt noch hat er einen ausländischen Akzent. Manchmal klingt er amerikanisch und dann wieder australisch, (wenn seine Stimme am Ende eines Satzes nach oben geht, als wollte er was fragen, tut er aber gar nicht). Der Akzent ist echt schwer auszumachen. Geboren ist Jasper in Rumänien, aber er hat schon in vielen Ländern gelebt. Hinter getönten Gläsern schimmern eng zusammenstehende Augen, dunkel sind sie, fast schwarz.

Einmal habe ich ihn gefragt, woher er komme. »Nenn mich einfach Nomade«, sagte er da und bleckte die Zähne. Mal ganz ehrlich, der Typ macht mir Angst.

Mein Glas Milch war leer und Jasper hatte das Wort »Premierminister« in den Bart gemurmelt – höchste Zeit, sich zu verdünnisieren. Sobald die Regierung ins Spiel kommt, geht es mit dem Gespräch meist nicht aufwärts, das ist jedenfalls meine Erfahrung.

»Ich gehe nach draußen«, sagte ich. Daraufhin erntete ich ein Grunzen, was ich als Zustimmung von Jasper wertete.

6. Kapitel

Es tat richtig gut, aus dem Haus zu kommen. Ich atmete tief durch die Nase ein und mit einem lauten »Haaah!« durch den Mund aus.

Unser Haus liegt ganz am Ende der Siedlung im alten Teil. Hier stehen etwa zehn winzige Reihenhäuser und gleich daneben beginnen die Neubauten. Hinter unserem Gartenzaun liegt bloß Wald. Soweit ich weiß, hat der Wald nicht mal einen Namen. Er heißt immer bloß »der Wald« oder »das Waldstück hinter dem Golfplatz«.

Wäre echt cool, wenn wir ein kleines Tor im Zaun hätten, durch das man direkt in den Wald gehen könnte, aber leider ist es nicht so. Unsere trostlose Wiese endet einfach an einem Holzzaun.

Links von unserem Grundstück liegt eine Gasse, in der es nach Katzenpisse stinkt und sich das Gerümpel türmt. Eine gebrauchte Matratze steht dort herum, eine verrostete Waschmaschine und eine Mülltüte, aus der alte Klamotten quellen. Dad meint, die Kommune wäre dafür verantwortlich, den Müll zu entsorgen, aber die haben offensichtlich kein Interesse daran. Auf der anderen Seite der Gerümpel-Gasse wohnen Susi und Prudi, zwei Damen mit kurzem grauem Haar, die Mum bereits kennengelernt hat und die sie »sehr nett« findet, wobei sie noch hinzufügte: »Eine davon ist ein Doktor.« (Ich dachte immer, Ärzte verdienen gut, warum die hier wohnen, kapiere ich nicht.)

Ihr Grundstück wurde in einen schönen Garten mit gepflasterten Wegen verwandelt und sie haben fünf Katzen aus dem Tierheim. (Dad schnaubte, als Mum es uns erzählte. »Trau keinem, der mehr als zwei Katzen hat«, sagte er, was ich ein wenig gemein fand, denn ich mag Katzen.)

Rechts von unserem Grundstück liegt ein weiterer Garten, ein richtiger mit Rasen, der von unserem nur durch einen klapprigen Zaun getrennt ist.

An dem Morgen, an dem alles begann, stand ich mit dem Rücken zu ebendiesem Zaun und betrachtete die alten Häuser aus dreckigen Ziegelsteinen. Die Hälfte der Häuser sieht aus, als wären sie nicht einmal bewohnt, manche haben kaputte Fensterscheiben. Kein Wunder, dass wir hier so billig zur Miete wohnen. Mum und Dad behaupten, es sei nur vorübergehend.

»Hallo, Aidan!«

Überrascht sah ich mich um, konnte aber niemanden entdecken. Dann ertönte ein Lachen, ein helles, fröhliches Gebell. Ich drehte mich einmal um die eigene Achse, um herauszufinden, woher die Stimme kam.

»Hier!«

»Wo?«, fragte ich. Und dann: »Au!«, als mich etwas Hartes im Gesicht traf. Kurz darauf sauste etwas an meiner Nase vorbei.

»He! Hör auf«, sagte ich und wieder ertönte diese Terrier-Lache. Dann sah ich ihn, den gelben Kuli, der durch ein Loch im Zaun lugte. Jemand benutzte den Schaft als Blasrohr, um mich mit Papierkugeln zu beschießen. Und dieser Jemand schoss gut.

Ich ging zum Zaun, beugte mich hinunter und linste durch das Astloch. Sofort verspürte ich einen heftigen Tritt in den Hintern. Als ich herumfuhr, stand dort ein winziges Mädchen, grinste frech und gackerte. Ich kannte sie aus der Schule, wusste aber nicht, wie sie hieß. Wir hatten keinen gemeinsamen Unterricht.

»W-wo kommst du denn plötzlich her?« Es war, als hätte sie sich aus dem Nichts vor mir materialisiert.

»Ich bin Roxy Minto von nebenan. Und du bist Aidan!«

»Ähm … weiß ich. Aber woher weißt du das?«

Sie schnaubte verächtlich, um zu zeigen, für wie dämlich sie meine Frage hielt. »Was glaubst du denn? Meine Mum hat mit deiner gesprochen. Ich habe gesehen, wie die Umzugsleute eure Sachen reingetragen haben. Du hast ein rotes Fahrrad und einen weißen Schreibtisch in deinem Zimmer. Dreh dich mal um.«

»Warum?«

»Dreh dich einfach um.« Sie sagte es mit solcher Überzeugung, dass ich ihr gehorchte, obwohl ich einen weiteren Tritt in den Hintern befürchtete.

»Woher weißt du, dass das Fahrrad und der Schreibtisch mir gehören?«, fragte ich, doch es kam keine Antwort. Ich drehte mich wieder um … und Roxy war nicht mehr da. Einfach verschwunden.

»Roxy?« Eine Latte im Zaun klappte nach oben. Roxy steckte kichernd den Kopf durch das Loch. »Hier lang!«

Ich passte mit Ach und Krach durch. (Roxy war so winzig, dass sie mühelos hindurchschlüpfte.) Und dann stand ich in ihrem verwilderten Garten, mit kümmerlichen Büschen, Blumen und Unkraut und einer alten Plastikrutsche.

Roxy stiefelte über den ungemähten Rasen auf einen riesigen Busch zu, der am Ende des Gartens über den Zaun wucherte und dessen Ausläufer sich an einem Haselnussstrauch hochrankten. Sie schob einen Zweig beiseite und verschwand im Busch. Kurz darauf hörte ich ihre Stimme hinterm Zaun.

»Kommst du oder hast du Angst?«

Ich schob den Zweig beiseite. Verborgen im Busch befand sich ein Loch im Zaun, dahinter lag ein Pfad und dann kam der Wald. Vom Garten her nicht einsehbar stand am Zaun ein Container, so ein Fertigteil, wie man es von Baustellen kennt.

Roxy lehnte in der Tür. »Willkommen in meiner Garage!«, verkündete sie mit ihrer Quietschstimme. Ihr war anzumerken, wie stolz sie war. Innen griff sie nach einem Schalter, und ein Leuchtschild, das vom Dach hing, erwachte flackernd zum Leben. GARAGE war dort in pinken Buchstaben zu lesen, nur dass die ersten drei nicht mehr funktionierten, also stand dort nur AGE, aber ich muss zugeben, dass es trotzdem ziemlich cool war.

Im Container standen ein ramponierter Schreibtisch, ein wackliger Drehstuhl, zwei Holzhocker und ein winziger Kühlschrank in Form einer Bierdose. Auf dem Boden lag ein Teppich, die Glühbirne war mit einem Lampenschirm versehen und an den Fenstern hingen sogar Gardinen. Aus einem Riss im Kunststoffbezug eines sehr abgewetzten Sofas quoll gelber Schaumstoff. Ich lachte.

»Was ist denn so lustig? Gefällt es dir nicht?«

Insgeheim war ich schwer beeindruckt, aber das wollte ich nicht zugeben.

»Nicht übel«, meinte ich. »Wo … wo hast du denn das ganze Zeug her?«

Ich merkte, dass sie von meiner Reaktion enttäuscht war, und es tat mir sofort leid. »Das meiste habe ich vom Müll«, sagte sie. »Die Leute schmeißen so viel weg. Wiederverwertung, Recycling, bla, bla. Das Neonschild ist das Pièce de résistance!« Roxy sprach mit übertrieben französischem Akzent und wedelte theatralisch mit der Hand.

»Was hier alles reingeht!«, sagte ich, um meine Bemerkung von eben wettzumachen.

»Du meinst, es steckt mehr drin, als man von außen ahnt? Das sagt man auch über mich!« Roxy sprang auf einen Stuhl und öffnete den Kühlschrank. »Lust auf ein Bier?«

»Ich … ähm …«

»Hey, du glaubst mir doch nicht etwa jedes Wort? Ich mache doch nur Spaß.« Damit warf sie mir ein Trinkpäckchen mit Strohhalm zu. »Setz dich und leg mal die Beine hoch. Mi casa es su casa!«

Wir saßen eine Weile und schlürften unseren Saft. Auch wenn ich Roxy erst etwa sechs Minuten kannte, war ich überzeugt, dass ich noch nie jemandem wie ihr begegnet war.

Als ich meinte, sie wäre winzig, habe ich nicht übertrieben. Sie war so klein, dass ich sie vom Alter her auf sechs schätzen würde, nur ihrem Verhalten nach war sie älter, eher sechzehn. Ihre braune Haut glänzte wie frisch poliertes Holz, die Sommersprossen waren noch eine Spur dunkler und ihr krauses Haar war wie bei einem Jungen einfach kurz abgeschnitten. Aus ihren Klamotten ließ sich auch nichts ablesen: Shorts, Flip-Flops, fleckiges weißes T-Shirt, Jeansjacke. So liefen im Sommer alle rum. Nur dass Roxy mindestens elf sein musste, denn sie ging ja auf die Percy Academy.

Am auffälligsten fand ich aber ihr Lächeln. Manche Leute sehen von Natur aus griesgrämig aus. Dabei haben sie gar keine schlechte Laune, sondern vielleicht gerade einfach nichts zu lachen. Bei Dad ist das so. Ständig sagt jemand zu ihm: »Du ziehst ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter!«

Jedenfalls schien Roxy das genaue Gegenteil davon zu sein. Ihr Mund war zu einer Art Dauerlächeln verzogen, als würde sie die ganze Zeit in sich hineinlachen.

Roxy merkte, dass ich sie ansah. »Was glotzt du? Hast du noch nie einen feinen Pinkel gesehen?« Auf einmal klang sie wie einer aus London. Die Überraschung stand mir wohl ins Gesicht geschrieben, denn sie lachte. »Das ist aus Oliver

Ich muss ziemlich verständnislos geguckt haben.

»Oliver! Kennst du das Musical etwa nicht? Oliver Twist von Charles Dickens. Als Oliver dem Artful Dodger begegnet, sagt der das zu ihm. Wir proben das Stück in der Theater-AG. Ich spiele den Dodger. Ich habe das Kostüm und alles.« Sie deutete auf einen langen Samtmantel und einen Zylinder, die beide an einem Haken an der Wand hingen.

Ah, jetzt kapierte ich. »Wie alt bist du, Roxy?«

Wieder änderte sie die Stimme, diesmal mimte sie eine vornehme alte Dame. »Junger Mann, wie können Sie es wagen, eine Dame nach ihrem Alter zu fragen!« Meine neue Nachbarin war offenbar die geborene Schauspielerin. »Genauso alt wie du. Vier Wochen älter!«

»Du weißt, wann ich Geburtstag habe?«

Sie sprang vom Stuhl und öffnete die Tür vom Container.

»Es gibt so einiges, das ich über dich weiß, Aidan Henry Linklater. Und über deine Schwester Liberty, geboren am 5. Februar. Wirf das Trinkpäckchen in den Recyclingbehälter und komm. Ich will dir was zeigen.«

Ich folgte ihr über einen kaum erkennbaren Pfad in den Wald. Hätte ich doch nur da schon gewusst, was passieren würde, dann hätte ich mir vielleicht eine Menge Ärger ersparen können.

Aber dann wäre ich auch nie Alfie Monk begegnet.

7. Kapitel

Roxy stapfte vor mir durch den Wald, schob Zweige beiseite und hieb Brennnesseln mit einem Stock nieder. Nach etwa dreißig Metern verloren wir ihre »Garage« aus dem Blick.

»Du kennst den Weg, oder?«, fragte ich und versuchte, ganz unbekümmert zu klingen, als wäre es mir auch egal, wenn sie Nein sagte. Doch sie hörte mich wohl gar nicht.

Im Wald war es schattig, aber nicht still. Bisher war der Frühling ungewöhnlich warm und trocken gewesen, die Blätter und Zweige raschelten und knackten laut unter unseren Füßen. Als wir stehen blieben, hörte ich eine Biene und Roxys Atem. Wenn ich genau horchte, vernahm ich auch das tröstliche Brausen des Verkehrs auf der A19. Mir kam es zwar vor, als wären wir mitten in der Pampa, aber das waren wir zum Glück nicht.

Dann hielt Roxy an und hockte sich hin. »Da. Siehst du es?«

»Was?«

»Da, Mann! Bist du blind?«

Vor uns ging es steil bergab und dort unten zwischen silbergrauen Bäumen, etwa so weit entfernt, wie ich einen Stein werfen könnte, sah ich es: ein mit Moos bedecktes Schieferdach.

Ich schaute zu Roxy. Wollte sie mich auf den Arm nehmen? Ein Dach? Na und?

Roxy reagierte sofort. »Von Nahem sieht man’s noch besser. Komm!« Und damit tauchte sie zwischen den Bäumen ab. Nun schlug sie die Brennnesseln nicht mehr mit dem Stock aus dem Weg, sondern schlich sich an. Ab und zu sah sie sich um, ob ich ihr auch folgte. Dann blieb sie stehen.

Jetzt hatten wir einen besseren Blick auf das Dach. Es schien auf gleicher Höhe mit uns zu sein, was natürlich seltsam war, doch das lag bloß daran, dass wir uns auf einem Hang befanden, an dessen Fuß ein Steinhaus lag. Es war von dicken, dornigen Büschen umwachsen, die so dicht standen, als hätte sie jemand gepflanzt, um Eindringlinge abzuhalten.

»Vorsicht«, flüsterte Roxy und deutete auf eine Rolle rostigen Stacheldrahts, die in einem Busch hing und vollkommen zugewuchert war. Weiter unten wuchsen die Büsche weniger dicht, und es gab ein Schild, wie man es im Baumarkt oder so kaufen kann:

VORSICHT, BISSIGER HUND!

»Ähm … Roxy?«

Mit ihrer winzigen Hand machte sie eine abwehrende Geste. »Da ist kein Hund. Keine Sorge. Komm weiter!«

Ich folgte ihr wie ein gehorsamer Welpe.

Wir gelangten zu einer Lücke in der Stacheldrahtbuschabwehr. Wenn ich so klein wäre wie Roxy, wäre ich auch leicht durchgekommen. So blieb mir nichts anderes übrig, als flach auf dem Bauch ihren Flip-Flops folgend vorwärtszurobben.

Ihre Füße und Waden waren vollkommen zerkratzt und von Brennnesseln zerstochen, aber Roxy schien das gar nichts auszumachen.

Dann hörten die Ginsterbüsche auf, und wir waren von hohem Gras umgeben, das uns im Liegen noch verbarg. Da erst sah ich das Haus so richtig.

Der Hang fiel noch ein paar Meter weiter ab bis zu einer mannshohen Mauer. Es gab einen gepflasterten Hof mit einer runden gemauerten Feuerstelle. Von einem glimmenden Holzscheit stieg eine zarte Rauchfahne in die windstille Luft; Hühner pickten auf dem Boden herum. Neben der Feuerstelle stand ein rußgeschwärzter Kessel.

Das Haus selbst bestand aus Ziegelsteinen, die schon ganz verwittert waren. Die bemoosten Dachschindeln hatte ich ja schon von Weitem gesehen. Wir blickten auf die Rückseite des Hauses; die Hintertür war zweigeteilt, der obere Teil stand offen, aber hineinsehen konnte man nicht. Von der Tür und den Fenstern blätterte schon die Farbe ab, eigentlich wirkte alles an diesem Haus alt und abgenutzt.

»Du, Roxy …«

»Schhh!«

Ich senkte die Stimme. »Du, Roxy. Da wohnt jemand.«

»Ja!«, flüsterte sie aufgeregt.

»Und das ist was Besonderes?«

»Hhmm … ja!«

»Und warum genau? Menschen haben Häuser, weißt du. Darin wohnen sie.«

»Du hast ja keine Ahnung, wer hier wohnt.«

Roxy zögerte einen Moment und holte tief Luft, um mich auf die Folter zu spannen. Dann aber starrten wir beide zur Tür, hinter der sich etwas bewegte.

Eine Frau erschien und ließ den Blick über die Büsche und das Gras schweifen, in dem wir versteckt lagen. Instinktiv wichen wir zurück.

Ich hatte die Frau nur ganz kurz gesehen, bevor sie wieder im Haus verschwand. Wie alt mochte sie sein? Keine Ahnung. Langer Rock, Kopftuch und Sonnenbrille.

»Das war sie«, sagte Roxy.

»Das war wer?« Schon klar, das klingt jetzt, als wollte ich Roxy ärgern, indem ich so uninteressiert tat, aber ich verstand einfach nicht, was es mit dieser Frau auf sich hatte.

»Das war die Hexe.«

Und in dem Moment ließ ich alle Vorsicht außer Acht und sagte lauter, als ich sollte: »Oh, Roxy!«

Ich ärgerte mich wirklich. Und enttäuscht war ich auch.

Ich ärgerte mich über Roxy, weil ich ihretwegen im Gras lag, Angst hatte, von Brennnesseln zerstochen und vom Waldboden verdreckt war und wahrscheinlich mehr als ein Gesetz gebrochen hatte. Und wofür? Für nichts und wieder nichts. Und enttäuscht, na ja …

Ich hatte geglaubt, Roxy wäre anders. Eine, mit der es Spaß macht abzuhängen. Besonders jetzt, wo Spatch und Mo in Italien waren.

Und dann kommt sie mir ausgerechnet mit Hexen. Wenn ich Lust auf Hexen, Einhörner oder Tiere in Anziehsachen habe, brauche ich nur fünf Minuten mit meiner kleinen Schwester zu verbringen.

»Schhh! Sie ist wirklich eine Hexe, glaub mir. Sie ist bestimmt zweihundert Jahre alt und sie wohnt in dieser Hütte im Wald. Sie hat sogar eine schwarze Katze. Schau mal!«

Wie auf Knopfdruck erschien eine Katze, die zwar nicht ganz schwarz war, aber immerhin, und die direkt vor uns über die Mauer spazierte. Die Katze fixierte uns kurz mit ihren leuchtend gelben Augen, sprang dann elegant hinunter und maunzte laut, woraufhin ihr ein Huhn aus dem Weg flatterte.

»Hast du es schon mal probiert? Das Haus?«, fragte ich.

»Wie meinst du das?«

»Ist es aus Pfefferkuchen?«

Mit dem Blick, den Roxy mir zuwarf, hätte man ein Eis am Stiel schmelzen können, aber mir war das egal. Alles bloß alberne Fantasie.

»Ich gehe zurück«, sagte ich und erhob mich langsam.

»Runter mit dir!«, zischte Roxy. »Sonst sieht sie dich noch.«

»Und dann? Verwandelt sie mich in eine Kröte? Das Risiko gehe ich ein.«

Was nun geschah, war vielleicht meine Schuld. Schon möglich.

8. Kapitel

Als ich mich auf Hände und Knie aufstützte, zog mich Roxy am Kragen gewaltsam zurück zu Boden. Für eine so kleine Person hatte sie erstaunlich viel Kraft.

»Lass das«, zischte ich und versuchte, mich loszureißen. Dabei gab ich ihr einen Schubs, und sie rutschte den Abhang hinunter, fuchtelte wild mit den Händen, um Halt zu finden und nicht im Hof zu landen.

Wir sahen uns an, ihr stand die blanke Angst ins Gesicht geschrieben. Im nächsten Augenblick verschwand sie über den Rand der Böschung.

Es gab einen lauten Rums, aber sonst nichts, kein Geschrei, kein Gebrüll. Ich hatte Luft geholt, um nach ihr zu rufen, aber der Schrei blieb mir in der Kehle stecken, als die Hintertür aufging und die Hexe herausschoss.

»Al-vuh, Al-vuh!«, rief sie. Und dann noch etwas, was ich nicht verstand, weil es in einer Sprache war, die ich noch nie gehört hatte.

Französisch war es nicht. Wie Französisch klingt, weiß ich (ich bin Drittbester in der Klasse, en fait). Und Italienisch war es auch nicht, denn das spricht Spatch zu Hause mit seinem Vater.

Solche Worte hatte ich überhaupt noch nie gehört, so einen kehligen Singsang. Die Hexe – oder was auch immer – rannte direkt zu der Stelle, wo Roxy gelandet war. Dann schrie sie wieder in ihrer Sprache, als würde sie nach jemandem rufen.

Und da sah ich ihn.

Er stand in der Tür: ein blasser, schmaler, blonder Junge. Um den Hals hatte er eine Sonnenbrille hängen, die er aufsetzte, bevor er auf den Hof in die Sonne trat, wo Roxy lag.

War sie tot? Ich hatte schreckliche Angst, aber für wahrscheinlich hielt ich es nicht, auch wenn es ein ganz schöner Sturz war. Dann hörte ich sie stöhnen. Gott sei Dank.

Sollte ich aufstehen? Mich zu erkennen geben? Ich war in einem furchtbaren Dilemma, wusste einfach nicht, was ich tun sollte, als der Junge Roxy mühelos hochhob und ins Haus trug. Sie blutete am Kopf.

Beide Türhälften wurden zugeklappt und erst da holte ich wieder Luft.

ALFIE

9. Kapitel

Was ich über Lebensperlen weiß:

1. Sie enthalten eine Flüssigkeit, die mit dem eigenen Blut vermischt sofort alle Alterungsprozesse stoppt.

2. Wiederholt man diese Prozedur mit einer weiteren Lebensperle, altert man wieder.

Das ist es. Das ist alles, was ich über Lebensperlen weiß, und auch alles, was Mam weiß.

An meinen Vater kann ich mich leider kaum erinnern, auch wenn Mam mir alles über ihn erzählt hat. In tausend Jahren hat man eine Menge Zeit, Geschichten wieder und wieder zu hören, aber mir werden sie nie langweilig.

(Manchmal ist die Erinnerung an ihn fast greifbar. Ein verschwommenes Bild eines groß gewachsenen blonden Mannes, der Geruch von in Teer getunktem Schiffstau, Angst im Sturm … aber das sind alles diffuse Erinnerungen. Sie sind so dünn und durchscheinend, als hätten die ewigen Versuche, sie mir zu vergegenwärtigen, sie abgenutzt.)

Mein Da hieß Einar. Er war ein Soldat, der zum Handwerker geworden war, und kam aus Gotland in der Ostsee oder uster-shern, wie Mam sie in ihren Geschichten nennt.

Wo kamen diese Lebensperlen her? So genau wusste das niemand. Es gab eine Sage, die mir Mam gern im Schein des Feuers erzählte und die vom Hausdiener eines Alchemisten handelte, der einem gewaltigen Wirbelsturm im Nahen Osten trotzte. Dieser Diener trug einen Beutel Lebensperlen durch die Wüste in die Karpaten nach Osteuropa. Ob das stimmte?

Vermischte man die Flüssigkeit der Lebensperle mit dem eigenen Blut, alterte man nicht mehr. Es machte einen aber nicht unsterblich, man konnte nach wie vor im Kampf fallen, an einer Krankheit sterben oder wie Da bei einem Unfall.

Mam sagte, Da hätte die Lebensperlen in einem heldenhaften Kampf gegen Plünderer bekommen, die ein winziges Dorf überfallen hatten. Ich liebte diese Geschichte.

»Wie ein echter, edler Krieger«, sagte Mam, »ließ er einen der Räuber am Leben und im Tausch bekam er die Lebensperlen. Eine Perle verwendete er sofort für sich. Er schnitt sich zweimal in den Arm und goss die Flüssigkeit in die Wunden. Vier Lebensperlen blieben übrig. Der kühne Einar wusste natürlich, dass die Perlen so wertvoll waren, dass jeder, der sie besaß, in Gefahr schwebte. Für das ewige Leben würden die Menschen töten. Also sagte er niemandem etwas davon, bis er …«

»Dich traf!«, rief ich dann und Mam lächelte jedes Mal.

»Das stimmt. Aber zu der Zeit war er schon hundertvierzig Jahre alt. Er lebte im Land der Dänen und sprach ihre Sprache. Wir waren erst sechs Monate verheiratet, als ich erfuhr, dass ich mit dir schwanger war, Alve.«

(»Wir haben aus Liebe geheiratet«, wurde sie nicht müde zu sagen. »Damals war das unüblich.« Vor tausend Jahren rangierte Liebe ganz unten auf der Liste von Gründen, aus denen man heiratete, weit unter Familienbande, Reichtum und Sicherheit.)

Mam war arm, Da aber nicht, und viele Leute waren neidisch, als sie den gut aussehenden, reichen Einar von Gotland heiratete. Wenn Leute neidisch werden, fängt das Gerede an. Auf einmal ging es um Einars Alter, und dass es seltsam war, dass einige der Dorfältesten ihn schon aus ihrer Jugend kannten.

Konnte er einer dieser legendären Nimmertoten sein?

Und falls er ein Nimmertoter war, besaß er womöglich die livperler, die Lebensperlen?

Schon damals waren die Nimmertoten so selten, dass viele Leute sie für ein Lügengespinst hielten, von denen Reisende aus fremden Ländern erzählten. Genauso wie die Geschichten von einem riesigen Land im Süden, in dem es vierbeinige Geschöpfe mit enorm langen Hälsen gab, die auch noch die Blätter in den Baumkronen erreichten, dicke Pferde, die im Fluss lebten, und winzige, behaarte Wesen mit langen Schwänzen, die durch die Bäume im Wald turnten.

Keiner wusste, wie viel man davon glauben sollte. Vielleicht waren die Geschichten über die Nimmertoten auch nur Erfindungen der Reisenden?

Doch als meinem Vater die Gerüchte über sein langes Leben zu Ohren kamen, ging er kein Risiko ein. Mit seiner Frau und seinem Kind plante er ein neues Leben im Land der Angelsachsen, wo sie hoffentlich sicher sein würden. Und da hatte er auch recht … jedenfalls zum Teil.

Er rettete mich und Mam. Aber sich selbst rettete er nicht.

10. Kapitel

Als er mit seiner Frau Hilda und seinem kleinen Kind auf dem hölzernen Pier in Ribe an der dänischen Westküste stand, war Einar nicht wiederzuerkennen. Und genau das wollte er auch.

Er hatte sich den Bart abrasiert, das Haar geschnitten und sich wie ein Handwerker mit mittlerem Auskommen gekleidet. Nicht zu reich, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, nicht so arm, dass man fürchtete, er könne die Überfahrt nach Bernizien in Britannien nicht bezahlen.