Michelle Falkoff

Playlist for the Dead

Zum Andenken an Erik

Nach all den Jahren, die ich vor dem Fernseher verbracht hatte, glaubte ich, man könnte eine Leiche finden und es erst dann merken, wenn man sie umdreht und das Einschussloch oder den Messerstich oder was auch immer entdeckt. Und irgendwie stimmte das auch. Hayden lag unter der Decke, eingewickelt in seine alberne Star-Wars-Bettwäsche (nebenbei, wie alt waren wir denn?), die ich schon aus den Nächten kannte, in denen ich bei ihm übernachtet hatte.

Hayden hatte schon immer einen tiefen Schlaf gehabt. Manchmal musste ich ihn praktisch aus dem Bett wälzen, um ihn aufzuwecken – was gar nicht so einfach war, denn er war klein und irgendwie rundlich. Ich hingegen war zwar um einiges größer, aber eher der Typ Bohnenstange, und wenn er einmal eingeschlafen war, war es schwierig, ihn überhaupt zu bewegen.

Als ich ihn da so liegen sah, seufzte ich und überlegte, wie ich die Entschuldigung für vergangene Nacht, wegen der ich eigentlich gekommen war, in die Entschuldigung einfließen lassen konnte, die ich ihm schuldig wäre, wenn ich ihn gleich vom Bett auf den Boden fallen ließ.

Das Geräusch meines Seufzers kam mir laut vor, und es dauerte ein paar Sekunden, bis ich dahinterkam, warum: Hayden schnarchte nicht. Dabei schnarchte er immer. Meine Mom war Krankenschwester und glaubte, er hätte Schlafapnoe – eine Schlafstörung, bei der es immer wieder zu Atemaussetzern kommt. Wenn er bei uns übernachtete, konnte sie sein Schnarchen in ihrem Zimmer hören, das am anderen Ende des Flurs lag. Sie versuchte, ihn zu überreden, mit seinen Eltern darüber zu sprechen, damit er vom Arzt eine Art Maske bekäme, aber ich wusste, dass es niemals dazu kommen würde. Hayden redete mit seiner Mutter nur, wenn es unbedingt sein musste, und mit seinem Dad würde er erst recht kein Wort wechseln.

Die Stille im Zimmer machte mir langsam Angst. Ich versuchte, mir einzureden, dass Hayden einfach nur eine gute Schlafposition gefunden hatte, die sein permanentes Schnarchen unterbrach oder so, aber das wäre ein kleines Wunder, und daran glaubte ich schon seit der Grundschule nicht mehr.

Ich stieß sein Bein ein wenig an. »Hayden, komm schon.«

Er rührte sich nicht.

»Hayden, im Ernst jetzt. Wach auf.«

Nichts. Nicht einmal ein Grunzen.

Ich wollte mir gerade den Sturmtruppler-Helm aus seinem Regal nehmen, um ihn zu erschrecken, als ich die leere Wodkaflasche auf dem Schreibtisch entdeckte. Sie stand zwischen dem Laptop und Haydens Modell des Millenium Falken, gleich neben seinem Bett.

Das war seltsam. Hayden trank nie, nicht einmal auf den wenigen Partys, auf denen wir gewesen waren. Und soweit ich mitbekommen hatte, hatte er gestern Abend nicht einmal Zeit gehabt, auch nur einen Schluck aus dem Bierfässchen zu probieren. Es gab keinen Grund, weshalb diese Flasche hier war. Es sei denn, er war doch wütender gewesen, als ich gedacht hatte. Vielleicht hatte er die Flasche aus der Hausbar seines Dads genommen, als er nach Hause gekommen war. Ich spürte, wie sich das schlechte Gewissen in meinem Magen regte. Deshalb wachte er also nicht auf: Er hatte einen Kater. Trotz meiner Gewissensbisse musste ich lachen. Haydens erster Kater – damit würde ich ihn ordentlich aufziehen, wenn er endlich aufwachte. Und dann würde ich ihn zu einem fettigen Frühstück schleppen und wir würden uns wieder versöhnen. Alles würde gut werden.

Jetzt musste er nur noch aufwachen.

Ich ging näher ans Bett und schnüffelte vorsichtig, ob er gekotzt hatte. Aber es roch wie immer bei ihm zu Hause: übermäßig desinfiziert. Künstlicher Pinienduft übertönte alles, sodass ich mir sicher war, dass seine Mutter jeden einzelnen Tag eine Putzkolonne anrücken ließ. Ich überlegte, ob ich ihn herunterwälzen sollte, entschied mich dann aber anders. Doch gerade als ich nach dem Kissen unter Haydens Kopf griff, stieß ich mit dem Ellbogen die leere Wodkaflasche um. Klappernd fiel sie zu Boden und riss dabei noch andere Sachen mit sich.

Ich beugte mich vor, um sie aufzuheben. Nicht nötig, dass Hayden gleich nach dem Aufwachen angepisst wäre, weil ich so ein Durcheinander angerichtet hatte. Es gab auch so genug, worüber wir reden mussten.

Ich griff nach der Flasche auf dem Boden, da entdeckte ich die Packung mit den verschreibungspflichtigen Medikamenten. Es war eine Packung Valium, auf der der Name von Haydens Mutter stand. Sie war leer. Ich wusste nicht, wie viele Tabletten ursprünglich darin gewesen waren, aber laut dem Datum auf der Schachtel war das Rezept erst vor ein paar Tagen ausgestellt worden. Was bedeutete, dass sie praktisch über Nacht eine ganze Packung eingenommen hatte.

Ich blickte wieder auf die Wodkaflasche.

Oder Hayden hatte sie eingenommen.

Und dann sah ich noch etwas, was auf den Boden gefallen war.

Einen USB-Stick, der neben einem abgerissenen Notizzettel lag.

Für Sam, stand darauf. Wenn du das hörst, wirst du mich verstehen.

Und dann wählte ich den Notruf.

C

»How to Disappear Completely«

Radiohead

Am Morgen von Haydens Beerdigung kam ich einfach nicht aus dem Bett. Nicht dass ich nicht wollte – im Gegenteil, eigentlich wollte ich, dass der Tag so schnell wie möglich vorbeiging, und wenn Aufstehen der erste Schritt dazu wäre, dann wäre ich dabei.

Aber ich schaffte es nicht.

Es war ein seltsames Gefühl, so als würde man in einem Eisblock festsitzen. Ich stellte mir die Szene in Star Wars vor, in der Han Solo in Karbonit eingefroren wurde, die Hände vor sich ausgestreckt, als könne er sich so irgendwie schützen, den Mund in stummem Protest aufgerissen. Das war ein Bild, das Hayden immer zugesetzt hatte. Jedes Mal wenn er die Szene gesehen hatte, wäre er fast wahnsinnig geworden – und Das Imperium schlägt zurück hatte er etwa tausendmal gesehen. Ich zwar auch, aber aus irgendwelchen Gründen fand ich dieses ganze Karbonit-Ding einfach zum Totlachen, und noch lustiger war, wie nervös es Hayden gemacht hatte. Zu seinem Geburtstag hatte ich ihm eine Hülle für sein iPhone mit dem gefrorenen Han Solo darauf geschenkt und Eiswürfel mit dem gefrorenen Han Solo in seine Limo geschmuggelt.

Als ich mich an seinen Gesichtsausdruck erinnerte, musste ich lachen, und lachen schien den Bann zu brechen. Ich konnte mich wieder bewegen, auch wenn ich das eigentlich gar nicht mehr wollte. Sich zu bewegen, hieß, dass ich wach war, und wach zu sein bedeutete, dass Hayden wirklich tot war, und bis jetzt war ich noch nicht bereit, mir das einzugestehen. Außerdem fühlte sich lachen falsch an, aber auch gut, und durch die Tatsache, dass ich mich gut fühlte, bekam ich Gewissensbisse, und das fühlte sich wiederum falsch an. Ich wusste echt nicht, wie ich mich fühlen sollte. Traurig? Ja. Angepisst? Definitiv ja.

»Was hast du dir nur dabei gedacht, Hayden?«

»Was?« Meine Mutter öffnete die Tür einen Spalt und sah mich an. Ihr lockiges braunes Haar war zu einem Zopf geflochten und sie trug ein Kleid anstatt ihrer Schwesterntracht. »Hast du etwas gefragt, Sam?«

»Nein, ich habe nur mit mir selbst geredet.« Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich laut gesprochen hatte.

Sie machte die Tür weiter auf. »Du bist immer noch im Bett? Komm, wir müssen uns beeilen. Du weißt, dass ich nicht bis zum Ende bleiben kann – ich komme ohnehin schon zu spät zur Arbeit.« Sie schnippte ein paarmal mit den Fingern. Sie war nicht unbedingt der warme, mütterliche Typ.

»Ich kann mich erst fertig machen, wenn du rausgehst.« Das kam schärfer heraus als beabsichtigt, aber sie hatte wohl verstanden, denn sie zog die Tür wieder zu, ohne noch etwas zu sagen. Aber vorher hängte sie noch etwas an meine Türklinke. Einen Anzug. Der, den ich letzten Sommer auf der Hochzeit meines Cousins getragen hatte. Sie musste ihn für mich gebügelt haben. Dadurch fühlte ich mich noch mieser als vorher.

Ich kletterte aus dem Bett, schaltete meinen Computer ein und öffnete die Playlist, die ich auf Haydens USB-Stick gefunden hatte. Er hatte sie mir hinterlassen, weil er wusste, dass ich sie finden würde. Wahrscheinlich wusste er sogar, dass ich ihn finden würde – ich war immer derjenige, der sich nach einem Streit zuerst entschuldigte. Ich konnte nie lang böse sein. Ihm musste klar gewesen sein, dass ich zu ihm kommen würde, trotz der Art und Weise, wie wir auseinandergegangen waren.

Ich hatte mir die Playlist in den letzten Tagen dauernd angehört und versucht dahinterzukommen, was er mir damit sagen wollte. Wenn du das hörst, wirst du mich verstehen. Was sollte ich verstehen? Er hatte Selbstmord begangen und mich ganz allein hier zurückgelassen. Und er hatte es mir überlassen, ihn zu finden. Ich war mir ziemlich sicher, dass es meine Schuld war, auch wenn ich im Moment noch nicht bereit war, darüber nachzudenken. Aber ich hatte die Playlist rauf und runter gehört und nach einem Song gesucht, der das bestätigen würde, dem Song, der mir die ganze Schuld zuweisen würde. Bisher hatte ich ihn noch nicht gefunden.

Nur eine verwirrende Sammlung von Musik aus dem gesamten Spektrum – einige neue Songs, einige ältere. Manche Lieder kannte ich, andere nicht, und in Anbetracht der Tatsache, dass Hayden und ich unseren Musikgeschmack gemeinsam entwickelt hatten – oder zumindest dachte ich das –, war das überraschend. Ich würde weiterhören müssen, um zu sehen, ob ich herausfinden konnte, was er damit meinte. Auch wenn ich mir nicht sicher war, was das sollte.

Ich durchsuchte die Liste nach etwas, was der Beerdigung angemessen wäre. Die meisten Lieder waren ziemlich deprimierend, deshalb gab es keine eindeutige Entscheidung. Ich fing mit einem Lied an, das mich daran erinnerte, wie ich den Anzug, den ich gleich anziehen würde, zum ersten Mal getragen hatte. Er war grau und glänzte ein wenig und ich hatte ihn mit einer Fliege getragen. Meine Cousins waren altmodische Spießer und hielten mich ohnehin für eigenartig, warum ihnen also nicht den Beweis dafür liefern? Mom reagierte ganz cool, sie sagte nur, sie würde sich freuen, dass ich einen Sinn für persönlichen Stil und eine eigene Meinung in Bezug auf meine Klamotten hätte. Sie selbst hatte sich damals, als mein Dad und sie noch zusammen gewesen waren, auch immer gut gekleidet. Jetzt kam sie kaum noch aus der Schwesterntracht heraus. Rachel, meine ältere Schwester, war in Bezug auf den Anzug weniger cool gewesen und nannte mich auf viele verschiedene Arten einen Volltrottel. Aber dann hat Mom sie nach oben geschickt, damit sie das Kleid auszog, das sie eigentlich hatte tragen wollen. Das ehrlich gesagt für eine Familienhochzeit ein wenig trashig gewesen war.

Hayden war herübergekommen, als ich mich gerade fertig machte, weil er mich hatte fragen wollen, ob ich mit ihm ins Einkaufszentrum kommen wollte. Und mit »Einkaufszentrum« meinte er im Grunde einen einzigen Laden – den einzigen, in den wir je gingen. Die Intergalactic Trading Company. Die übrigen Kids von der Schule hingen eher am anderen Ende herum, in der Nähe der Sportgeschäfte. Dort gingen wir selten hin. Ich hatte ganz vergessen, ihm von der Hochzeit zu erzählen.

»Schöner Anzug«, sagte er auf diese Art, bei der ich nie wusste, ob er es ernst oder sarkastisch meinte. Bei Hayden konnte man nie wissen. Bei mir war es einfach – ich war immer ein Klugscheißer.

»Wie auch immer. Dir wäre es bestimmt total peinlich, einen zu tragen, oder?« Ich zuckte zusammen, als mir meine Worte von damals wieder einfielen, aber schon da hatte ich gewusst, dass das eigentlich nicht stimmte. Hayden würde tun, was immer ihm seine Eltern sagten. Das gefiel ihm zwar nicht, aber es war immer noch besser als die Alternative.

Er zuckte mit den Schultern. »Die Fliege hilft, aber mit einem T-Shirt darunter würde es viel cooler aussehen. Mit dem hier zum Beispiel.« Er hob ein Radiohead-T-Shirt auf, das am Fußende meines Bettes lag. Er hatte es mir geschenkt, nachdem er die Band auf Tour gesehen hatte. Darauf stand: How It Ends, How It Starts.

Ich verdrehte die Augen. »Muss es unbedingt Radiohead sein?«

»Was ist an Radiohead so verkehrt?«, fragte er, aber er wusste, was ich damit sagen wollte. Wir hatten eine Million Mal darüber gestritten.

»Ein paar von ihren Sachen sind okay«, sagte ich. »Aber was unterscheidet sie so großartig von Coldplay? Weiße britische Typen, die auf schicken Universitäten waren und wahrscheinlich klüger sind, als gut für sie ist. Aber die Mädchen finden, dass Chris Martin heiß ist und Thom Yorke eigenartig aussieht, und deshalb verkauft Coldplay eine Trilliarde Alben und Radiohead muss sich an Schnarchnasen wie uns halten. Das kommt mir irgendwie nicht ganz richtig vor.«

»Da liegst du voll daneben«, sagte er. »Radiohead ist ein völlig anderer Planet als Coldplay. Kid A könnte die genialste Scheibe sein, die je gemacht wurde, und Coldplay wird jedes Mal, wenn sie eine Single herausbringen, wegen Plagiats angeklagt. Allein schon sie in einem Atemzug zu nennen, ist Radiohead gegenüber respektlos.«

Ich liebte es, Hayden auf die Palme zu bringen. Als wir noch klein waren, hatte sich meine Mom immer Sorgen gemacht, weil wir uns so oft stritten. Sie hatte an meine Zimmertür geklopft, als wir uns anschrien – okay, ich war derjenige, der schrie, Hayden war schon als Kind rational und versuchte geduldig, seinen Standpunkt zu erläutern – und hatte gerufen: »Alles in Ordnung da drin?«

»Alles in Ordnung«, hatten wir dann beide geantwortet. Und das stimmte auch.

Allein bei dem Gedanken vermisste ich ihn.

Ich hielt beim Anziehen einen Moment inne und konzentrierte mich auf die Musik, die aus dem Lautsprecher kam. Es überraschte mich nicht, dass er »How to Disappear Completely« auf seinem Mixtape hatte, denn es war sein Lieblingslied. (»Idioteque« war meins – egal wie sehr ich Hayden damit aufzog, auch ich fand Radiohead unendlich viel besser als Coldplay.) Ich versuchte, nicht allzu gründlich über den Text nachzudenken, darüber, wie Hayden dagesessen und diese Playlist zusammengestellt hatte, bevor er seine letzte Entscheidung traf. Ich hasste es, mir vorzustellen, dass er sich einfach so hatte davonmachen wollen.

Meine Hände ballten sich zu Fäusten, meine Fingernägel gruben sich in meine Handflächen, und ich versuchte, mich zu beruhigen. Während der letzten Tage hatte ich ihn abwechselnd vermisst und gehasst, ich hatte mich schuldig und mies gefühlt, ohne zu wissen, wie ich mich wirklich hätte fühlen sollen, außer dass ich mich anders fühlen wollte, irgendwie. Er hatte mich alleingelassen, und das hätte ich ihm nie angetan, ganz egal, wie sauer ich wäre. Mit diesen Gedanken im Kopf war es fast unmöglich gewesen zu schlafen, deshalb war ich obendrein auch noch völlig erschöpft. Erschöpft und wütend. Großartige Kombination.

Und wenn ich wütend war, ging der ganze Teufelskreis wieder von vorn los – ein Teufelskreis, der mir allmählich vertraut wurde. Wütend werden. Hayden die Schuld geben. Gewissensbisse bekommen. Ihn vermissen. Wieder wütend werden. Manchmal überkam mich auch das Bedürfnis, zu schreien oder auf Dinge einzudreschen, was ich dann doch nicht schaffte. Warum konnte ich nicht normal sein und einfach trauern.

»Sam, beeil dich!«, rief Mom von unten.

Jetzt war wieder vermissen dran. Aber ich musste etwas tun, damit ich mich besser fühlte. Ich ging zum Wäschekorb, grub mein altes Radiohead-T-Shirt aus und zog es unter dem Anzug an.

D

»Crown of Love«

Arcade Fire

Die Kirche, in der der Trauergottesdienst stattfand, lag auf der Ostseite von Libertyville, also auf der reichen Seite. Haydens Familie, die Stevens, lebten dort. Meine Familie nicht.

Von außen sah die Kirche wie eine echt schicke Skihütte aus. Sie war komplett aus dunklem Holz und außen liegendem Gebälk gebaut – wahrscheinlich hatte derselbe Architekt auch all die protzigen Häuser auf dieser Seite der Stadt entworfen. Innen war das Holz heller, die Decke war hoch und gewölbt und ein glitzernder, modern anmutender Kronleuchter hing von ihr herab. Fast als sollte man vergessen, dass es sich um ein Gotteshaus handelte.

Meine Familie war jüdisch, deshalb war ich bisher nur in der katholischen Kirche auf meiner Seite der Stadt gewesen. Dort hatten alle Kinder, mit denen ich zur Schule ging, ihre Erstkommunion gefeiert. Wir waren damals gerade hergezogen, deshalb kannte ich eigentlich niemanden, aber eines der Kinder in meiner Klasse lud alle Mitschüler zu seiner Kommunion ein, und Mom sagte, ich müsste hingehen, wenn ich Freunde finden wollte, auch wenn es dann doch nicht so gekommen war.

Die katholische Kirche hatte eher meiner Vorstellung entsprochen: außen weiß, ein Kreuz auf dem Altar und viele Buntglasfenster. Dieses Exemplar sah überhaupt nicht so aus, außer dass es auch hier zwei Bankreihen gab, die vor einem Altar endeten. An dessen Fuß stand ein Sarg und in diesem Sarg war Hayden. Wahrscheinlich trug er auch einen Anzug.

Als wir ankamen, war die Kirche schon fast voll. Rachel machte sich davon, um bei ihren Freundinnen zu sitzen – schockierend –, und so gingen Mom und ich allein durch den Gang, um Plätze zu finden. Die ersten Reihen waren von Haydens Verwandtschaft belegt. Ich entdeckte seine Eltern und Ryan, seinen älteren Bruder sowie ein paar Tanten, Onkel und Cousinen, die ich aus der Zeit kannte, als ich Hayden an den Feiertagen besucht hatte. Da Weihnachten bei uns nicht gefeiert wurde, hatte mich Hayden eingeladen, zum Nachtisch bei ihnen vorbeizukommen, nachdem sie mit der Bescherung und ihrem großartigen Abendessen fertig waren. Hayden war froh gewesen, wenn ich auftauchte, weil er dann schneller vom Tisch wegkam. Seine Mom machte immer Stress, weil er angeblich zu viel aß, und an Weihnachten war es am schlimmsten. Wenn er ein zweites Stück Kuchen auch nur ansah, warf sie ihm einen scharfen Blick zu und sagte: »Muss das wirklich sein, Hayden?« Doch Hayden hatte sich nie gewehrt. So war er nicht. Er hätte alles dafür getan, den Frieden zu wahren.

Sie hatten ihn nicht verdient, seine Familie.

Die Reihen hinter Haydens Verwandtschaft waren von abartig reichen Leuten und ihren abartigen Kindern gefüllt – Freunde von Ryan, die Jahre damit verbracht hatten, Hayden zu quälen, einige davon auf Ryans Anweisung. Sie alle glaubten, das Leben würde immer so leicht für sie bleiben wie im Moment. Reiche Sportskanonen wie Jason Yoder, der Privatlehrer anheuerte, die ihn durch die schwierigen Fächer brachten, Mädchen wie Stephanie Caster mit ihren Nasen-OPs und ihrem Personal Trainer, die ohne diese Dinge viel schöner gewesen wären und jetzt einfach alle nur gleich aussahen. Ich meine – nicht missverstehen – sie waren immer noch hübsch, aber es war nicht mehr dasselbe. Es machte mich wütend zu sehen, wie sie alle da saßen und so taten, als wären sie ach so traurig, wo das Ganze doch zumindest teilweise ihre Schuld war. Wie konnte es sein, dass ich mich auf der Beerdigung meines besten Freundes so fehl am Platz fühlte?

Mom legte mir die Hand auf die Schulter. »Wir müssen uns irgendwo hinsetzen, Liebling.« Sie lenkte mich in den hinteren Teil der Kirche, zu einer der Bänke in der Nähe der Tür. »Ich weiß, dass du gern weiter vorn sitzen würdest, aber sie werden bald anfangen, und es gibt einfach keinen Platz.«

Ich nickte und erinnerte mich daran, meine Fäuste zu lösen.

»Du musst dich mit Rachel absprechen – sie wird sich darum kümmern, dass euch jemand nach Hause fährt, okay? Es tut mir so leid«, sagte sie.

»Klar.« Es überraschte mich nicht und ich regte mich auch nicht auf – Mom musste immer früh los oder kam spät nach Hause. Als Dad uns verlassen hatte, war sie in die Abendschule gegangen, um Krankenschwester zu werden, und da das Krankenhaus zu wenig Personal hatte, hatte sie sich so viele Überstunden wie möglich aufgehalst, zumal Dad ziemlich nachlässig war, wenn es darum ging, Schecks zu schicken. Wir standen nicht schlecht da, sagte sie zu Rachel und mir, aber wir hatten auch kein dickes Polster. Anders als die Leute, die da vorn in der Kirche saßen.

Ich bemühte mich, es mir auf der Holzbank bequem zu machen, als sich alle hinsetzten. Die Trauerfeier hätte eigentlich schon vor einer Viertelstunde beginnen sollen und ich hörte hinter mir noch immer Leute hereinkommen. Für einen Jungen, der im Grunde nur einen einzigen Freund gehabt hatte, war diese Beerdigung ziemlich überlaufen.

Er hätte es gehasst, da war ich mir sicher. Er hätte hier hinten bei mir gesessen.

Mir war heiß und es kribbelte an meinem ganzen Körper. Unter dem glänzenden Anzug fing ich an zu schwitzen. Ich überlegte hinauszugehen, aber ich war in der Reihe eingekeilt – Mom hatte sich den Platz am Rand geschnappt, damit sie leise hinausschlüpfen konnte, und auf der anderen Seite saß irgendeine Frau in einem bunt geblümten Sommerkleid. Trug man auf einer Beerdigung nicht Schwarz? Sie sah aus, als wäre sie auf dem Weg zu einer verdammten Gartenparty.

Wieder überkam mich das Bedürfnis, auf etwas einzudreschen, und ich suchte nach etwas, worauf ich mich konzentrieren konnte, damit ich mich wieder beruhigte. Ich lauschte der Musik, die aus dem Lautsprechersystem kam. Eine Orgel gab es hier nicht. Ich kannte das Lied nicht und es klang auch eher wie Kaufhausmusik, sehr beruhigend, mit Flöten. Wieder so etwas, das Hayden wahnsinnig gemacht hätte. Ich fragte mich, ob er vielleicht einen der Songs auf der Playlist eigens für seine Beerdigung ausgesucht hatte, und versuchte dahinterzukommen, welcher es sein könnte. Der einzige, der mir dazu einfiel, war ein alter Song von Arcade Fire aus dem Album Funeral. Arcade Fire mochten wir beide. Wir hatten uns sogar die Grammy-Verleihung angesehen, als sie den Preis für das beste Album des Jahres gewonnen hatten.

Nach weiteren zehn Minuten stellte sich der Pfarrer vor den Altar. Er fing an, über die Tragödie zu schwafeln, jemanden so jung zu verlieren – nichts als Plattitüden und Euphemismen. Keines seiner Worte beschrieb, was wirklich passiert war. Ich war so wütend, dass ich weiterhin krampfhaft auf die Hinterköpfe der Leute vor mir starrte. Ein paar Reihen weiter vorn lehnte sich ein Mädchen mit langen weißblonden Haaren und schwarzen Strähnchen an die Schulter eines großen Hipster-Typen. Ich kannte keinen der beiden, zumindest nicht von hinten. Unwillkürlich dachte ich, dass es komisch war, dass ihr Haar im Vergleich zu dem Gartenpartykleid, das die Frau neben mir trug, einer Beerdigung angemessen war.

Als die eigentlichen Gebete begannen, drückte mir Mom einen Kuss auf den Scheitel. »Ich muss los«, sagte sie und schlich so leise, wie es mit ihren Krankenschwester-Clogs möglich war, hinaus. Ich fühlte mich elend, weil sie so viel arbeitete. Als ich vor ein paar Monaten fünfzehn geworden war, hatte ich ihr angeboten, mir einen Job zu suchen, den ich nach der Schule erledigen konnte, aber sie hatte nur gelacht. »Die Zeiten, in denen Teenager einen Job im Einkaufszentrum bekommen haben, sind längst vorbei«, hatte sie gemeint. »Die Hälfte der Mütter, die ich aus der Elternvertretung kenne, arbeiten bei Gap. Du hast keine Chance, Schatz. Geh einfach weiter zur Schule, und ich haue dich dann um Kohle an, wenn ich in Rente bin.«

Sie machte Witze, aber irgendwie auch wieder nicht. Ich wusste, dass es in der Schule Kids gab, deren Mütter im Olive Garden bedienten oder von ihren Souterrainwohnungen auf der Ostseite der Stadt aus Make-up und Schmuck verkauften und so taten, als würden sie das alles nur zum Spaß machen. Als wäre es gar nicht notwendig, etwas dazuzuverdienen, wenn sie weiterhin hier wohnen wollten. Seit die Haushaltsgeräte-Fabrik von Libertyville vor ein paar Jahren dichtgemacht hatte, war die Grenze zwischen den reichen Leuten und den Leuten, die zu kämpfen hatten, verschwommener geworden. Es war nett von Mom, dass sie zumindest später zur Arbeit gegangen war. Ich versuchte, nicht böse auf sie zu sein, weil sie mich hier allein zurückließ.

Nach den Gebeten fragte der Pfarrer, ob sonst noch jemand etwas sagen wollte. »Jeder, der sprechen will, jeder, der etwas zu sagen hat«, sagte er. Es entstand eine unangenehme Pause. Schließlich stand Haydens Vater auf. Ich konnte es nicht ertragen, ihn anzuschauen, ihn weinen zu sehen, als hätte er etwas verloren, was ihm lieb und teuer gewesen war – weil ich die Wahrheit kannte. Weil ich wusste, dass er die ganze Zeit bei der Arbeit oder auf Reisen oder bei dieser Frau war, von der Hayden gewusst hatte, dass er mit ihr schlief, und die ihn auf Geschäftsreisen begleitete.

Aber ich konnte den Klang seiner Stimme nicht ausblenden. »Hayden war nicht der Sohn, den ich erwartet hatte«, sagte er. »Ich hatte mir vorgestellt, im Garten Fangen mit ihm zu spielen, am Wochenende Football zu schauen, fischen zu gehen. Dinge, die ich mit meinem Dad gemacht hatte, Dinge, die ich mit Ryan tue. Das war die einzige Art von Vater-Sohn-Beziehung, die ich kannte.« Seine Stimme brach. »Doch mein zweiter Sohn hatte an diesen Dingen keinen Spaß. Er mochte Musik und Videospiele und Computer. Ich wusste nicht, wie ich mit ihm reden sollte. Und jetzt werde ich mir für den Rest meines Lebens wünschen, ich hätte es gelernt.« Er senkte den Kopf, als wollte er verbergen, dass er weinte.

Es war eine großartige Vorstellung. Wenn nur ein einziges Wort davon wahr wäre.

Ich sah über die Köpfe hinweg und entdeckte Ryan in der ersten Reihe. Er schüttelte den Kopf, was mich überraschte. Ich hätte gedacht, dass er allem, was sein Vater von sich gab, zustimmen würde, so wie immer.

Ich überlegte, nach vorn zu gehen, überlegte, was ich über meinen besten Freund sagen könnte, dachte an die Geschichten, die ich erzählen könnte. Zum Beispiel, wie wir uns bei einem Testspiel der Baseballliga für Kinder kennengelernt hatten, als wir acht gewesen waren, kurz nachdem ich nach Libertyville gezogen war. Keiner von uns wollte dort sein. Hayden war schon damals klein und pummelig, und dass ich völlig unkoordiniert war, war noch untertrieben. Wir schlugen immer daneben und fingen selbst dann keinen einzigen Ball, wenn er uns aus kürzester Entfernung zugeworfen wurde. Schließlich hauten wir vom Spielfeld ab, schmissen unser Kleingeld zusammen und kauften uns am Eiswagen gemeinsam ein orangefarbenes Eis am Stiel. Unsere Eltern waren außer sich, aber das war uns egal.

Ich hätte erzählen können, wie wir uns für die 3-D-Version von Star Wars Episode I – Die dunkle Bedrohung anstellten, als wir zwölf waren und uns nicht klar war, wie beschissen das werden würde. Wir hatten Monate damit verbracht, uns zu überlegen, welche Kostüme wir tragen würden, wobei wir das Offensichtliche verwarfen – C-3PO für mich und R2-D2 für ihn – und stattdessen Boba Fett und Darth Vader den Vorzug gaben, weil sie fieser waren. Ich könnte auch erzählen, dass Ryan und seine Kumpels uns gefolgt waren und uns mit Eiern beworfen hatten, sodass wir den ganzen endlosen Film über spürten, wie die Eier auf unseren Kostümen und unserer Haut trockneten. Aber wir hatten trotzdem Spaß gehabt.

Ich hätte berichten können, wie aufgeregt wir gewesen waren, letztes Jahr mit der Highschool anzufangen und zum ersten Mal auf derselben Schule zu sein. Wie überzeugt wir davon gewesen waren, dass alles besser werden würde, wenn wir zusammen in der Schule wären. Wir hatten nicht ahnen können, wie falsch wir lagen.

Aber was für einen Sinn hätte es gehabt, irgendetwas davon zu sagen? Alle mochten zwar betroffen tun, aber jetzt war es zu spät.

Und dann entdeckte ich die Schlange. Leute standen auf, um etwas zu sagen, und stellten sich neben dem Altar in eine Reihe. Haydens Tanten und Cousins, Lehrer, Freunde der Familie. Jungs und Mädchen aus der Schule. Ryan, allein, ohne seine üblichen Kumpels Jason Yoder und Trevor Floyd. Wir hatten sie immer als Tyrannentrio bezeichnet.

Es hätte mich eigentlich nicht schockieren dürfen zu sehen, wer auf Haydens Beerdigung alles was zu sagen hatte. Sie heischten alle nach Aufmerksamkeit und würden sich die Chance nicht entgehen lassen, im Rampenlicht zu stehen, ganz egal zu welcher Gelegenheit. Aber mal im Ernst – auf einer Trauerfeier? Würden sie sich wirklich hinstellen und nette Dinge über Hayden sagen, darüber sprechen, wie sehr sie ihn vermissten, was für ein Verlust es für die Schule, für die Gemeinschaft wäre? War ihnen denn nicht klar, wie viel sie zu der Tatsache, dass wir überhaupt hier waren, beigetragen hatten?

Das konnte ich auf keinen Fall zulassen. All die Wut, die ich empfand, das Bedürfnis, jemanden für Haydens Tod verantwortlich zu machen und so heftig wie möglich auf ihn einzuschlagen, kochten in mir hoch. Ich ging auf Ryan zu und tippte ihm auf die Schulter, während einer von Haydens Cousins tränenreich irgendeine Geschichte von Thanksgiving zum Besten gab, als die Familie zum letzten Mal komplett versammelt war. Ryan runzelte die Stirn, als er sah, dass ich es war. Ich wollte gerade etwas sagen, als Jason Yoder zwischen uns trat.

»Findest du wirklich, dass das jetzt der richtige Zeitpunkt ist?«, fragte er.

Ich wich rechts aus, wurde aber wieder blockiert, dieses Mal von Trevor Floyd.

»Lasst mich vorbei«, sagte ich. Ich hatte keine Angst vor ihnen. Nicht jetzt.

»Wohl kaum«, sagte Jason.

Er war der Einzige der drei, der kein Sportler war, und ich war größer als er. Ich schubste ihn beiseite, um zu Ryan zu gelangen. Trevor würde mich ja wohl kaum auf einer Trauerfeier umhauen.

»Was hast du vor?«, fragte ich. »Willst du wirklich da raufgehen und erzählen, was für ein toller Bruder du gewesen bist? Obwohl doch alle die Wahrheit kennen? Du warst auf dieser Party, genau wie ich. Du hättest alles verhindern können. Du hättest ihn beschützen sollen, statt alles noch schlimmer zu machen.«

Ryan klappte den Mund auf, doch bevor er die Worte herausbrachte, schubste mich Jason so heftig, dass ich gegen eine der Kirchenbänke prallte. Ich sah, wie die Leute uns anschauten, während ich mich bemühte, nicht hinzufallen – und scheiterte.

»Du willst Ryan auf der Beerdigung seines Bruders anpöbeln?«, zischte Jason. Ich hatte seine Kraft unterschätzt. Mich hatte eher der riesige Trevor beunruhigt, der fast zwei Meter groß war und einen Stiernacken hatte, der – wie ich erfahren hatte – bei Leuten verbreitet ist, die Steroide nehmen. Er gehörte nicht zu den Leuten, mit denen ich gern in eine Auseinandersetzung geraten würde. Vor allem nicht hier.

So vorsichtig ich konnte, stand ich auf. Meine Arme würden morgen mit blauen Flecken übersät sein, aber ich würde nicht zulassen, dass das Tyrannentrio das mitbekam. »Du bist ein verdammter Heuchler«, sagte ich zu Ryan. »Und irgendwann bekommst du das, was du verdienst.«

Ryan sagte nichts, sondern starrte mich nur einen Augenblick an. Dann rückte er in der Schlange vor. Gleich war er dran.

Das konnte ich nicht mit ansehen. Ich konnte nicht warten, bis Rachel eine Mitfahrgelegenheit für uns fand. Ich musste hier weg. Sofort.