image

eISBN: 978-3-649-62908-5

© 2018 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,
Hafenweg 30, 48155 Münster
Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Text: Patricia Schröder

Umschlaggestaltung: Formlabor, Hamburg, unter Verwendung von Motiven
von © Nik Merkulov und © McLura/www.shutterstock.com

Lektorat: Maren Jessen

Satz: Sabine Conrad, Bad Nauheim

www.coppenrath.de

Patricia Schröder

image

image

INHALTSVERZEICHNIS

JUNI

Donnerstag, 29. Juni

JULI

FREITAG, 7. JULI

DIENSTAG, 11. JULI

MITTWOCH, 12. JULI

SAMSTAG, 15. JULI

MITTWOCH, 19. JULI

1. TAG HUNGERNDE SPEISEN

2. TAG DURSTIGEN ZU TRINKEN GEBEN

3. TAG FREMDE AUFNEHMEN

4. TAG NACKTE KLEIDEN

5. TAG KRANKE PFLEGEN

6. TAG GEFANGENE BESUCHEN

DIENSTAG, 25. JULI

MITTWOCH, 26. JULI DER ERSTE TAG

DONNERSTAG, 27. JULI DER ZWEITE TAG

FREITAG, 28. JULI DER DRITTE TAG

SAMSTAG, 29. JULI DER VIERTE TAG

SONNTAG, 30. JULI DER FÜNFTE TAG

MONTAG, 31. JULI DER SECHSTE TAG

AUGUST

FREITAG, 4. AUGUST

MITTWOCH, 9. AUGUST

SEPTEMBER

MONTAG, 11. SEPTEMBER

»Hier ist Weisheit! Wer Verstand hat, der überlege die Zahl des Tieres; denn es ist eines Menschen Zahl, und seine Zahl ist sechshundertsechsundsechzig.«

(Johannes Offenbarung, Kapitel 13, Vers 18)

DU

Es gibt Dinge, die darf man nicht den falschen Leuten überlassen.

Du hast nun wirklich lange genug zugesehen und dich über das laute Getöse und das nur halbherzige Zündeln geärgert.

Du hast deine eigenen Leute, hast sie wochenlang begleitet und Informationen ausgetauscht. Immer wieder bist du alles bis ins kleinste Detail durchgegangen.

Es gibt keine Fußangeln mehr. Dein Plan ist perfekt.

Als hätte Gott dir seinen Segen erteilt.

Als müsse alles so sein.

Ja, du bist berufen, endlich ein Zeichen zu setzen und diese Ketzer mit ihren eigenen Mitteln zu strafen.

Heimlich, still und leise.

Und nach deinen Regeln.

»Wir stehen vor einem Rätsel«

Vermisste Mädchen schweigen

Nara M., Laura S., Lilli B., Amy W., Tugce B. und Corinne E., die nach der Zeugnisausgabe am 19. Juli nicht nach Hause gekommen waren und erst sechs bange Tage später wieder aufgetaucht sind, wollen offenbar keine Auskunft über die Gründe für ihr mysteriöses Verschwinden geben.

Nachdem die Polizei von ihrer anfänglichen Vermutung, dass es sich um einen Teenagerstreich handelte, abgerückt war, hatte es eine groß angelegte Suchaktion gegeben, die jedoch ergebnislos verlief (wir berichteten).

Wie Halil M., der Vater der 17-Jährigen Nara erklärte, stand seine Tochter am Dienstagabend gegen 22 Uhr 30 urplötzlich auf der hauseigenen Gartenterrasse. Kurz zuvor waren auch Amy, Tugce, Lilli, Corinne und Laura heimgekehrt.

Wie aus dem Nichts seien sie aufgetaucht – totenbleich, übermüdet und völlig apathisch, so die Familienangehörigen der Teenager. Sie trugen die gleiche Kleidung (neuwertige dunkelblaue Jogginganzüge und schwarze Turnschuhe) und waren mit einem Desinfektionsspray behandelt worden. Alle sechs Mädchen wiesen Kopfverletzungen auf und eine tiefe, professionell versorgte Wunde in der rechten Hand.

Die Mädchen stammen aus verschiedenen Stadtteilen und unterschiedlichen sozialen Schichten und kannten einander vor ihrem Verschwinden aller Wahrscheinlichkeit nach nicht.

Darüber, ob ihnen über die Verletzungen hinaus etwas angetan wurde, ob es sich um eine Entführung handelte und welche Absicht dahinterstecken könnte, lässt sich nur spekulieren, denn die Mädchen schweigen beharrlich.

Noch immer vermisst wird der 18-jährige Jamie G., ein Freund von Nara M., dessen Spur sich ebenfalls am 19. Juli verlor. Ob sein Verschwinden mit dem der sechs Mädchen in Zusammenhang steht, ist nach wie vor ungeklärt.

JUNI

Donnerstag, 29. Juni

Charlotte stieß mich in die Seite, während sie über ihr Handydisplay wischte. »Hör auf, ihn anzuschmachten.«

»Hallo!« Ich stöhnte auf. »Woher weißt du …?«

»Ich kenne dich«, sagte sie und steckte das Smartphone in ihre winzige mit schillernden Pailletten verzierte Umhängetasche zurück. »Außerdem habe ich dich soeben überführt.«

»Alles klar, Frau Hauptkommissar.«

»Kommissarin«, korrigierte sie mich und warf mir ein Kussmündchen zu.

Ich verdrehte die Augen. »Ja, ja.«

»Die mühsam errungene Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau sollte sich allmählich auch in unserem Sprachgebrauch wiederfinden«, dozierte Charlotte.

»Ja, ja, ja … Ja!«

»Wenn das allerdings sogar meiner besten Freundin egal ist, sehe ich schwarz«, fuhr sie fort, legte mir ihren Arm um den Nacken und steuerte mich entschlossen in die entgegengesetzte Richtung auf den Haupteingang des Anne-Frank-Gymnasiums zu.

»Es ist mir nicht schnurz«, beteuerte ich und versuchte, noch einen letzten Blick auf Tobias zu erhaschen, bevor Charlotte mich (wieder einmal) aus seinem direkten Einzugsbereich entfernt hatte. »Bloß im Moment gerade egal«, fügte ich murmelnd hinzu.

»Ja, weil dir ein Typ das Gehirn vernebelt hat!«

»Hat er nicht«, widersprach ich aufs Schärfste. »Ich finde ihn lediglich … irgendwie sexy. Und ich wüsste gerne …«

»Wahrscheinlich ist er eh schwul«, fiel Charlotte mir ins Wort.

Ich schüttelte den Kopf. »Glaub ich nicht.«

»Oder er steht nur auf Blonde.«

»Was es rauszufinden gälte.«

Meine Freundin bedachte mich mit einem mahnenden Blick. »Untersteh dich!«

»Du weißt doch gar nicht …«, setzte ich an, doch Charlotte schnaubte sofort leise durch die Nase, wie sie es immer tat, wenn sie genervt war. »Doch«, behauptete sie. »Du planst eine ganz große Haarfärbeaktion.«

»Unsinn.«

»Hmm. Hope so.« Sie hakte sich bei mir unter und zog mich energisch weiter bis zur Mauer, die das Schulgelände vom Sportplatz trennte, vor der sich hauptsächlich die Unterstufenschüler aufhielten und ich mir völlig fehl am Platz vorkam.

»Was hast du eigentlich gegen ihn?«, fragte ich unwillig.

Das Spiel Tobias vs. Charlotte dauerte nun schon fast drei Wochen und allmählich regte sich Widerstand in mir gegen diese Bevormundung. Charlotte war die beste Seele auf Erden, aber sie war nicht meine Mutter. Wenn sie mir weiterhin so entschieden in mein Liebesleben hineinzureden gedachte, hatte ich ja wohl ein Recht darauf, die Gründe dafür zu erfahren. Und die sollten verdammt noch mal Hand und Fuß haben!

»Er ist ein Freak.«

»Tobias?«

Verblüfft über diese Antwort, stieß ich einen Schwall Luft aus. Der Typ, der hier gerade unsere Gemüter erregte, war immer perfekt gestylt. Farblich aufeinander abgestimmte T-Shirts und Hoodies, Marken-Jeans im Washed-out-Look und Ledervans zierten seinen Traumbody. Der Blick aus haselnussbraunen Augen wirkte ein wenig entrückt, fast schon verträumt. Und wenn es mir hin und wieder gelang, mich für ein paar wertvolle Sekunden in seiner Nähe aufzuhalten oder wenigstens an ihm vorbeizulaufen, verströmte er den fast schon klinisch sauberen Duft nach einem hautfreundlichen, den Säureschutzmantel regulierenden Duschgel.

Tobias Herrmann mochte man strukturiert oder meinetwegen auch spießig nennen, aber er war ganz sicher kein Freak.

»Wie kommst du nur darauf?«

»Soviel ich weiß, ist er vom Konrad-Adenauer geflogen, weil er irgendwelche komischen Experimente gemacht hat«, erwiderte Charlotte.

»Soviel du weißt

»Na ja, was man eben so hört«, gab sie achselzuckend zurück.

»Und was sollen das für Experimente gewesen sein?«, bohrte ich weiter.

Ich selbst hatte nämlich noch gar nichts in diese Richtung gehört und daher den leisen Verdacht, dass meine Freundin im Grunde auch nichts wusste, sondern mir Tobias Herrmann lediglich madigzumachen versuchte.

»Keine Ahnung«, antwortete Charlotte. »Irgendwas mit seinem Bruder. Angeblich hängt der so einer bekloppten religiösen Verschwörungstheorie an.«

Oh Mann! Jetzt wurde es ja richtig abenteuerlich.

»Und so etwas glaubst du?«

»Wieso nicht?«, gab meine Freundin achselzuckend zurück.

»Weil es vermutlich nur dummes Gerede ist!«

Charlie schnaubte abermals.

»Mir ist er jedenfalls nicht geheuer. Ich finde, du solltest ihn dir aus dem Kopf schlagen und dich endlich auf Jamie einlassen«, riet sie mir.

»No! No! No! No! No!« Ich schüttelte heftig den Kopf. »Vergiss es! Jamie ist mein bester Kumpel.«

»Ja. Und er steht auf dich.«

»Das ist kompletter Unsinn«, widersprach ich halbherzig, denn im Grunde wusste ich es natürlich besser.

»Du bist wirklich nicht zu beneiden.« Charlotte machte eine ihrer berühmten theatralischen und nicht ganz ernst gemeinten Gesten. »Und ich versteh dich ja. Einen so guten Kumpel würde ich auch nicht verlieren wollen.«

»Also …«

»Was?«

»Lass mich mit dem Thema in Ruhe.«

»Okaaay …« Ein provozierendes Lächeln umspielte Charlottes hübsche volle Lippen. »Dann schnapp ich ihn mir eben.«

»Das tust du nicht«, sagte ich entschieden.

»Ach, und warum nicht?«, fragte sie gedehnt, während ihr lauernder Blick jeden Quadratzentimeter meines Gesichts erforschte.

»Weil so etwas nur Unfrieden stiftet«, erwiderte ich und gab mir wirklich große Mühe, mir von dem beißenden Gefühl des Unbehagens, das sich in mir ausbreitete, nichts anmerken zu lassen. Allerdings war es leichter, einen dröhnenden und stinkenden Bulldozer vor Charlotte zu verbergen als eine noch so klitzekleine emotionale Regung.

»Sieh an, du bist ja eifersüchtig!«, triumphierte sie.

»Stimmt«, gab ich zu. »Und zwar auf euch beide.«

»Klar.« Das Lächeln um Charlottes Lippen vertiefte sich. »Wer will schon den Mann, den man liebt, an seine beste Freundin verlieren?«

»Du drehst mir das Wort im Mund um«, beschwerte ich mich.

Was im Übrigen eine ihrer Spezialitäten war!

»Ach, Nara«, sagte sie sanft, schlang mir ihren Arm um den Nacken und küsste mich auf die Wange. »Ich sag doch nur, wie es ist.«

»Ja, ja.«

Sich mit Charlotte auf eine Diskussion einzulassen, an deren Ende sie als Siegerin hervorgehen wollte, barg das Risiko, auf halber Strecke die Orientierung zu verlieren. Ich zumindest hatte mich in Gesprächen mit ihr schon mehr als nur einmal hoffnungslos verheddert und schließlich aufgegeben.

Die Sache mit Jamie war zudem alles andere als unkompliziert.

Wir kannten uns seit der Grundschule und waren von Anfang an irgendwie miteinander befreundet gewesen. In der ersten und zweiten Klasse mehr, in der vierten dann weniger, denn die Jungs, mit denen Jamie abhing, akzeptierten es nicht, dass er ein Mädchen mochte – noch dazu eines, das einen arabischen Namen trug.

Irgendwann haben wir uns nur noch heimlich getroffen, was immer total unentspannt war, weil er ständig Angst hatte, von seinen Kumpels ertappt zu werden. Damals gab es so schrecklich viele Tage, an denen wir kein einziges Wort miteinander wechselten und Jamie mir nicht einmal verstohlen zuwinkte.

Manchmal war ich echt sauer auf ihn, aber meistens überwog die Verzweiflung. Ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte, denn ich wollte ihn auf keinen Fall vor den Kopf stoßen und am Ende womöglich noch ganz verlieren. Außer Jamie hatte ich niemanden, mit dem ich durch den Wald streifen, alte verfallene Gebäude erforschen oder einen aus dem Nest gefallenen Vogel versorgen konnte, und damals wollte ich auch keine anderen Freunde.

Also schaffte ich mir eine Jamie-Motz-Kladde an, in die ich mir mit einem extradicken schwarzen Filzstift und zornigen Worten den ganzen Frust von der Seele kritzelte.

Danach hatte ich oft ein schlechtes Gewissen und schrieb ihm kleine Briefe, wickelte sie um Karamellbonbons – die mochte er nämlich besonders gern – und steckte sie in eine unserer geheimen Poststationen (Mauerritzen, Astlöcher usw.).

Das Schöne war: Jamie antwortete immer. Zwar schrieb er mir nicht zurück, vermutlich, weil ihn ebenfalls sein Gewissen plagte, aber dafür fand ich jedes Mal, nachdem er einen meiner Bonbonbriefe an sich genommen hatte, in einer der anderen Poststationen eine kleine bunte Holzperle, eine hübsche Feder oder sonst irgendeine Kleinigkeit, die er für mich hineingelegt hatte.

Doch mit dem Schulwechsel änderte sich auch das.

Jetzt wohnte Jamie nicht nur in einem anderen Stadtteil, sondern besuchte auch ein anderes Gymnasium und er sah auch nicht mehr regelmäßig nach meinen Briefen. Hätte ich ihm nicht irgendwann vor seiner Haustür aufgelauert, hätten wir uns vielleicht sogar ganz aus den Augen verloren.

Als er dreizehn war, fing Jamie an, Basketball zu spielen. Schon nach wenigen Wochen war er der Topscorer in seiner Mannschaft.

»Das liegt nur daran, dass du nicht lockergelassen hast«, sagte er damals und er schien wirklich davon überzeugt zu sein. »Du bist meine Glücksfee, Nara«, betonte er immer und immer wieder.

Es war gar keine Frage, dass ich ihn zu seinen Turnieren begleitete und ihm begeistert zujubelte, wenn er einen seiner berühmt-berüchtigten und von den Gegnern so gefürchteten Drei-Punkte-Körbe warf.

Neben dem Basketball war ich in dieser Zeit das Wichtigste für ihn. Und er für mich.

Es gab kaum eine freie Minute, die wir nicht miteinander verbrachten. Wieder streiften wir durch den Wald und dachten uns die verrücktesten Geschichten aus. Wir lachten über die gleichen Dinge und liebten die Musik von Ellie Goulding, Birdy und Jamie Cullum – was ganz sicher nicht nur an seinem Vornamen lag – und Filme, in denen Ryan Gosling oder Jennifer Lawrence mitspielten.

Alles war gut, bis Jamie sich in Marita, ein Mädchen aus seinem Sportverein, verliebte. Eigentlich wäre das für mich okay gewesen, wenn er auch weiterhin zu mir und unserer Freundschaft gestanden hätte. Doch wieder wollte er mich nur heimlich treffen, aber darauf ließ ich mich kein zweites Mal ein.

Stattdessen stellte ich ihn vor die Alternative »Entweder ganz oder gar nicht« und Jamie entschied sich für gar nicht, indem er sich einfach nicht mehr bei mir meldete. Fast ein Dreivierteljahr lang blieb mir nicht mehr von ihm als die Motz-Kladde und meine kleine marokkanische Schatzdose, in der ich Jamies geheime Poststationsgeschenke gesammelt hatte. Ich war unendlich traurig über seine Entscheidung, aber ich haderte nicht damit, sondern richtete meinen Blick nach vorn.

In dieser Zeit lernte ich Charlotte aus meiner Parallelklasse näher kennen. Wir gingen zusammen auf Schüleraustausch nach Frankreich und fingen an, nicht nur unsere Klamotten miteinander zu teilen, sondern auch all unsere Sorgen und Geheimnisse.

»Du liebst ihn, aber du vertraust ihm nicht«, raunte sie.

Natürlich kommentierte ich nur den zweiten Teil ihrer Analyse. »Wundert dich das?«

Charlotte schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Also …«

»Ich finde trotzdem, dass er noch eine Chance verdient hat«, würgte sie mich ab.

»Das wäre dann schon die dritte«, sagte ich.

»Ja.«

Ihr schlichtes Statement brachte mein Herz zum Flattern. Charlotte sprach aus, was ich mir in jenen wenigen Augenblicken, in denen ich ganz ehrlich zu mir war, wünschte, und formulierte es so, als gäbe es nichts Einfacheres auf der Welt. Als ließen sich die Verletzungen aus der Vergangenheit durch ein simples Fingerschnipsen ungeschehen machen!

»Verstehst du denn nicht: Wenn ich mich jetzt auf ihn einlasse und er mich dann wieder fallen lässt …«

»Verlierst du ihn endgültig.«

»Genau.«

»Und weil du dieses Risiko nicht eingehen willst, tust du das, was du Jamie nicht gestattet hast, als er mit Marita zusammen war: nichts Halbes und nichts Ganzes.«

»Das ist ja wohl etwas vollkommen anderes!«, rechtfertigte ich mich.

»Du machst dir was vor, Süße«, gab Charlotte zurück. »Und es tut verdammt weh, dir dabei zuzusehen.«

»Es tut mir leid, aber …«, begann ich, wurde von meiner Freundin jedoch sofort wieder unterbrochen.

»Bitte nicht falsch verstehen«, sagte sie. »Es geht mir dabei überhaupt nicht um mich. Ich halte das zur Not mein ganzes Leben lang aus.«

»Sooo lange willst du meine Freundin sein?«, hakte ich direkt ein. Wenn sich mir schon die Chance bot, vom Thema abzulenken, musste ich auch zugreifen.

»Jap.« Charlotte verpasste mir einen weiteren Kuss auf die Wange. »Mindestens. Und jetzt hörst du mir mal gut zu«, fuhr sie mit strenger Stimme fort. »Jamie ist total in dich vernarrt. Das ist selbst für einen Blinden nicht zu übersehen. Wenn du ihm jetzt nicht zeigst, was du für ihn empfindest, geht das Ganze wieder von vorn los. Jamie wird sich irgendwann umorientieren. Es wird eine neue Marita geben und du wirst wieder abgemeldet sein.«

»Das ist mir klar«, erwiderte ich. »Aber es wird weniger wehtun.«

»Kann sein, aber dafür verpasst du vielleicht …«

»Jetzt sag bloß nicht, die große Liebe«, fiel jetzt ich ihr ins Wort. »An die glaube ich nämlich nicht.«

»Stimmt«, pflichtete Charlotte mir bei. »Du lässt dich lieber auf ein Spiel mit dem Unbekannten ein. Zündest aus heiterem Himmel ein Feuer an und bildest dir ein, dich verliebt zu haben.«

»Charlie, das ist doch kompletter Unsinn!«, widersprach ich. »Nur weil ich Tobias Herrmann interessant finde, heißt das noch lange nicht, dass ich mich in ihn verliebt habe.«

»Wie auch immer«, entgegnete meine Freundin. »Das Ganze ist nichts weiter als ein riesengroßes Ablenkungsmanöver. In Wahrheit versuchst du doch nur, vor deinen Gefühlen für Jamie davonzulaufen.«

Und wenn schon, dachte ich bei mir, während mein Blick in Richtung Schulgebäude glitt.

Keine Ahnung, ob er uns gefolgt war oder es sich um einen Zufall handelte, letztendlich war mir das auch egal. Jedenfalls lehnte Tobias jetzt an der Wand neben der Eingangstür. Er wischte auf seinem Handy herum, schob es dann in seine Hosentasche und sah mich an.

Ich lächelte und er lächelte zurück.

JULI

FREITAG, 7. JULI

Stelle dich niemals gegen den göttlichen Willen!
Es könnten furchtbare Dinge geschehen.

Jamie starrte eine Weile wortlos auf den Zettel, den ich in der Tasche meines Cardigans gefunden hatte.

»Was sagt Charlotte dazu?«, fragte er schließlich.

»Ich habe es ihr nicht gezeigt.«

Er hob erstaunt die Augenbrauen. »Wieso nicht?«

»Keine Ahnung. Sie … Ach, ich weiß auch nicht. Charlie hätte es wahrscheinlich als albern abgetan und den Zettel ohne weiteren Kommentar in den Müll verfrachtet«, erwiderte ich. »Sie misst solchen Dingen einfach keine Bedeutung bei. Wenn sie wüsste, dass ich früher einen regelrechten Kettenbrief-Spleen hatte, würde sie wahrscheinlich sofort jeden Kontakt zu mir abbrechen.«

»Das hier ist aber kein Kettenbrief«, meinte Jamie.

Er grinste schief, und ich musste mich beherrschen, das Grübchen, das sich neben seinem rechten Nasenflügel gebildet hatte, nicht allzu offensichtlich anzustarren.

Nachdem mit Marita Schluss gewesen war und Jamie an meinem fünfzehnten Geburtstag völlig überraschend mit genau diesem schiefen (wenn auch damals etwas reumütigen) Grinsen und der neuesten CD von Birdy bei mir im Zimmer stand, hatte ich insgeheim beschlossen, dass dieses Grübchen mir gehört. Es war ein kindischer, hoffnungslos romantischer, verrückter und irrationaler Gedanke gewesen, aber er gefiel mir tatsächlich noch immer.

»Was guckst du denn so?«, fragte Jamie irritiert.

Ich zuckte zusammen und sah ihm etwas zu abrupt in die Augen. »Wieso?«

»Na ja …« Er hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. Es wirkte fast ein bisschen frustriert. »Darauf müsstest eigentlich du mir eine Antwort geben.«

»Puh, keine Ahnung«, sagte ich und hatte das blöde Gefühl, mich zu wiederholen. »Ich habe bloß … nachgedacht.«

»Aha?« Wir saßen in seinem Zimmer auf dem rostbraunen Sofa, jeder brav in seiner Ecke, und aus irgendeinem Grund schien ihm meine Äußerung Anlass zu geben, ein wenig näher zu rücken. Er strich sich eine seiner störrischen kupferblonden Locken aus der Stirn und musterte mich erwartungsvoll. »Und worüber?«

»Na, darüber, wie ernst ich diesen Wisch hier nehmen soll«, erwiderte ich und zupfte ihm den Zettel mit der Unheilsbotschaft aus den Fingern.

»Sehr ernst.« Jamie sprach mit Grabesstimme.

»Vielen Dank«, sagte ich. »Du bist wirklich ein guter Freund, auf dessen Rat und Beistand man sich in der Not unter allen Umständen verlassen kann.«

»Nee, also jetzt mal ganz im Ernst, Nara«, beschwichtigte Jamie. »Ich glaube, das hat dir irgendein Unterstufenschüler in die Jacke gesteckt. Die haben manchmal so komische Wetten laufen.«

»Und diese hier ging so: Wer schafft es, einer Oberstufenschülerin etwas unterzujubeln, das sie in Angst und Schrecken versetzt, oder wie?«

Jamie nickte. »Genau.«

Okay, völlig ausschließen konnte man so etwas sicher nicht, allerdings fiel es mir einigermaßen schwer, mir vorzustellen, dass sich ein Sechstklässler mit solchen Dingen beschäftigte.

»Guck dir doch mal die Schrift an!«, forderte ich Jamie auf. »Die ist total akkurat und verschnörkelt. Da hat sich jemand richtig Mühe gegeben.«

»Vielleicht ist es ja ein Hobby von ihm«, überlegte er. »Eine Art Kalligrafie oder wie man das nennt.«

»Mhm. Wäre möglich. Der Text ist trotzdem strange. Findest du nicht?«

»Doch, durchaus.«

Jamie grinste abermals, und ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass diesmal ein Tick Berechnung mit hineinspielte, denn offenbar spekulierte er darauf, dass mein Blick wieder auf sein Grübchen fiel und ich somit für einen Moment abgelenkt war. Jedenfalls eroberte er sich den Zettel zurück, knüllte ihn zusammen und warf ihn in hohem Bogen neben den Papierkorb, der unter seinem Schreibtisch stand.

»Tja«, sagte ich. »Dafür gibt es jetzt leider keine Punkte.«

»Macht nix.« In Jamies grauen Augen blitzte es übermütig. »Das lief eh unter Erste Hilfe. Apropos … wie steht’s eigentlich um den Notfallplan für deinen kleinen Bruder?«

»Erinner mich bloß nicht daran«, gab ich leise stöhnend zurück. »Sinan wird es ohne fremde Hilfe nicht schaffen. Wenn ich oder Pa mit ihm lernen wollen, schaltet er auf stur. Und meine Mutter braucht es gar nicht erst zu versuchen. Dabei hätte sie von uns dreien die größte Geduld.«

»Das heißt, er wird von seiner Fünf in Mathe nicht runterkommen?«, hakte Jamie nach.

»Du hast es erfasst«, bestätigte ich. »Damit hat Sinan zwei Fünfen im Zeugnis, kann aber nur eine ausgleichen.«

»Das ist bitter.« Jamies Gesicht war ein einziger Ausdruck des Bedauerns. »Denn das bedeutet Nachprüfung. Stimmt’s?«

»Jap.« Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. »Meine Eltern checken gerade den ersten Nachhilfelehrerkandidaten.«

»Wieso schicken sie ihn nicht einfach in eine dieser Einrichtungen?«, fragte Jamie. »Schülerhilfe e. V. oder Abacus. Die kennen sich doch am besten mit so was aus. Außerdem lernt es sich in der Gruppe meistens leichter.«

»Keine zwei Meinungen«, sagte ich. »Mam und Pa haben das auch in Erwägung gezogen. Sie befürchten allerdings, dass Sinan nicht hingehen und sich stattdessen mit seinen Kumpels treffen würde.«

»Na, dann bleibt zu hoffen, dass sie den passenden Nachhilfelehrer für ihn finden.« Jamie zog seine Augenbrauen über der Nasenwurzel zusammen und musterte mich beinahe finster. »Wieso bist du eigentlich gar nicht auf die Idee gekommen, mich zu fragen?«

»Was?«

Überrascht sah ich ihn an.

»Es wäre doch naheliegend gewesen, oder nicht? Ich meine, ich bin ein Genie in Mathe … und ganz nebenbei hätte ich Sinan auch noch Basketball beibringen können. Denken und Sport funktionieren nämlich ganz prima zusammen. Wenn man sich bewegt und das Gehirn gut mit Sauerstoff versorgt wird, klappt es auch mit der Logik.«

Ich betrachtete ihn forschend.

»Bist du jetzt sauer oder was?«

»Nein«, erwiderte Jamie. »Bloß ein wenig erstaunt.«

»Tut mir leid«, entschuldigte ich mich. »Es ist nur so: Nicht ich habe das initiiert, sondern meine Eltern. Ich fände es nämlich viel besser, wenn Sinan die Klasse wiederholen würde. Nachhilfe könnte er natürlich trotzdem bekommen. Und meinetwegen wirklich super gerne von dir.« Ich versuchte, meiner Stimme einen ungezwungenen Tonfall zu verleihen. »Soll ich es zu Hause einfach mal vorschlagen? Wenn ich es richtig verstanden habe, ist es meinen Eltern fünfzehn Euro die Stunde wert.«

Jamies Miene entspannte sich.

»Ja, klar. Mach das«, sagte er und berührte mich sanft am Unterarm. »Ich mag Sinan und würde ihm wirklich gerne helfen … Verstehst du? Für mich wäre es ein Freundschaftsdienst.«

»Das ist wahnsinnig nett, aber …«

»Nett?« In seinen Augen blitzte so etwas wie Empörung auf. »Hast du wirklich gerade nett gesagt?«

»Ähm …ja …?«

Ich wusste nicht, was ich sonst darauf hätte erwidern sollen, und brach ab. Ich war ernsthaft irritiert.

Jamie sah mich durchdringend an.

»Nara, was muss ich tun, damit du endlich den in mir siehst, der ich für dich sein will?«, sagte er leise und verschränkte nervös seine Finger ineinander.

»Was meinst du damit?«, gab ich ebenso leise zurück, und schon in der nächsten Sekunde wurde mir klar, dass ich das besser nicht gefragt hätte. Denn jetzt griff er nach meiner Hand und sagte genau das, was ich eigentlich nicht hören wollte.

»Ich bin nicht einfach nur dein Freund, Nara. Schon lange nicht mehr. Mir hat bisher einfach nur der Mut gefehlt, es dir zu zeigen.«

»Jamie, ich …«

»Schsch«, unterbrach er mich. »Wenn du mich jetzt nicht ausreden lässt, werde ich wahrscheinlich nie mehr …«

Er stockte. Seine Pupillen waren weit geöffnet und das sonst so klare, kühle Grau seiner Iris schimmerte in einem warmen Braunton. Seine Lippen waren leicht geöffnet und der rechte Mundwinkel verzog sich kaum merklich zu einem hilflosen Lächeln. Jamies Gesicht, seine ganze Körperhaltung wirkte weich und verletzlich.

Plötzlich war mir schlecht.

Ich wusste, ich musste das hier abbrechen, bevor er etwas tat, das wir nicht mehr ungeschehen machen konnten.

»Nara …«

Ich starrte auf Jamies Kehlkopf. Sah, wie er sich auf und ab bewegte und dass seine linke Hand hinter seinem Rücken verschwand und er irgendetwas unter dem Sofakissen hervorkramte.

»Mir ist klar, dass ich dir wehgetan habe«, stammelte er. »Damals, als ich … als wir … und jetzt habe ich Angst, dass du … Ach, Scheiße, verdammt!« Jamie rutschte auf den Boden hinunter und ging vor mir auf die Knie. »Ich liebe dich, Nara!«

Er hielt eine kleine dunkelblaue Schachtel zwischen seinen zitternden Fingern und wollte sie gerade öffnen, als ich spürte, dass sich etwas in mir verhärtete. Wie ein eiserner Riegel legte es sich über meine Brust und trennte die Vergangenheit vom Jetzt.

Dabei hätte mir doch eigentlich das Herz aufgehen müssen!

»Jamie, ich kann das nicht«, hörte ich mich sagen.

Seine Konturen und die der Möbel verschwammen. Ich konnte ihm nicht einmal mehr in die Augen sehen, nur noch mit dem Kopf schütteln. Und ich fühlte mich absolut erbärmlich, als ich mich an ihm vorbeischob, »es tut mir leid« wisperte und mich aus seinem Zimmer stahl.

Erst als die Haustür hinter mir zuschlug und ich ein paar Schritte gerannt war, schossen mir die Tränen in die Augen. Ich lief noch ein Stück weiter die Straße hinunter, bis ich sicher war, dass Jamie mir nicht folgte und er mich auch nicht vom Küchenfenster aus beobachten konnte. Dann drückte ich mich in eine Mauernische, zerrte mein Handy hervor und holte Charlottes Nummer aus dem Speicher.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis die Mailbox endlich ansprang.

Die Mailbox!

»Charlie!«, rief ich. »Verdammt, wieso gehst du nicht ran?«

Um halb fünf Uhr am Nachmittag!

Heute war weder Jazztanz noch Chorprobe. Normalerweise saß meine Freundin um diese Zeit zu Hause, chattete, las oder arbeitete etwas für die Schule aus.

Ich versuchte es noch ein zweites und ein drittes Mal und hinterließ ihr schließlich eine Nachricht.

»Charlie, ich muss mit dir reden. Jamie hat mir gestanden, dass er mich liebt. Ich glaube, er wollte mir einen Ring schenken.«

Ich wartete noch einen Moment, ob sie sich nicht vielleicht doch noch meldete, schließlich kappte ich die Verbindung und steckte das Handy in meinen Lederbeutel zurück.

DIENSTAG, 11. JULI

Charlotte meldete sich das ganze Wochenende nicht. Weder rief sie an noch schickte sie mir eine SMS oder eine Nachricht über Whats-App. Ich hatte sogar versucht, sie im Chat zu erwischen, obwohl ich diese Art der Kommunikation überhaupt nicht mochte, doch sie schien nicht eine Sekunde online zu sein.

Sonntagvormittag hatte ich es schließlich nicht mehr ausgehalten und war zu ihr gefahren, aber auch dort hatte ich kein Glück. Offenbar war die ganze Familie ausgeflogen.

Ein wenig seltsam fand ich es schon, dass Charlie mir gar nichts von einer gemeinsamen Unternehmung erzählt hatte, trotzdem radelte ich einigermaßen beruhigt wieder nach Hause.

Als sie dann gestern allerdings nicht mal zur Schule kam, versuchte ich es gleich nach der letzten Unterrichtsstunde erneut bei ihr daheim, doch auch diesmal öffnete mir niemand. Heute war Charlotte wieder nicht da und mittlerweile war ich ernsthaft besorgt.

Sobald der Pausengong ertönte, schaltete ich mein Handy ein und nach dem Matheblock in der fünften und sechsten Stunde wurde mir endlich ein Eingang angezeigt. Ich öffnete die Nachricht und war beinahe enttäuscht, als ich feststellte, dass sie von Jamie stammte.

Sie bestand aus drei Buchstaben und einem Emoticon. Sry image

Eigentlich wollte ich darauf nicht anworten, denn das war mir im Vergleich zu dem, was letzten Freitag zwischen uns vorgefallen war, eindeutig zu wenig. Aber irgendjemandem musste ich von Charlottes Abtauchen erzählen, sonst würde ich noch durchdrehen. Direkt mit der Tür ins Haus zu fallen, kam unter den gegebenen Umständen allerdings auch nicht infrage.

Wofür genau entschuldigst du dich?, schrieb ich also zurück.

Dafür, dass ich dich mit dem Ring überrumpelt habe, gab Jamie offen zu.

O. k., tippte ich. Und jetzt? Wie soll es weitergehen?

Kurze Pause. Dann:

Können wir nachher darüber reden?

Du willst mich treffen?, vergewisserte ich mich.

Jap … Bitte! Wir könnten eine Pizza essen gehen, schlug er vor.

Ich überlegte, ob das klug war.

Nara, bitte! Ich verspreche dir auch, dass ich diese unheilvolle blaue Schachtel zu Hause lasse. Noch nie habe ich mir so viel Mühe gegeben, etwas vor mir selbst zu verstecken ;)

Ein Grinsen stahl sich in meine Mundwinkel.

Blödmann!!!

OMG! Gib mir mehr davon! Genau das will ich hören!, erschien auf meinem Handydisplay. Und ich verspreche dir noch etwas: Ich werde mich zum Speed-Dating anmelden, notfalls auch zum Tanztee. Für dich würde ich sogar in Erwägung ziehen, jedes Mädchen, das mir gefällt, direkt auf der Straße anzusprechen oder … wenn alle Stricke reißen … eine Kontaktanzeige in der Stadtteilzeitung aufzugeben.

Jetzt musste ich lauthals lachen.

Sollte es tatsächlich so einfach sein? – Wohl kaum. Und zwar nicht nur, was Jamie betraf. Die Vorstellung, dass er loszog und sich ein Mädchen suchte, das er an meiner Stelle lieben und begehren konnte, behagte mir nämlich überhaupt nicht. Aber darüber wollte ich jetzt lieber nicht weiter nachdenken.

Hör zu, Jamie, Charlotte ist verschwunden.

Wie, verschwunden?

Ich habe seit vier Tagen nichts mehr von ihr gehört.

Seit letzten Freitag?, hakte er nach.

Genau. Wieso?

Weil du da diesen komischen Zettel in deiner Jackentasche hattest.

Verdammt! Den hatte ich völlig vergessen!

Denkst du im Ernst, dass es da einen Zusammenhang gibt?

Nicht wirklich, antwortete Jamie. Aber weiß man’s?

»Nein«, murmelte ich und versuchte, mich an den genauen Wortlaut des Textes zu erinnern.

Stelle dich nicht gegen den göttlichen Willen, sonst werden furchtbare Dinge geschehen …

Oder so ähnlich.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand Charlie etwas angetan hat. Oder dass ihr etwas zugestoßen ist, nur weil ich …

Ja, was eigentlich?

Der christliche Gott hatte für mich keine Bedeutung. Ich war Muslimin. Wenn schon, dann gehorchte ich Allah. Aber auch das tat ich nicht wirklich. Ich wurde in diesem Land geboren und meine Eltern waren westlich orientiert. Okay, meine Mam trug ein Kopftuch, wenn sie das Haus verließ, und früher, als ich noch in der Grundschule war, hatte sie sich über Ramadan verschleiert. Wir aßen kein Schweinefleisch, meine Eltern hatten noch nie einen Tropfen Alkohol angerührt und es gab einen Gebetsraum bei uns im Keller. Den hatte ich allerdings seit mehr als fünf Jahren nicht mehr betreten. Weder meine Mutter noch mein Vater hielten mich dazu an, geschweige denn, dass sie mich zu irgendetwas zwangen.

Und Charlotte hatte mit all dem schon mal gar nichts zu tun!

Wann hast du Schluss?, fragte Jamie.

Um Viertel nach drei.

Soll ich dich abholen?

Ja, bitte, Jamie, tu das!

Und lass einfach alles wieder so wie früher sein!

Es war ein naiver Gedanke. Ein kindisches Flehen. Nicht weniger kindisch als die Vorstellung, dass Jamies Grübchen mir gehörte. Und trotzdem spendete es mir Trost.

Wenn es darauf ankam, war Jamie für mich da.

Ich suchte noch einmal sämtliche Eingänge der letzten vier Tage durch, um mich zu vergewissern, dass ich auch wirklich nichts übersehen hatte, und schickte Charlotte eine weitere – die zwanzigste oder war es womöglich schon die dreißigste? – Nachricht über WhatsApp.

Bitte melde dich und sag mir endlich, was los ist! Ich mach mir schreckliche Sorgen um dich! ***

image

In der siebten und achten Stunde hatten wir Sport. Handball – extrem schweißtreibend und nicht gerade meine Stärke. Eigentlich lief ich gern, ich war konditionsstark und schnell, aber ich mochte dieses Gerangel um den Ball nicht. Als Mannschaftssport war mir Volleyball tausendmal lieber, ich brauchte einfach Bewegungsfreiheit, sonst konnte ich mich nicht entfalten. Charlotte hatte sogar mal die gewagte These aufgestellt, dass dies bei mir nicht nur für den Sport galt, sondern für alles im Leben, Freundschaften und Liebesbeziehungen eingeschlossen. Schon möglich, dass sie recht hatte.

Ach, Charlie!

In meinem Kopf wirbelte alles durcheinander.

Ich konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, geschweige denn, mich auf das Spiel konzentrieren. Wie ferngesteuert rannte ich zwischen unserem Torraum und dem der gegnerischen Mannschaft hin und her. Jedes Team, das mit mir und meinen Handballkünsten gesegnet war, tat sich schwer, das lag nun einmal in der Natur der Sache, aber heute war es besonders schlimm. Meistens stand ich mehr im Weg, als in irgendeiner Weise hilfreich zu sein. Zum Glück wurde ich kaum angespielt und wenn doch, verlor ich den Ball fast immer, bevor ich ihn weitergeben konnte. Kurz vor Ende der ersten Halbzeit, gerade als meine Mannschaft im Begriff war, den Ausgleich zu werfen, ließ ich mich von einer Gegenspielerin so blöd abdrängen, dass ich mit leeren Händen die Linie des Viertelkreises übertrat.

Mein Team war bedient und ich war es auch.

»Was ist los mit Ihnen?«, brüllte Brawatzky durch die Halle. »Hat man Ihnen heute Nacht im Schlaf Arme und Beine verknotet?«

So ähnlich, dachte ich und warf ihm einen finsteren Blick zu.

»Kann ich raus?«, brüllte ich zurück.

»Keine Ahnung, was Sie können, Handball gehört jedenfalls nicht dazu.«

»Danke, das weiß ich«, murmelte ich.

»Darf ich auf die Auswechselbank?«, versuchte ich es noch einmal.

»Meinetwegen können Sie auch schon unter die Dusche gehen!«, brüllte Brawatzky.

»Mach dir nichts draus«, raunte Jenny in mein Haar und tätschelte mir kurz die Schulter. »Jeder hat mal einen schlechten Tag.«

Kati stand von der Bank auf und nahm meinen Platz ein und ich flüchtete mich in den Umkleideraum.

Bevor ich zum Duschen ging, warf ich noch rasch einen Blick auf mein Handy.

Noch immer nichts! Zumindest nichts auf WhatsApp. Die neu eingegangene SMS hätte ich fast übersehen. Und sie stammte auch nicht von Charlotte, sondern von einer Nummer, die ich nicht kannte und unter normalen Umständen ungelesen gelöscht hätte. Aber unter normalen Umständen war gestern, also öffnete ich sie.

Weil du dich nicht an die göttlichen Regeln gehalten hast, musste ein großes Unglück geschehen. Alles ist ganz allein deine Schuld.

Es war ein Reflex. Mein Daumen glitt schneller über das Display, als ich denken konnte, und beförderte die Botschaft in den virtuellen Müll. »Mist!«, fluchte ich leise.

Mein Herz raste und meine Hände zitterten.

Bullshit, versuchte ich mir einzureden. Das ist alles nur ein gottverdammter Bullshit und hat ganz sicher nicht das Geringste mit Charlie zu tun. Wenn sie tatsächlich verschwunden ist – oder ihr etwas passiert wäre, hätten ihre Eltern mir doch Bescheid gesagt. Sie hätten mich angerufen oder sich bei mir erkundigt, ob ich wüsste, wo sie steckt.

Und wenn ihnen allen dreien etwas zugestoßen ist?, durchfuhr es mich.

Bitte, bitte nicht!

Mit fahrigen Bewegungen stopfte ich das Handy in meine Tasche zurück, raffte Handtuch und Waschzeug zusammen und nahm eine Blitzdusche.

image

Noch bevor meine Stufenkameradinnen plappernd und lachend aus der Halle heraufkamen, war ich fix und fertig angezogen und verließ als Erste den Umkleideraum. Mit schnellen Schritten huschte ich den Gang entlang bis zum Ausgang, riss die Tür auf und sah vom Treppenabsatz zum Schülerparkplatz hinüber. Wenn Jamie mich abholte, wartete er meistens dort an der Mauer auf mich.

»Hey, du«, sagte eine Stimme hinter mir.

Mir blieb fast das Herz stehen, denn natürlich wusste ich sofort, wem sie gehörte. Himmel! Wie hatte ich IHN nur übersehen können!

Langsam drehte ich mich um.

Tobias lehnte an der Wand neben der Glastür. Als unsere Blicke sich trafen, richtete er sich zu seiner vollen Länge auf und schob die Hände in seine Hosentaschen.

»Hab ich dich erschreckt?«

»Nein … ähm, ja. Ein bisschen«, gab ich stammelnd zu.

Tobias lächelte.

OMG – wie er lächelte!

Und ich lächelte wie jemand, dem man das Großhirn entfernt hatte, zurück.

Charlotte hatte recht! Was Tobias Herrmann betraf, war ich wirklich nicht ganz zurechnungsfähig. Ich hätte drei Kreuze machen müssen, weil sie jetzt nicht hier war, stattdessen kroch ein dumpfes, wehes Gefühl von meinem Magen aus bis in meine Brust hinauf und erstickte das aufgeregte Flattern in meinem Herzen.

Der Zeitpunkt für einen Small Talk, eine erste vorsichtige Annäherung oder vielleicht sogar eine richtige Verabredung war denkbar ungünstig.

»Entschuldige bitte. Das lag nicht in meiner Absicht«, sagte Tobias.

»Ja, ähm … schon okay.« Ich deutete über meine Schulter. »Tut mir leid, aber ich …«

»Versteh schon.« Er nickte. »Du bist verabredet.«

Ja, aber nicht so, wie du vielleicht denkst, hätte ich am liebsten erwidert. Um ehrlich zu sein, wusste ich in diesem Moment nicht, was ich schlimmer gefunden hätte: dass Tobias annahm, Jamie sei mein Freund, oder Jamie auf die Idee kam, ich wäre in einen anderen verliebt.

Die Situation überforderte mich. Leider.

Und deshalb sagte ich nur: »Schönen Tag noch und bis morgen«, drehte mich um und eilte die Stufen hinunter.

Von Tobias kam nichts mehr. Es sei denn, es war so leise, dass ich es nicht hörte.

Was er jetzt wohl von mir dachte? An seiner Miene hatte ich jedenfalls nichts ablesen können, allerdings hatte ich ihm auch gar nicht richtig ins Gesicht geschaut.

Verflixt noch mal, Nara, du benimmst dich wie eine Dreizehnjährige, die einen Popstar anhimmelt!

Ich bildete mir ein, Tobias’ Blick in meinem Rücken zu spüren – es war wie ein immer heißer werdendes Brennen zwischen meinen Schulterblättern –, und ich musste mich regelrecht zwingen, den Schulhof in normaler Geschwindigkeit zu überqueren. Die Mauer vor dem Schülerparkplatz hatte ich dabei ununterbrochen im Visier, aber Jamie wollte einfach nicht auftauchen.

Und dann dudelte mein Handy los.

Ich blieb abrupt stehen, fingerte es aus meiner Tasche hervor und stellte die Verbindung her, ohne auf das Display zu sehen.

»Nara?«

»Jamie!«

»Ich kann dich nicht abholen.«

Seine Stimme klang gehetzt.

»Warum nicht?«, fragte ich. »Was ist passiert?«

»Komm nach Hause, okay? Ich bin bei Sinan. Er …«

Schlagartig wurde mir kalt.

»Was ist mit ihm?«, hauchte ich.

»Komm einfach«, sagte Jamie.

image

Im Nachhinein hätte ich nicht sagen können, wie ich den halbstündigen Weg bis zu uns in die Komponistensiedlung geschafft hatte, ohne von einem Auto oder einer Straßenbahn überfahren zu werden. Als ich endlich die Wohnungstür aufschloss, dem Schluchzen ins Wohnzimmer folgte und kurz darauf meinen weinenden Bruder in den Armen hielt, spielte dies ohnehin keine Rolle mehr.

»Sinan«, murmelte ich, drückte ihn an mich und vergrub meine Nase in seinem kurzen kräftigen schwarzen Haar. »Was ist los? Wo ist Mama?«

Der Duft von süßlich-scharfen Kräutern und Gewürzen, die meine Mutter für die Zubereitung von Tisqiye benötigte, hing in der Wohnung, weit konnte sie also nicht sein.

»Ibi«, wimmerte Sinan. »Er ist weg.«

»Mister Ibrahim?«

Mir sank das Herz in die Hose. Fragend sah ich Jamie an, der mit wachsbleichem Gesicht auf dem Sofa saß und nickte.

»Ich bin schuld«, stammelte Sinan.

Er löste sich aus meiner Umarmung und wischte sich den Rotz von der Nase. Dann tigerte er zur Terrassentür und starrte stumm in den Garten hinaus.

»Was heißt denn das … alles … überhaupt?«

»Dass er sich Vorwürfe macht«, erwiderte Jamie. »Aber natürlich ist es nicht seine Schuld.«

»Könnte mir bitte mal einer von euch sagen, was hier passiert ist?« Ich hatte große Mühe, meine Stimme unter Kontrolle zu halten. »Wieso ist Ibi weg? Und seit wann?«

»Das wissen wir nicht genau.« Jamie wies mit dem Kinn zur großen Fensterfront. »Die Terrassentür stand offen. Mister Ibrahim ist entwischt.«

»Ja, und?«

Unser kleiner braun-weißer Jack Russell Terrier tobte ständig allein im Garten herum. Er gehorchte aufs Wort und war noch kein einziges Mal weggelaufen.

»Vielleicht hat er sich irgendwo ein Loch gebuddelt und …«

»Das ist kompletter Unsinn!«, unterbrach ich Jamie aufgebracht. »Mein Vater hat den Drahtzaun fast einen halben Meter tief in die Erde gesetzt. Außerdem müsste so ein Loch ja irgendwo zu finden sein.«

»Es gibt keins«, presste Sinan hervor.

»Ihr habt den Garten also schon abgesucht?«, vergewisserte ich mich.

»Logisch.« Jamie zuckte mit den Schultern. »Aber man kommt ja leider nicht überall hin. Die Hecke hinter der Kompostkiste ist so dicht …«

»Ihr glaubt doch nicht wirklich, dass Ibi sich dort unter dem Gartenzaun durchgebuddelt hat?«, fiel ich ihm erneut ins Wort. »Einfach so?«

»Nicht einfach so«, krächzte Sinan. »Wahrscheinlich ist er einer läufigen Hündin hinterhergerannt.«

»Wieso sollte er das tun?«, gab ich kopfschüttelnd zurück. »Mister Ibrahim ist kastriert.«

»Ich weiß es ja auch nicht«, brachte Sinan unter einem erneuten Schluchzer hervor und ließ hilflos die Schultern hängen.

»Jedenfalls bist du nicht schuld«, stellte ich klar.

»Aber ich habe nicht aufgepasst! Mama war die ganze Zeit in der Küche. Ich hätte auf Ibi achten müssen.«

Und ich hätte losheulen können, als ich meinen Bruder so sah. Wir alle liebten Mister Ibrahim, aber Sinan kümmerte sich mit Abstand am meisten und mit voller Hingabe um ihn. Irgendwie hatte er sich von Anfang an für unseren Jack Russell verantwortlich gefühlt, obwohl er damals, als Ibi als Welpe zu uns kam, gerade erst acht Jahre alt geworden war.

»Sini«, sagte ich sanft. »Wenn du in der Schule bist, kannst du das doch auch nicht.«

Mein Bruder sah mich beinahe trotzig an. Seine dunklen Augen schimmerten feucht und seine Lippen zitterten.

Warum verstehst du mich denn nicht?, schien sein Blick zu fragen.

Das tue ich doch, dachte ich, aber ich würde dich so gerne trösten.

Weil du dich nicht an die göttlichen Regeln hältst, musste ein großes Unglück geschehen. Alles ist ganz allein deine Schuld.

»Nein«, murmelte ich.

Das war nicht nur Bullshit, das war ganz und gar unmöglich!

Ich sah, wie Jamie die Augenbrauen hob, und wandte mich ihm direkt zu. »Was machst du eigentlich hier?«

Diese Frage ging mir schon seit seinem Anruf durch den Kopf.

»Ich habe mich bei deiner Mutter gemeldet, weil ich mich als Nachhilfelehrer vorstellen wollte«, antwortete er. »Sie meinte, wenn ich Zeit hätte, solle ich doch gleich vorbeikommen.«

Aha.

»Ich hab mich dann auf mein Rad geschwungen und bin los. Und als ich hier ankam, waren Sinan und deine Mutter gerade mit zwei anderen Kandidaten im Gespräch.«

»Okay«, sagte ich. »Und weiter?«

»Mister Ibrahim scharwenzelte die ganze Zeit um uns herum. Dem einen Typen hat er richtig gut gefallen, der hat sich immer wieder zu ihm hinuntergebeugt und ihn gestreichelt.« Allerdings wird er ihn wohl kaum gestohlen haben, setzte Jamie zwar lautlos, aber mit entsprechender Gestik hinzu.

»Wie sah er denn aus?«, fragte ich.

Jamie zuckte die Achseln.

»Keine Ahnung. Normal … sympathisch.«

»Alter?«

»Achtzehn. Vielleicht neunzehn.«

»Und der andere?«

»Der war älter«, antwortete Sinan an seiner Stelle. »Und den hätte Mama wahrscheinlich auch genommen, wenn Jamie nicht noch vorbeigekommen wäre.«

»Für deine Mutter war wohl entscheidend, dass sie mich kennt. Und das haben die beiden anderen auch sofort verstanden.« Jamie lächelte. »Zweimal zwei Stunden in der Woche plus ein bisschen Basketball. Das ist kein Problem für mich.«

»Die zwei Typen sind dann also gleich wieder gegangen?«, hakte ich nach.

»Ja.« Jamie nickte. »Mehr oder weniger. Der eine musste noch auf die Toilette …«

»Und der andere? Was war mit dem?«, bohrte ich weiter.

»Der hat sich noch mit deiner Mutter über die Tücken von G8 unterhalten.«

»Während Ibi wieder um ihn herumscharwenzelt ist?«

»Nein, ich glaube nicht.« Jamie stand vom Sofa auf, berührte mich kurz am Arm und begann dann, vor der Schrankwand hin und her zu laufen. »So genau weiß ich das nicht mehr.«

»Er ist die ganze Zeit von einem Zimmer ins andere gewetzt«, erklärte Sinan. »Du kennst doch Ibi. Er fand es total aufregend, dass so viele Leute im Haus waren.« Eine dicke Träne rollte seine Wange hinunter, wo er sie mit der Zunge auffing.

»Hey«, sagte ich. »Sini … jetzt weine doch nicht. Du wirst schon sehen: Bestimmt kommt Mam jeden Moment zurück … Mit Ibi!«

Um ehrlich zu sein, glaubte ich das selber nicht, und so hörte es sich wohl auch an. Denn mein Bruder schüttelte nur den Kopf und drehte sich weg, als ich Anstalten machte, ihn noch einmal in die Arme zu nehmen.

Mit einem frustrierten Seufzen wandte ich mich wieder Jamie zu. »Und bis wann waren die beiden hier?«

»Keine Ahnung«, erwiderte er. »Ich hab nicht auf die Uhr geguckt. Irgendwann haben sie sich halt verabschiedet.«

»Zusammen?«

»Ja …« Er nickte. »Ich glaube schon.«

Ich sah ihn durchdringend an.

»Du glaubst

»Es tut mir leid, Nara, aber ich erinnere mich nicht mehr.« Jamie blieb stehen und sah mich ratlos an. »Weder deine Mutter noch Sinan oder ich können sagen, wer die Terrassentür geöffnet hat, wann genau die beiden Typen das Haus verließen und ob einer von ihnen vielleicht …«

Ich unterbrach ihn, indem ich mahnend einen Finger an meine Lippen legte und den Blick kurz zu meinem Bruder hinüberhuschen ließ.

Sinan hatte sich wieder vor der Terrassentür postiert. Er sah uns nicht an, aber mir war natürlich klar, dass er alles, was wir sprachen, wie ein Schwamm aufsaugte.

Mit jeder Minute wurde ich unruhiger. Am liebsten wäre ich sofort mit Jamie in mein Zimmer gegangen, um ihm dort unter vier Augen von der SMS zu erzählen. Aber Sinan war so traurig und verzweifelt, dass ich ihn unter keinen Umständen hier allein lassen wollte. Außerdem hatte ich Angst, dass er womöglich auch noch …

Nein! Halt! Stopp!

Ich verbot mir, diesen schrecklichen Gedanken zu Ende zu denken.

Es gab nicht den geringsten Hinweis, geschweige denn einen Beweis dafür, dass es zwischen dem Zettel in meinem Cardigan, der SMS und Charlottes und Ibis Verschwinden einen Zusammenhang gab. Für all das konnte es auch eine ganz harmlose Erklärung geben.

image

Es war fast halb sechs, als meine Mutter endlich nach Hause kam. Ich hörte das Rascheln ihres Kopftuchs, das sie immer gleich, nachdem sie das Haus betreten hatte, abnahm und an die Garderobe hängte. Augenblicklich schnellte mein Puls in die Höhe.

Sinan kauerte wie ein verletztes Tier auf dem Sofa. Trotz der sommerlichen Hitze hatte er sich neben Jamie bis zur Nasenspitze unter der dunkelgrauen Wolldecke verkrochen und richtete seinen Blick nun ängstlich zur offenen Wohnzimmertür.

»Mam?«, rief ich und sprang aus meinem Sessel auf.

»Nara! Du bist hier! Das ist gut.«

»Hast du Ibi gefunden?«, fragte ich.

»Nein.« Ihre Schritte wurden lauter und kurz darauf kam sie zu uns herein. »Leider nicht. Aber ich war bei der Polizei.«

Sinan warf die Wolldecke von sich und wollte an meiner Mutter vorbei aus dem Zimmer rennen, doch sie hielt ihn am Handgelenk zurück und zog ihn in ihre Arme.

»Es tut mir leid«, sagte sie sanft. »Aber ich verspreche dir, wir werden unseren kleinen Liebling heil zurückbekommen.«

»Wie denn?«, stieß mein Bruder mit einem lauten und beinahe wütenden Aufschluchzen hervor.

Er wollte sich aus ihrer Umarmung befreien, doch so zart und schmal meine Mutter auch war, sie hatte einen starken Willen und sie hatte Kraft.

»Wenn du fortläufst, werde ich dir das kaum erklären können«, sagte sie.

Sinan trotzte noch einmal, dann gab er seinen Widerstand auf.

»Komm, setz dich wieder hin.«