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Bereits erschienen:

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eISBN 978-3-649-63104-0

www.coppenrath.de

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Inhalt

Mittagsschläfchen

Heimweh

Eisenketten

Bärlauch

Eisenschneider und Tanzbär

Ausgebüxt

Speisekammer-Tumult

Putzmitteldüfte

Unangenehmer Besuch

Blutriss

Kalte Granitplatten

Aufgeflogen

Über die Autorin

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Mittagsschläfchen

Mit einem tiefen Katerseufzer ließ Paulo sich auf seinem Lieblingsast nieder. Hier oben in der uralten Kastanie konnte er ganz ungestört ein wenig ruhen und hatte gleichzeitig den absoluten Überblick.

Ja, der Baum war nahezu perfekt. Vor ihm der Glückskleehof, hinter ihm das kleine Waldstück, das sich fast bis zur Bahnlinie erstreckte. Links die weitläufige Obstbaumwiese und rechts die nagelneue Offenstallanlage, in der die fünf Jahrmarktponys und seit Neuestem auch zwei Ziegen wohnten.

Natürlich mussten die Ponys längst nicht mehr tagein, tagaus im Ponykarussell ihre Runden drehen. Dafür hatten Feline, Tim, Dr. Ahrend und er, Paulo von Panama, gesorgt. Und deshalb waren sie genau genommen auch keine Jahrmarktponys mehr.

Doch Paulo nannte sie noch immer so. Nicht aus böser Absicht, einfach nur deshalb, weil er sich ihre Namen nicht merken konnte. Für so etwas war in einem Katerkopf kein Platz.

Die zwei neuen Ziegen hatten noch keine Namen. Dr. Ahrend, Felines Vater, hatte gemeint, sie würden eh nicht bleiben. Er wollte sie in fachkundigere Hände weitervermitteln. Nicht wie die Vorbesitzer, die es irgendwie cool fanden, zwei Ziegen im Garten zu haben – quasi als Rasenmäherersatz –, und die dann plötzlich feststellen mussten, dass Ziegen zwar den Rasen immer schön kurz hielten, aber darüber hinaus auch Arbeit machten. Also weg mit den Ziegen!

Härmjäh, Paulo konnte über die Dummheit der Menschen manchmal nur den Kopf schütteln.

Als Feline die beiden das erste Mal gesehen hatte, da war gleich wieder dieses verräterische Funkeln in ihren grünen Augen zu erkennen gewesen. Vollkommen klar, dass sie die Ziegen am liebsten behalten würde.

„Kommt überhaupt nicht infrage, Feline“, hatte Dr. Ahrend gemeint und ihr strengstens verboten, den beiden Namen zu geben. Schließlich wusste jeder, wenn man Tieren erst einmal Namen gab, dann gehörten sie automatisch schon zur Familie.

Paulo hoffte, dass Dr. Ahrend schnell ein neues Zuhause für die Ziegen fand, denn das ewige Meckmäh-mäh war echt nervig.

Doch gerade jetzt war es nahezu himmlisch ruhig auf dem Glückskleehof und in dem großen Garten. Die Ponys dösten in der Frühlingssonne, die Ziegen lagen Seite an Seite im Stroh vor dem Offenstall. Auf der großen Fußmatte vor der Eingangstür des schönen alten Fachwerkhauses hatte sich Dr. Ahrends Jack-Russel-Terrier Ludger zu einer Kugel zusammengerollt und schlief. Feline und Tim mussten noch die Schulbank drücken. Und während Dr. Ahrend raus zu Öko-Schweinebauer Kalle Friedrichs gefahren war, hockte Felines Mama in ihrem kleinen Büro neben dem Behandlungsraum und ordnete irgendwelche Unterlagen.

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Hier und da war das fröhliche Gezwitscher einiger Vögel zu hören, die aus ihrem südlichen Winterquartier zurückgekehrt waren. Jetzt, wo die Sonne langsam wieder an Kraft gewann und alles zu grünen und blühen begann.

Obwohl Paulo es schon so viele, viele Male miterlebt hatte, kam es ihm immer wieder aufs Neue wie ein kleines Wunder vor, wenn der Frühling zurückkehrte. Nach und nach wurde es wieder bunt. Die eben noch kraftlose Natur gewann allmählich an Farbe zurück. Helles Grün, sanftes Gelb, warmes Orange verdrängten zunehmend das trostlose Braun und Grau der letzten Monate. Der leichte Luftzug war zwar noch etwas frisch und teils auch ein wenig kühl, aber dennoch verhieß er Gutes.

Hach, es war schön, so schön, fand Paulo, rekelte sich selig und machte sich bereit für ein kleines Schläfchen …

„Gib mir sofort die Nuss zurück!“

„Warum sollte ich?“

„Weil ich sie zuerst entdeckt habe!“

„Stimmt nicht!“

„Stimmt doch!“

„Nein!“

„Doch!“

„Gibst du sie jetzt freiwillig oder soll ich sie mir holen?“

„Ha, versuch’s nur!“

Paulo öffnete unwillig die Augen. Auf dem Baum gegenüber stritten zwei Eichhörnchen um eine Nuss vom letzten Herbst. Und zwar so laut, dass der himmlisch schöne Moment – ZACK – zerstört war.

„Hey, könnt ihr vielleicht mal etwas leiser sein?“, schimpfte der Kater. „Ihr seid hier nämlich nicht allein, und außerdem ist es ziemlich unhöflich, wenn man in der Mittagszeit so einen Radau veranstaltet.“

Doch die beiden Eichhörnchen nahmen überhaupt keine Notiz von Paulo.

Das eine mit der Haselnuss, ein ziemlich struppiger Kerl mit einem weißen Fleck vor der Brust, huschte in Windeseile kopfüber den dicken Baumstamm hinunter, machte einen Satz über einen abgeknickten Ast und verharrte dann plötzlich abrupt in der Bewegung.

Erstaunt blickte es zu dem anderen Eichhörnchen hoch, das regungslos oben auf dem Ast hocken geblieben war.

„Was ist los? Warum verfolgst du mich nicht?“

„Ruhe!“, fauchte Paulo.

„Pöh, ist mir zu kindisch. Dann behalte doch deine doofe Nuss!“

„Ruuuhe!“, fauchte Paulo gleich noch einmal.

„Wenn du meinst, dann lasse ich sie mir jetzt schmecken!“, gab das struppige Eichhörnchen am Boden zurück.

„Tu, was du nicht lassen kannst. Interessiert mich üüüberhaupt nicht.“

„Das kannst du deiner Großmutter erzählen. Ich sehe doch, wie deine Nase zuckt. Du ärgerst dich gerade streifig.“

„RUUUHE!“, fauchte Paulo so laut und ärgerlich, dass die Ponys drüben auf der Koppel die Köpfe hoben. Die beiden Ziegen meckerten und Ludger sprang wie angestochen von der Fußmatte auf. Kläffend rannte er im Kreis auf dem Hof herum.

Typisch dummer Hund, dachte Paulo. Erst mal loskläffen und rumrennen, anstatt in Ruhe und mit Bedacht die Lage zu sondieren. Härmjäh, mit der friedlichen Hofidylle war es nun endgültig vorbei. Und schuld daran waren diese beiden nervigen Streithähne.

Was hatten die hier eigentlich zu suchen? Das war sein Garten. Sein Lieblingsplatz. Die wollten hier doch jetzt wohl nicht regelmäßig auftauchen und einen Höllenlärm veranstalten? Jetzt wo endlich – nach sooo langer Zeit – so etwas Ähnliches wie Frieden zwischen seinem Erzfeind Balthasar und ihm herrschte, wo Paulo nicht ständig auf der Hut sein musste … sollte er sich da zukünftig etwa mit zwei nervigen Eichhörnchen herumärgern müssen?

Niemals!

Paulo fasste einen schnellen Entschluss. Das Thema würde er auf der Stelle klären. Und zwar ein für alle Mal.

Mit gefährlich ausgefahrenen Krallen flog er von seinem Lieblingsast direkt auf das Eichhörnchen am Boden zu.

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Heimweh

Seite an Seite saßen Feline und Tim auf einer halbhohen Mauer und ließen die Beine baumeln. Die letzte Doppelstunde Englisch war ausgefallen.

Allerdings außerplanmäßig. Frau Froschmeier-Riedel war in der großen Pause plötzlich speiübel geworden und hatte eine halbe Ewigkeit in der Lehrertoilette zugebracht. Als sie endlich wieder rausgekommen war, hatte ihr Gesicht irgendwie grün ausgesehen. Danach war dem Schulleiter und den Kollegen klar, dass sie wohl besser keine Doppelstunde Englisch mehr unterrichten sollte.

Doch da war der Schulbus schon längst weg gewesen. Der nächste fuhr erst nach der sechsten Stunde.

„Dann gehen wir eben zu Fuß“, hatte Tim gemeint.

„Aber zu Fuß dauert es eine halbe Ewigkeit“, erwiderte Feline.

Tim hatte mit den Achseln gezuckt. „Lieber eine halbe Ewigkeit durch die Landschaft marschieren als eine Minute zu lange hier in der Schule herumhängen.“

Okay, das war ein Argument, fand Feline, und gemeinsam waren sie losgelaufen.

Doch der Weg zog sich wirklich wie Kaugummi. Inzwischen waren sie schon über eine Stunde unterwegs und noch immer war das Ortsschild von Kirchhorst nicht in Sichtweite gerückt. Dafür war ihnen diese Mauer am Weg aufgefallen, die sich perfekt für eine kleine Verschnaufpause anbot.

„In Bamberg brauchte ich nur fünf Minuten mit dem Rad und zehn zu Fuß zur Schule“, seufzte Feline.

Tims Mundwinkel wanderten nach unten. „Du vermisst dein altes Zuhause noch immer, nicht wahr?“

War das so? Feline hatte schon lange nicht mehr darüber nachgedacht. Aber jetzt wo Tim es ansprach. Hm … vermisste sie Bamberg? Ihre alte Schule, ihre alten Freunde, die schöne Wohnung, ihre Oma gleich um die Ecke, die vertrauten Straßen, die vielen Geschäfte, das trubelige Stadtleben und überhaupt, na ja, so wie Tim schon sagte: ihr altes Leben?

Schwierige Frage.

In Bamberg hatte Feline sich immer sehr wohl gefühlt. Außerdem gab es dort keine Frau Froschmeier-Riedel. Aber dafür einen Herrn Winde. Uargh, der bestimmt schlimmste Lehrer aller Zeiten.

Natürlich war es toll gewesen, dass ihre Oma ganz in der Nähe wohnte und Feline sie so oft sehen konnte, wie sie wollte – und das war sehr, sehr oft.

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Jetzt kam Oma Helga immer nur für ein paar Tage zu Besuch. Weihnachten war sie immerhin zwei Wochen geblieben, und in den Osterferien plante sie, erneut so lange bei ihnen auf dem Glückskleehof zu sein.

Ihre beiden besten Freundinnen Jette und Clara hatte Feline seit ihrem Wegzug aus Bamberg kein einziges Mal mehr gesehen. Am Anfang hatten sie ständig telefoniert und auch gemailt. Aber nach und nach war das dann irgendwie eingeschlafen.

Schon traurig, fand Feline. Nur, hm, wenn sie ehrlich war, vermisste sie die beiden inzwischen kaum noch. Außerdem hatte sie ja Tim. Und den Glückskleehof und Paulo, ihren ganz besonderen Kater.

„Ich vermisse den Eisladen bei uns in der Straße, da gab es nämlich das leckerste Waldmeistereis überhaupt. Und ich vermisse meine Oma Helga. Manchmal sogar so schrecklich, dass es wehtut. Aber neulich hat sie am Telefon gesagt, dass sie nur noch zwei Jahre arbeiten muss. Dann geht sie in Rente und wird uns ganz, ganz oft besuchen kommen. Viel häufiger als jetzt.“

„Das ist gut“, fand Tim und seine Mundwinkel hingen nicht mehr ganz so weit hinunter. Aber ein bisschen bekümmert guckte er noch immer aus der Wäsche, bemerkte Feline.

„Tim, mach dir mal keine Sorgen.“ Sie knuffte ihrem besten Freund in die Seite. „Wir gehen nicht zurück nach Bamberg.“

„Aber wenn du doch dein altes Zuhause noch immer so sehr vermisst …“

Feline schüttelte den Kopf. „Mach ich doch gar nicht. Ich fühle mich hier wohl. So richtig.“ Plötzlich grinste sie und schob noch hinterher: „Allerdings war der Weg vor unserem Haus in Bamberg ordentlich gepflastert und nicht so eine Stolpersteinpiste wie auf dem Glückskleehof.“

„Ja, das ist wirklich eine krasse Stolpersteinpiste.“ Tim grinste zurück. „Neulich bin ich mit dem Vorderrad so blöd hängen geblieben, dass ich über den Lenker gesegelt bin.“

„Was?“ Feline sah ihn mit großen Augen an. „Davon weiß ich ja gar nichts. Warum hast du es mir nicht erzählt?“

Tims Wangen verfärbten sich leicht rot.

„War mir peinlich“, gab er murmelnd zu und schaute dann schnell auf seine Hände. Ganz so, als hätte er sie gerade erst entdeckt.

„Blödsinn!“, rief Feline und knuffte ihm gleich noch mal in die Seite. „Vor mir muss dir nichts peinlich sein, Tim! Wir sind doch Freunde.“

Tim rieb sich die Nase. „Ja, klar. Eigentlich ist mir so was auch nicht peinlich. Aber … na ja, ich hatte das Gefühl, also, dein Kater hat oben auf den Traktorreifen gehockt, und es kam mir so vor, als würde er mich auslachen.“

Feline zuckte unmerklich zusammen. „Unsinn!“, widersprach sie. „So was würde Paulo niemals machen. Er ist doch nicht schadenfroh. Und außerdem können Katzen nicht lachen.“

Tim musterte sie nachdenklich und Feline wechselte lieber schnell das Thema. In letzter Zeit hatte er nämlich immer häufiger versucht, ihr irgendetwas über ihre ganz besondere Beziehung zu Paulo zu entlocken. Tim hatte längst erkannt, dass Paulo nicht einfach nur Felines Kater war. Er ahnte, dass es da noch etwas gab, etwas … Verrücktes?

Das ein oder andere Mal war Feline beinahe in Versuchung geraten, Tim einzuweihen. Ihm zu erzählen, dass sie mit Paulo sprechen konnte. Und auch, dass er quasi ihr Dolmetscher war. Durch ihn verstand Feline die anderen Tiere und war in der Lage, ihrem Papa, dem Tierarzt, ein paar wertvolle Tipps zu geben. Zum Beispiel bei der Behandlung eines vierbeinigen Patienten.

Natürlich klappte das nicht immer. Wenn ein Tier nichts von sich erzählen wollte – so wie es mit Erasmus, dem Altdeutschen Schäferhund, gewesen war, der inzwischen bei Tim und seiner Familie ein neues Zuhause gefunden hatte –, ja, dann konnte auch Feline dem Tier in Not nur schwer helfen. Doch aufgeben, nein, das war etwas, das Feline nie tat. Zumindest nicht, wenn es um ein Tier ging.

„Was nun also Bamberg betrifft, es war sehr schön dort, aber hier auf dem Glückskleehof ist es noch viel, viel schöner.“ Feline sprang von der Mauer. „Und wer weiß, vielleicht kann ich meine Oma ja überreden, dass sie ganz hierherzieht. Ohne uns ist es in Bamberg eh viiiel zu langweilig.“

Tim nickte. „Stimmt. Langweilig wird es einem mit dir niemals.“

„Können wir dann jetzt endlich weitergehen, du Trantüte, oder wolltest du hier Wurzeln schlagen?“ Keck zwinkerte sie Tim zu, der daraufhin einen besonders weiten Sprung von der Mauer hinlegte.

„Trantüte? Na warte!“, drohte er ihr spielerisch und rannte hinter Feline her, die, kaum dass er mit beiden Füßen auf dem Asphalt aufkam, losgestürmt war.