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Für Inken,
meine kleine Schauspielerin

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Inhalt

Erster Teil Die Straße ans Ende der Welt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

Zweiter Teil Das Bildnis der Schlafenden

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

Dritter Teil Das Leben ist ein Traum

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

DANKEDANKEDANKE

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Erster Teil

Die Straße ans Ende der Welt

Leb so, wie du es für richtig hältst,
und geh, wohin dein Herz dich führt.
Das Leben ist ein Theaterstück
ohne vorherige Theaterproben.
Darum: Singe, lache, tanze und liebe!
Und lebe jeden einzelnen Augenblick
deines Lebens, bevor der Vorhang fällt
und das Theaterstück ohne Applaus zu Ende geht
.

Charlie Chaplin

So viel Schnee wie in diesem Winter hatte das Land schon lange nicht mehr gesehen. Seit Tagen war er unablässig gefallen und hatte Felder, Tannen und Dächer unter sich begraben, sodass es aussah, als hätte die Erde sich in Wolken gewickelt. Die Menschen aßen die Vorräte in ihren Kellern auf, denn die Wege waren unter dem Schnee verloren gegangen, und manch einer konnte die Tür nicht mehr öffnen, um das Haus zu verlassen. Das Vieh schrie in den Ställen.

Und dann hatte es abrupt aufgehört zu schneien und die Kälte war über die Felder gekrochen, eine klirrende Kälte, klar und hart wie der weite Himmel. Unter der weißen Decke knackte das Eis, und in der Dunkelheit funkelte das Land, als sei das Mondlicht selbst gefroren und auf die Erde hinabgefallen in Milliarden und Milliarden feinster Brillanten.

Es war in der letzten der großen Raunächte, dieser dunklen Nächte vor dem Dreikönigstag, in denen die Menschen zusammenrücken und Zauber und Zukunft in der Luft liegen. Die Nacht atmete und lauschte, ja, ich weiß noch, wie sehr sie lauschte in die große Stille hinein. Weiß war die Welt, weiß und schwarz, wie das Gute und das Böse in jeder Kreatur …

Und endlich! Ein leises Knirschen. Leichte Schritte im Wald, der von oben aussah, als hülle das Mondlicht ihn ein und nichts dringe je in sein dunkles Inneres.

Eine kleine Gestalt löste sich nun aus dem Schatten der Bäume, um ihren eigenen kleinen Schatten vor sich her zu schieben. Es war ein Kind, ob ein Junge oder ein Mädchen, vermochte ich nicht zu sagen. Tapfer wühlte es sich durch die erste Schneewehe, sie ging ihm bis zum Bauch.

So ein kleines Kind.

Die Sterne sahen zu.

Als es sich durch die zweite Wehe quälte, da sah ich es: Ein zweiter Schatten trat in das Mondlicht, ein größerer diesmal. Zielstrebig folgte er der Spur des Kindes. Und in dem erbarmungslosen Frost glühten und froren meine Glieder, als würden Sonne und Mond gleichzeitig scheinen – weißer Tag, schwarze Nacht.

All diese Erinnerungen … wie offene Wunden trug ich sie in mir, so lange Zeit. Und ich hatte die Hoffnung, dass sie je heilen würden, schon aufgegeben. Bis eines Tages, an einem schwülen Sommertag …

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1. Kapitel

An einem schwülen Sommertag marschierten drei Gestalten über die dunstigen Höhen des hügeligen Landes: ein Mädchen mit abgewetzten Wanderstiefeln, einem riesigen, gestreiften Herrenhemd und kurzen dunklen Haaren – die aussahen, als hätte sie jemand sehr Kleines mit einer Bastelschere geschnitten (was im Übrigen der Wahrheit entsprach) und als hätte derjenige noch nie etwas von „Frisur“ gehört (was auch stimmte). Außerdem ein Mann mit einem graubraunen, dünnen Zopf, einer erstaunlich langen Nase und einem ausgesprochen abwesenden Gesichtsausdruck. Und schließlich ein kleiner Junge mit sonnigen Locken und weißen Turnschuhen, auf die jemand mit Edding Adidas-Streifen gemalt hatte (derselbe, der nicht so gut mit Bastelscheren umgehen konnte).

Während der Mann und der kleine Junge damit beschäftigt waren, beim Gehen mit den Füßen möglichst viel Staub aufzuwirbeln, hing das Mädchen zurück. Es sah müde und durstig aus.

„Wie … weit … noch?“, hätte Merle, denn so hieß das Mädchen, am liebsten gerufen. Aber sie war ja kein kleines Kind mehr, so wie ihr Bruder. Die Luft schmeckte nach reifem Korn und Merle rieb sich zum wiederholten Male die Augen.

„Könnt ihr vielleicht mal die Füße hochheben?“ Nicht dass ihr Rufen irgendetwas änderte; Papa und Felix hörten wie immer einfach nicht zu. Staub störte Papa nicht, er spürte ihn nicht einmal. Hitze übrigens auch nicht. Mückenstiche? Fehlanzeige. Manchmal fragte sich Merle, wie ihr Vater es geschafft hatte, erwachsen zu werden. Er lebte in seinem Kopf – und dieser Kopf brütete ständig irgendwelche Ideen aus, von denen manche nur gefährlich waren. Andere dafür sehr gefährlich. Kurz: Freundliche Menschen nannten ihn einen Abenteurer.

Jetzt blieb Felix stehen. Er bückte sich so tief, dass seine Nase fast in den Pflanzen am Wegrand verschwand, und zuckte gleich darauf quietschend hoch. Merle grinste. Springkraut. Die ersten Schoten waren jetzt reif und explodierten unter den Fingern, wenn man sie berührte.

„Papa, ich muss mal eben, okay?“, rief sie und schlug sich, ohne eine Antwort abzuwarten, in die Büsche. Haselnuss, Weißdorn und Schlehe – sie versuchte, sich an den Dornen vorbeizudrücken, und wischte sich mit dem Unterarm das verklebte Haar aus der Stirn.

Puuh, es war so schwül!

Merle nestelte am Knopf ihrer Hose. Fliegen, einzelne Hummeln und Bienen summten über die Weiden. Am Horizont quollen die Wolken zu gigantischen Marshmallow-Gebirgen auf und hügelwärts schraubten sich ein paar Lerchen in die Luft. Mit den Augen suchte Merle die Weide ab. War die dicke Kuh dahinten etwa … ein … Stier?

Ihre Finger fielen in Galopp.

Merle liebte Tiere, aber vor Stieren hatte sie Respekt, besonders, wenn sich zwischen ihr und so einem Fleischklops nur ein bisschen Stacheldraht und ein paar klägliche Zaunpfähle befanden. Doch da …

… sah sie die Burg.

Das Land warf hier weite, immer höher ansteigende Wellen, und die Burg thronte in der Ferne wie ein Steinadler, bereit, sich auf seine Beute zu stürzen. In ihrer Mitte ragte ein Turm auf und rechts und links breitete sich die Burgmauer aus wie zwei gespannte dunkle Flügel. Merle hielt den Atem an.

Das musste sie sein! Mamas Burg!

So viele Geschichten hatte sie über die Burg gehört, erst von Mama und dann – später – von Papa …

Über dem Hügel kochten die Wolken in allen Grau- und Lilatönen, verdeckten die trübe Sonne und schoben ein dumpfes Grummeln vor sich her.

Merle zuckte zusammen. Ein Gewitter! Sie mussten im Tal sein, bevor es sie erreichte, sonst konnte Papas Kopf etwas erleben, und ihrer übrigens auch, schließlich waren sie hier die höchsten Punkte weit und breit: eine fette Einladung für Blitze.

Fertig! Sie schlug zwei blutgierige Mücken von ihrem Unterarm und rannte los, Papa und Felix hinterher. Nicht mehr lang, dann würde sie die Mauern der Burg endlich von innen sehen, um die herum Mama so viele Geschichten gesponnen hatte, abends, vor langer Zeit, im Schein von Merles Tigerenten-Nachttischlampe.

Merle hatte sich abgewöhnt, beim Gedanken an Mama zu weinen – es war einfach zu lange her: Mamas Krankheit, Papas graues Gesicht, seine roten Augen … Felix war noch fast ein Baby gewesen. Merle schüttelte kurz den Kopf, wie jedes Mal, wenn sie an Mama dachte. Es war ein Tick von ihr geworden, den sie gar nicht mehr bemerkte, als ob sie die Gedanken an ihre Mutter aus ihrem Gedächtnis schütteln wollte.

Hier jedenfalls war Mama Kind gewesen, auf diesen grünen Hügeln, ganz in der Nähe der Burg. Und hier hatte sie sich das erste Mal ein Bein gebrochen, als sie versucht hatte, die Burgmauer hinaufzuklettern – und abgestürzt war. Aber Mama war zäh gewesen. Sie hatte das Klettern gelernt. Und kurz bevor sie mit ihrer Familie weggezogen war, hatte sie es endlich geschafft. Nur um festzustellen, dass das erste Fenster, das sie erreichte, in das Schlafzimmer des Burggrafen führte … mit einem wunderbaren Blick auf einen wütenden Grafen.

Einen sehr wütenden Grafen.

Mama hatte die Geschichte oft erzählt, und jedes Mal war der Graf wütender geworden, Merle musste grinsen, als die Schlehendornen ihr ein weiteres Mal die Arme zerkratzten.

Der Weg war leer. Merle rannte schneller. Wo waren die anderen, verflixt noch mal? Sie konnten doch nicht …

„Merle!“

Da, uff! Sie warteten an einer Wegkreuzung, halb verdeckt vom Mais. „Los, los! Mit achtundsiebzigprozentiger Wahrscheinlichkeit zieht das Gewitter direkt hier herüber!“, rief ihr Vater begeistert.

Echt?! Umwelt an Papa, Umwelt an Papa: „He, ich werde gleich gefährlich!“ Papa an Umwelt: „Wie meinst du das genau? Kannst du mal Wahrscheinlichkeiten nennen?“

Das Gemurmel am Himmel ging immer deutlicher in ein Gerumpel über, das klang, als ob jemand Möbelstücke umwarf. Die achtundsiebzig Prozent Wahrscheinlichkeit wurden plötzlich sehr wahrscheinlich.

„Hier lang geht es direkt ins Tal hinunter!“, rief Papa. Und sobald Merle ihn und Felix erreicht hatte, stürmten sie alle drei den Weg hinab, dass die Rucksäcke auf ihren Rücken hüpften. Donner begleitete sie wie Musik. Felix, der große Angst vor Gewitter hatte („dann geht das Herz kaputt!“), rannte wie ein Hase. Sturmstöße peitschten den Mais und erste verirrte Tropfen trafen Merles heiße Stirn.

Auf halbem Weg wandte sie den Kopf, um ein letztes Mal zur Hügelkuppe hinaufzusehen. Eine einsame Krähe taumelte weit hinten über der Burg im Sturm – warum nur hatte sie sich nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht? Und dann schlugen lautlos, weil der Sturm alle Geräusche mit sich fortriss, zwei Blitze in den Burgturm ein, und Merle schloss geblendet die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war die Krähe verschwunden. Dafür aber wanderte der Regen wie ein trauriger Himmelsschleier über die Hügel, und Merle hoffte, dass wenigstens die altersschwachen Rucksäcke dicht hielten, wenn ihre Klamotten schon nicht trocken blieben.

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„Das ist wirklich nett, dass Sie uns mitgenommen haben“, sagte Papa jetzt bestimmt schon zum dritten Mal.

Und schon zum dritten Mal nickte der riesige alte Mann hinter dem Steuer. Sein Bart reichte ihm fast bis zur Brust. Er schien nicht sehr gesprächig zu sein – im Gegensatz zu Papa.

Merle auf der zerschlissenen Rückbank stupste Felix an und beide kicherten leise. Zu ihren Füßen hatten sich Pfützen gebildet, während es draußen nur noch tröpfelte. Über das Tal spannte sich ein herrlicher Regenbogen, und die Straße hinter ihnen glänzte in den ersten frisch gewaschenen Sonnenstrahlen, als sei sie aus purem Gold.

„Papa, sieh mal“, sagte Merle, „die Straße zum Ende des Regenbogens!“

Der alte Mann drehte sich zu ihr um und zum ersten Mal lächelte er; jedenfalls soweit man das durch seinen Bart beurteilen konnte.

„Jede Straße führt ans Ende der Welt.“

„Das klingt total schön“, sagte Merle überrascht.

Jetzt lachte der Alte. „Das ist nicht von mir, das ist von Friedrich Schiller – meinem Namenspatron.“

Merles Augen wurden weit. „Heißen Sie echt Friedrich Schiller?“

Der alte Mann nickte nur. „Hat mir nicht viel geholfen“, brummelte er. Und dann: „Auf der Burg gibt es diesen Sommer wieder so einen Theater-…“, er kratzte sich mit der einen Hand am Kopf, wobei er die andere glücklicherweise am Lenkrad ließ, „…workshop.“

Merle stülpte die Lippen nach innen, damit man ihr Grinsen nicht sah. Wörkschopp – der alte Mann konnte wohl kein Englisch.

„Da habe ich die Kinder angemeldet“, stieß Papa auf dem Beifahrersitz aus, während er sich an der Türverkleidung festhielt, denn die Straße kletterte jetzt in steilen Serpentinen den Berg hinauf, und Herr Schiller fuhr sein altes Auto sehr sportlich.

Merle seufzte innerlich. Ja, da hatte Papa sie und Felix in der Tat angemeldet, obwohl Merle auf Theaterspielen ungefähr so viel Lust hatte wie auf Balletttanzen: nämlich gar keine. Sie würde auf der Bühne wahrscheinlich kein Wort herausbringen vor Verlegenheit. Aber Felix hatte diesen „Wörkschopp“ auf dem Sommerfest der Grundschule gewonnen, bei dem großen Glücksrad, das dort jedes Jahr aufgebaut wurde; und allein durfte er nicht hinfahren, er war mit seinen fast sieben Jahren einfach noch zu klein, fand Papa. Deshalb hatte er sein gesamtes Geld zusammengekratzt, damit Merle mitfahren konnte, „in das Land deiner Vorväter“, hatte er zufrieden ausgerufen. Ihr reichte ein Vorvater. Und außerdem war es ja wohl das Dorf ihrer Mutter.

„Gibt es eigentlich den alten Grafen noch?“, fragte Papa jetzt. Und machte „Uff“ in der nächsten Kurve, als er an die Tür gepresst wurde und Merle einen wunderbaren Blick über das ganze goldene Tal hatte.

„Hm“, brummte Friedrich Schiller.

„Tatsächlich?“, fragte Papa erschreckt und Merle fühlte tief in sich die Vorfreude wachsen.

Als sie auf dem Parkplatz vor der Burg ankamen, war selbst Merles abgeschnittene Jeans wieder nahezu trocken.

„Vielen Dank“, sagte Papa zum niemand-wusstemehr-wievielten Male. „Wohnen Sie eigentlich in der Nähe?“

Der Alte nickte nur. Doch als Papa erst sich und dann Felix die Tür öffnete und Merle nach ihrem feuchten Rucksack angelte, spürte sie plötzlich, wie jemand sie am Ärmel festhielt. Sie blickte auf und sah in zwei wasserblaue Augen mit erstaunlich dunklen Augenbrauen darüber.

„Und wenn du den Eindruck hast, dass das Leben Theater ist, dann such dir eine Rolle aus, die dir so richtig Spaß macht“, flüsterte der Alte. Er lächelte.

Merle zog verlegen die Schultern hoch.

„William Shakespeare“, sagte Friedrich Schiller, aber anstatt sie endlich loszulassen, ruhte sein Blick auf dem kleinen Muttermal in ihrem linken Augenwinkel.

Merle kannte diesen Blick, es war ja schließlich auch kein sehr alltägliches Mal. Ein paar winzige Äderchen hatten sich entschlossen, sich dort zu treffen und einen kleinen, fliegenden Vogel zu formen.

„Das Muttermal hab ich seit meiner Geburt“, erklärte sie, bevor er fragen konnte, und endlich gab der Alte sie frei.

Erleichtert riss Merle die Autotür auf, sprang ins Freie und schlüpfte in die Rucksackträger. Der Jeep röhrte auf, und Merle spürte Steinchen an ihre nackten Unterschenkel spritzen, als er wendete, um die Straße wieder hinabzufahren. Sie sah dem Wagen nicht nach. Stattdessen wanderte ihr Blick an der hoch aufragenden, mit Efeu und wildem Wein bewachsenen Feldsteinmauer hinauf, über der das Fachwerk der Burg begann. In ihrem Magen kribbelte es. Mannmann, da war Mama hinaufgeklettert?

„Untersteh dich, ihr das nachzumachen!“, flüsterte Papa ihr zu. Merle grinste ihn nur an und zurrte den Rucksack fester.

Die Burg sah viel freundlicher aus als vorhin von der Hügelkuppe aus, im Schatten des Gewitters. Etwas den Berg hinab, unterhalb des Parkplatzes, drängelten sich hutzelige Fachwerkhäuschen wie ein Haufen Küken in der Nähe der Glucke.

„Guck mal, da gibt es bestimmt Süßigkeiten!“ Felix zog Merle am Ärmel. Sie sah hinüber: Irgendwo zwischen den Häusern war die Markise eines Kioskes zu erkennen. Puh, der Schokoladennachschub war gerettet! Die meisten Ferienfreizeiten, die Merle kannte, stellten eindeutig nicht genügend Schokolade zur Verfügung, vor allem nicht genug von ihrer Lieblingsschokolade.

Sie sah sich um und atmete zufrieden ein: so viel Natur! Ein Eichhörnchen rannte über den Parkplatz, schwang sich in einen Haselnussbusch und sprang von dort in die Eiche, die den Platz beschattete. Etwas hügelaufwärts fing der Wald an, sich über die Bergkuppen auszubreiten. Merle würde Vögel bestimmen können, und vielleicht wuchs hier auch diese seltene Orchidee, von der Papa gesprochen hatte: Frauenschuh.

Zehn Tage in einer uralten Burg lagen vor ihr – in Mamas mittelalterlicher Burg! Mit – offensichtlich – Mamas mittelalterlichem Grafen …

„Da werdet ihr wenig zu lachen haben“, murmelte Papa.

Merle grinste. „Kommt darauf an, ob die anderen hier nett sind.“

Und Papa nickte nachdenklich. „Auch wieder.“

2. Kapitel

Nicht allzu weit entfernt zog Friedrich Schiller die Handbremse an und stieg aus. Weil es sich um ein altes Auto mit einer ebenfalls in die Jahre gekommenen Handbremse handelte, legte er sorgfältig zwei Holzkeile unter die Hinterräder, denn die Straße war abschüssig. Die Glastür klemmte wie immer, und die Ladenklingel bimmelte hektisch, als er den dunklen Raum betrat. Nach zwei Schritten blieb er stehen, die Tür fiel hinter ihm wieder ins Schloss, und der alte Mann verharrte in sich gekehrt, als habe er etwas vergessen. Im Hintergrund, aus einem Zimmer irgendwo in der Tiefe des Hauses, tickte eine Uhr und es roch geheimnisvoll nach warmem Karamell.

Der Schrei traf ihn unvorbereitet, wie so oft, sodass er einen richtigen Hüpfer machte.

„WO WARST DU?! WO? WO? WO?“

Tief atmete Friedrich aus und wartete, bis sein Herz sich etwas beruhigte. Dann strich er sich langsam durch seinen Bart. „Im Tal“, sagte er.

„WO?“

„Einkaufen. Und ich habe eine Familie wieder mit hinaufgenommen. Weißt du, irgendetwas beunruhigt mich dabei.“

Diesmal blieb es still im Raum.

„Willst du es gar nicht wissen? Du nimmst doch sonst an allem Anteil.“

Keine Reaktion.

Friedrich schüttelte den Kopf. „Ich sage es dir trotzdem“, verkündete er. „Es ist das Mädchen. Sie hat … sie ist … Ich weiß nicht.“ Er seufzte. „Sie erinnert mich an etwas. Nur: an was?“

„DU ALTER MANN!“

Friedrich runzelte die Stirn. „Musst du mir das immer wieder ins Gedächtnis rufen?“, grummelte er.

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Um die Burg zog sich ein ausgetrockneter Graben voller Brennnesseln, Disteln und Pusteblumen, eine Steinbrücke führte hinüber, und gleich dahinter wölbte sich das Tor, durch das Papa und Felix jetzt hindurchschritten. Denn durch ein solches uraltes Burgtor kann man nur schreiten, einfaches Gehen ist ausgeschlossen.

Merle blieb davor stehen. Genau über dem höchsten Punkt des Bogens stand etwas in den Putz eingraviert – in einer verschnörkelten Schrift, Merle konnte nur ein einzelnes Wort erkennen: „Gesmaehet“ oder so, der Rest blieb unter dem Efeu, der überall wucherte, verborgen.

„Klingt wie Elbensprache“, sagte sie überrascht. „Sieht auch aus wie Elbenschrift …“

Aber da ihr niemand zuhörte, weil Papa und Felix schon den Hof erreicht hatten, lief sie ihnen hinterher. Vielleicht konnte sie es ja später einmal entziffern.

Im Burghof war ein Tisch aufgebaut, hinter dem ein junger Mann mit einem fusseligen blonden Bart und eine junge Frau mit Septumpiercing und Textmarkeraugenbrauen saßen und Formulare ausfüllten. Bestimmt die Betreuer. Merle musterte sie: Sie sahen ganz brauchbar aus. Also nicht, als würden sie nachts die Flure mit Horrorclownmasken entlangtigern, um zu verhindern, dass jemand sich in ein falsches Zimmer verirrte. Oder morgens früh um sieben „The evil that men do“ von Iron Maiden voll aufdrehen, um anschließend beim Frühstück „Hallo, ihr Lieben, wollt ihr wissen, was der Plan für heute ist?“ zu jauchzen. So wie die Betreuer auf der letzten Ferienfreizeit.

„Ich glaube, ihr müsst euch hier registrieren lassen.“

„Nee, echt?“ Merle rollte mit den Augen in Papas Richtung. Wer von ihnen besuchte hier eigentlich regelmäßig Ferienfreizeiten? Jedenfalls die kostenlosen von der Kirche oder die von der „Ferienmeise“, dem Sommerferienprogramm der Arbeiterwohlfahrt in ihrer Stadt.

Aber sie stellte sich an den Tisch, mit Felix an der Hand, während Papa sich an die Mauer lehnte und mit einem halben Lächeln um die Lippen den Burghof betrachtete.

„Merle, meinst du, in dem Turm da kann man auch schlafen?“, flüsterte ihr kleiner Bruder und hüpfte neben ihr auf und nieder.

Merle sah zum Turm hinauf. Ganz oben, auf seiner Spitze, dunkel gegen die immer noch majestätischen Wolken, saß ein Vogel, vielleicht eine Krähe. Merle zuckte die Schultern. „Pff, schon möglich. Oder es ist bloß das Treppenhaus.“

Als ihr Blick die Mauer wieder hinabgewandert war, traf er auf den eines Jungen, der seinen Kopf gerade aus einer der Türen steckte. Wahrscheinlich wollte er irgendjemanden irgendetwas fragen, aber stattdessen sah er sie an und Merle senkte schnell den Blick.

Was für ein komischer Typ!

Als sie sich traute, wieder hinzusehen, war der Junge verschwunden.

„Und ihr?“ Das Mädchen mit dem Nasenring hatte blonde Haare, aber braune Augen. Bei den Kindern vor ihnen hatte sie sie noch mit der Hand beschirmt; jetzt war das nicht mehr nötig, denn der Burghof lag im Schatten.

„Wie heißt ihr?“, fragte sie, senkte den Kopf und fuhr mit dem Zeigefinger die Liste entlang. „Seid ihr Wladimir Puschkin oder Merle und Felix Paulsen?“ Sie grinste über ihren eigenen Witz und machte Haken an ihre Namen. „Ihr könnt eure Koffer schon mal raufbringen. Da drüben steht Sebastian, der weist euch gleich eure Räume zu. Am besten verabschiedet ihr euch jetzt von euren Eltern.“

Sie nickte zu dem Typen mit dem kläglichen Bart hinüber, der jetzt neben Papa stand und sich offensichtlich bestens mit ihm unterhielt.

„Ach, und ich heiße Mareike“, fügte sie hinzu und lächelte, und Merle sah, dass an ihrem linken Vorderzahn ein kleines Stück fehlte.

Der Abschied von Papa ging schnell, eine Umarmung, ein Kuss, Papa zeigte Felix eine Eidechse an der Mauer – schon lief er in seinem immer etwas schlingernden Schritt durch das Tor hinaus. Merle sah ihm nach. Hoffentlich würde er wieder jemanden finden, der ihn zurück ins Tal mitnahm, sonst hatte er eine weitere ausgiebige Wanderung vor sich …

Wenig später stiegen sie die Stufen in den Schlaftrakt hinauf, durch ein hallendes Treppenhaus, das aussah wie das im Einwohnermeldeamt, in dem sie gewesen waren, nachdem sie in die viel kleinere Wohnung umgezogen waren. Als Mama nicht mehr bei ihnen war … Merle ließ ihre Finger über den groben Stein der Wände gleiten, der sich anfühlte, als niste darin die träge Kälte aus vielen Jahrhunderten. Es roch so sehr nach Essen, dass ihr die Spucke im Mund zusammenlief.

Sebastian brachte Felix in ein Jungenzimmer, wo er schnell und fröhlich verschwand. Merle wunderte sich immer wieder, wie sehr er sich an Papa klammern konnte und wie unbekümmert er trotzdem war, wenn Papa wieder fortgegangen war.

Sie selbst kam in ein Mädchenzimmer, ein Stockwerk höher. Es war das letzte im Gang, die Fenster führten zum Tal hinaus, daher war es sonnig und … leer, puh. Die anderen waren wohl schon in den Speisesaal gegangen, der sich laut Sebastian im ersten Stock befand. Die Betten waren natürlich Etagenbetten, und zwar zwei, aus hellem Holz und mit harten Matratzen und natürlich waren die oberen Betten schon belegt. Ein pinker Schlafanzug lag sorgfältig ausgebreitet auf dem einen, auf dem anderen war der gesamte Inhalt eines Kulturbeutels verstreut mit deutlichem Schwerpunkt auf Mascara und Deospray.

In Merles Bauch bildete sich ein Knoten.

Okay, man konnte es nie wissen, man sollte keine Vorurteile haben – die konnten ja trotzdem nett sein. Sie warf ihren Rucksack auf das untere Bett am Fenster. Ihr Magen knurrte so laut, dass sie froh war, allein zu sein. Sie feuerte ihre Wanderstiefel in eine Zimmerecke und grub im Rucksack nach ihren Flipflops. Sie passten zwar weder in der Schuhgröße (neununddreißig und vierzig) noch im Design zusammen (einer zeigte Hochhäuser in New York, der andere Palmen) – was daran lag, dass sie aus zwei unterschiedlichen Paaren stammten –, aber immerhin waren es zwei. Und dann rannte sie laut klatschend die Treppe wieder hinunter, dorthin, wo es so wunderbar nach Essen roch.

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Wenn man Burgen gut fand, haute einen der Speisesaal einfach aus den Flipflops. Merle bremste an der Schwelle ab und blieb gebannt stehen. Der Saal war lang gestreckt und hoch wie eine Kirche – mit Fenstern aus buntem Glas, die weit offen standen und schon die allererste Abendkühle hineinließen. Die Decke hoch über ihr lag im Schatten, dennoch konnte Merle erkennen, dass ein Kreuzgewölbe sie trug, über und über verziert. Gemalter Efeu und Blauregen rankten sich die Gewölberippen hinauf und in den Kappen wuchs dichter, dunkler Wald. Hinter und zwischen den Bäumen entdeckte Merle nach längerem Hinschauen Ritter und Drachen. Und dort, wo die Grate sich trafen, an den höchsten Punkten der Decke, breiteten Vögel ihre Flügel aus. Einen Adler sah Merle, eine Eule, eine Elster und … Hatte einer der Vögel etwa gerade seine Flügel bewegt?

Merle blinzelte, ihre Augen waren wohl noch von dem Staub auf den Hügeln gereizt. Nein, die Vögel hielten alle still, sie waren ja schließlich auch nur gemalt. In diesem Augenblick passierten kurz hintereinander drei Dinge:

• Ein Teller zerbarst auf dem alten Steinboden und mehrere klatschten.

• Jemand schrie laut: „Merle! Merle! Siehst du, das ist meine Schwester!“, und

• Merle stellte fest, dass es nach Kartoffelsuppe roch.

Kartoffelsuppe gehörte zu Merles fünf absoluten Lieblingsessen. Nummer drei von oben auf der Liste. Gleich hinter Bratkartoffeln mit Spiegelei.

Und Merle hatte Hunger. Viel Hunger.

Im Hintergrund gab es so eine Art Büfett, wo ihr eine junge Frau mit langen grünen Haaren und Schürze mit einer wirklich großen Kelle Suppe auf den Teller gab und ein Stück Graubrot dazu.

Als Merle sich nur Sekunden später auf dem Stuhl neben Felix niederließ, fiel ihr Blick auf einen der Jungen am Tisch. Es war der Typ von vorhin, der aus dem Haus geschaut hatte, und bevor es Merle gelang, ihren Blick zu senken, hatte sie in die dunkelsten Augen geschaut, die sie jemals gesehen hatte.

Sie waren beinahe schwarz.

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Als Merle wenig später die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, nahm der Geruch nach Deo ihr fast den Atem. Die beiden Mädchen beachteten sie gar nicht. Das eine (blond, lange, seidig gebürstete Haare und schwarze, sehr lange Wimpern) sprühte Deo in die Luft und das andere (braune, halblange dünne Haare und zu hellen und zu viel Concealer im Gesicht) versuchte, der Blonden das Deo zu entreißen. „Mann, Krissiiiie, lass das! Gib sofort mein Deo wieder her, sonst muss ich mir morgen schon wieder neues besorgen!“

Merles Herz sank. Sie blieb im Türrahmen stehen und versuchte, sich eine Strähne ihrer kurzen Haare um den Zeigefinger zu drehen. Doch es funktionierte nicht mehr, seit sie Felix neulich ein LTB vorgelesen hatte und Felix ihr dabei, ohne dass sie es gemerkt hatte, eine ganze Menge Haare abgeschnipselt hatte. Das war am Anfang der Ferien gewesen, bis sie wieder in die Schule gehen musste, war es noch lange hin; und weil es darum sowieso schon egal war, hatte sie Felix erlaubt, ihr die anderen Haare auch noch abzuschneiden.

Irgendwie war es cool. Oder nicht?

Der Blick des Mädchens aus der Conditionerwerbung fiel auf Merle. Es hörte tatsächlich sowohl zu kichern als auch zu sprühen auf.

„Hi“, sagte Merle und versuchte, möglichst unbeteiligt zu wirken. „Ich bin Merle.“

Das braunhaarige Mädchen betrachtete sie misstrauisch, aber die Blonde streckte die Hand aus und lächelte breit.

„Hi, ich bin Kris“, sagte sie.

Merle kam sich komisch vor, doch sie gab Kris trotzdem die Hand. Als sie sie zurückzog, war sie feucht, und Kris, die sie genau beobachtet hatte, grinste.

Blöde Kuh, dachte Merle, aber sie hatte schließlich Übung mit Zicken. Seit der Grundschule schon.

„Ist das da dein Bett?“ Merle zeigte auf den pinken Schlafanzug.

„Klar, oben! Wir waren schließlich zuerst hier.“

„Okay …“ Merle trat ans Fenster, und als sie sah, dass die Mädchen nicht guckten, rieb sie ihre Hand unauffällig an dem pinken Schlafanzug ab.

Draußen goss die untergehende Sonne ihr rotgoldenes Licht über die Hügel, das Tal lag schon im Schatten und aus den Wiesen stieg der erste Nebel auf.

Die Mädchen hinter ihr kicherten wieder. „Ist das hier dein … äh … wie nennt man das … Rucksack und deine … ööööh … Stiefel?“, hörte Merle.

Sie drehte sich um. „Ja.“

Die Mädchen warfen sich gegenseitig diese speziellen Blicke zu, die Merle so gut kannte.

Sie taten weh, diese Blicke. Immer wieder.

Weil sie sich nicht für Schminke interessierte. Oder für Deko. Weil sie stattdessen lieber Fußball mit den Jungen auf dem Schulhof spielte oder Handtischtennis in der Runde. Und weil sie keine Markenklamotten trug wie die meisten in der Schule. Papa sagte immer, es käme im Leben aufs Geld nicht an, sondern nur auf „Charakter“. Aber Merle war sich nicht sicher, ob sie „Charakter“ hatte. Und wenn, dann war es möglicherweise der falsche. Zickenzickenzickenblödezicken …

Die Braunhaarige kramte in ihrer Kulturtasche und holte ein Smartphone hervor, ein etwas älteres Modell. „Mama hat mir nur das alte Ding hier mitgegeben, falls ich es verliere“, maulte sie.

Kris kicherte. „Machst du immer noch Musicallys?“

„Ich dachte …“, murmelte Merle.

Die Blonde sah hoch. „Dass wir die Handys abgeben mussten, oder was?“

Merle hob die Schultern. Mareike hatte sie beinahe mitleidig angelächelt, als Merle ihr das alte Nokia-Handy übergeben hatte. Aber sie hatte nie ein anderes besessen und immerhin hatte es schon ein paar Waschgänge in der Maschine überlebt. Sogar Kochwäsche.

„Klar haben wir unsere Handys abgegeben“, sagte Kris. Sie grinste. „Aber wir haben natürlich Ersatzhandys mit. Eingeschmuggelt.“ Sie tippte sich an die Stirn und beide Mädchen brachen in Gelächter aus. „Damit eins klar ist: Wenn du uns verrätst …“ Kris ließ das Ende des Satzes unheilvoll in der Luft schweben.

Dann drückt ihr mir Ketchup in die Stiefel oder Zahnpasta an die Bürste oder so was, dachte Merle, aber laut sagte sie: „Pfff. Habe ich nicht vor.“

Die Mädchen beachteten sie nicht weiter und Merle wandte sich ab. Sie lehnte ihre Stirn gegen die kühle Scheibe und sah über das abenddämmrige Land, und das Heimweh nach Papa fiel so plötzlich über sie her, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen.

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Wolken eilten über den Himmel. Der Mond schien klar auf Täler und Hügel und in dieser Nacht kehrte das Flüstern in die Burg zurück. Es waren nicht die Mäuse und Holzwürmer, die in den Balken ihr Unwesen trieben, nicht die Blätter vom Blauregen, Efeu oder wilden Wein, die der Wind an die alten Mauern rieb, und nicht das Gebälk des Dachstuhls, das in der Kühle der Nacht knackte.

Es waren Worte, leise und körperlos. Ein Wispern, fast nicht hörbar, das durch die Gänge schwebte.

„Du hast sie hergeholt, Meister.“

„Natürlich.“

„Es war zu früh.“

„Das werden wir sehen.“

„Wirst du ihnen helfen?“

„Das werden wir sehen.“

„Warum? Warum diese?“

„Begreifst du das nicht? Sieh doch einmal genau hin!“

„Nein, ich begreife es nicht. Sie sind zu klein, zu schwach.“

„Ich wiederhole mich: Wir werden es sehen.“

„Wirst du die anderen zu Hilfe holen? Die Lebenden draußen in der Natur?“

„Hör auf zu fragen!“

„Und sie? Wirst du sie fragen?“

Der Wind ließ die Blätter des Efeus rascheln, ein Käuzchen rief, ein, zwei, drei Mal.

Dann herrschte wieder Stille. Nur der Mond wanderte weiter über das Land und schien in Merles Gesicht. Aber sie merkte es nicht. Sie schlief tief und traumlos.

In dieser Nacht.

3. Kapitel

Der alte Mann pfiff leise, als er den Weg von der Burg ins Dorf hinabschritt. Die Sonne war vor Kurzem erst aufgegangen und der Ort lag noch im Schatten. Der Alte benutzte einen Stock für seinen Morgenspaziergang, ein wirklich vornehmes Teil, dunkel, gerade, mit Schnitzereien verziert und mit einem silbernen Knauf am oberen Ende. Er war klein und grau – der Mann, nicht der Knauf – und seine Glatze spiegelte das Morgenlicht.

Nun hatte er die ersten Häuser erreicht und hörte auf zu pfeifen. Vor dem Kiosk blieb er stehen, um die Überschriften auf den Zeitungen zu lesen; jemand, ein weiterer früher Vogel wohl, hatte den Ständer schon auf die Straße gestellt.

Der alte Mann blätterte eine Zeitung durch, als drinnen plötzlich ein anderer begann, eine Melodie zu pfeifen – irgendwo in dem Haus, das zu dem Kiosk gehörte. Der kleine graue Mann mit dem Stock hob den Kopf, runzelte die Stirn und lauschte. Doch als er erkannte, um welche Melodie es sich handelte, kniff er seine Lippen zusammen, und seine Augen röteten sich vor Wut. Er straffte sich, seine Fingerknöchel am silbernen Knauf wurden weiß. Ruckartig wandte er den Kopf ab und ging, so schnell er konnte und starr geradeaus blickend, den Weg zur Burg zurück.

Hinter der Scheibe aber war Friedrich Schiller damit beschäftigt, Zeitschriften in die Regale zu räumen. Und zu pfeifen natürlich. Nun ließ er die Hände sinken. Er sah dem Mann mit dem Stock nach. Und in sein Gesicht malte sich eine große, große Trauer.

Die Melodie hing noch eine ganze Weile in der Morgenluft, bis sie schließlich über dem Tal verwehte.

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„Okay, wir hatten uns das folgendermaßen gedacht.“

Die Sonne war höher an den Himmel gewandert, es sah nach einem heißen Tag aus. Sebastians Blick glitt über Merle und die anderen hinweg.

„Wir wollten euch mal nicht, wie bei solchen Freizeiten sonst üblich, alles vorschreiben …“, fing er langsam an.

Stille.

Große Augen.

Erwartung.

„Sondern …“, fuhr Sebastian fort und hob den Zeigefinger.

„Wir sollen uns also ein Theaterstück selbst ausdenken“, sagte der Junge, der Merle schon aufgefallen war. Aus Sebastian entwich die Luft wie aus einem angestochenen Fahrradreifen. Der Junge mit den schwarzen Augen, den kurz geschorenen, viel zu hellen Haaren und den abstehenden Ohren sah Sebastian ohne jede Gemütsregung an. In der Kennenlernrunde vorhin (aus der Mareike so eine Art Speed-Dating machte) hatte er sich als Wladimir vorgestellt.

„Genau … äh … Wladi“, antwortete Sebastian. „Und da du das nun schon erraten hast, weißt du sicherlich auch, was Mareike und ich noch mit euch vorhaben. Also: Die Bühne gehört … tadaa … Wladimir Puschkin!“

Doch auch von diesen Worten blieb der merkwürdige Junge völlig unbeeindruckt. „Ich nehme an, ihr werdet uns in Gruppen aufteilen“, sagte er mit seinem rollenden „R“. „Und dann – vorausgesetzt, ihr seid auf diese Idee gekommen – werdet ihr uns zu einem Wettbewerb auffordern. Welche Gruppe das beste Theaterstück geschrieben und aufgeführt hat.“

Merle warf Wladimir einen erstaunten Blick zu. Er war ihr vorhin wieder aufgefallen, weil er alles sofort begriff und schnell anfing, mit dem Fuß zu wippen, wenn er ungeduldig wurde. Sebastians Oberlid zuckte nervös.

„Ein Rätsel ist es allerdings noch für mich …“, fuhr Wladimir fort und stockte das erste Mal.

Jetzt sahen ihn wirklich alle gespannt an. Aber natürlich wurde er kein bisschen verlegen.

„Wer soll entscheiden? Wer ist die Jury?“

Sebastian lächelte erleichtert, endlich hatte er offenbar eine Antwort – eine Antwort, die Wladimir bestimmt nicht vorhersehen würde …

„Ach, natürlich. Wir werden unsere Stücke selbstverständlich vor Publikum aufführen“, sagte Wladimir da und schlug sich heftig vor die Stirn, als wollte er sich dafür bestrafen, dass er nicht gleich auf diese Idee gekommen war. „Ich vermute, vor Freiwilligen aus dem Dorf. Sie werden entscheiden. Ist es nicht so?“