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Nikola Huppertz

Mein Leben, mal eben

Nikola Huppertz

MEIN LEBEN
mal eben

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ISBN eBook: 978-3-649-62331-1

Das Buch erscheint unter der ISBN: 978-3-649-66990-6

© 2017 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,
Hafenweg 30, 48155 Münster
Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise
Text: Nikola Huppertz
Quellenangaben: Seite 255
Covergestaltung: Irmela Schautz
Lektorat: Frauke Reitze
Satz: Helene Hillebrand

www.coppenrath.de

»Du hörst nicht auf,

dich selbst auszugraben.

Du willst diese Selbsterkenntnis /

willst sie nicht.

Verdammt harte Scheißaufgabe.«

David Shields, Reality Hunger

Inhalt

Sonntag, der 19. August

Montag, der 20. August

Dienstag, der 21. August

Mittwoch, der 22. August

Freitag, der 24. August

Samstag, der 25. August

Sonntag, der 26. August

Montag, der 27. August

Dienstag, der 28. August

Mittwoch, der 29. August

Donnerstag, der 30. August

Freitag, der 31. August

Samstag, der 1. September

Sonntag, der 2. September

Montag, der 3. September

Dienstag, der 4. September

Mittwoch, der 5. September

Freitag, der 7. September, und ein bisschen Samstag, der 8., aber auch noch Donnerstag und Mittwoch, der 6. und 5. September, und darüber hinaus der Rest der Zeit

Samstag, der 8. September

Sonntag, der 9. September

Montag, der 10. September

Dienstag, der 11. September

Mittwoch, der 12. September

Donnerstag, der 13. September

Freitag, der 14. September

Sonntag, der 16. September

Montag, der 17. September

Dienstag, der 18. September

Mittwoch, der 19. September

Donnerstag, der 20. September

Freitag, der 21. September

Sonntag, der 23. September

Montag, der 24. September

Sonntag, der 19. August

(Der Tag der guten Vorsätze)

Das Spiel lädt.

Keine Ahnung, was so lange daran dauert, eine stinknormale Familie zu erschaffen. Ich fürchte, es liegt an dem Laptop, den meine Mutter (genauer gesagt, MaMi) mir dafür abgetreten hat:

Original Jungsteinzeit

Baujahr: 8627 v. Chr.
Typus: Sanduhr

Dabei müssen meine Figuren noch in ihr Haus einziehen, ein bisschen Geld verdienen und die allernötigsten Möbel anschaffen, bevor morgen in meinem eigenen Leben die Schule wieder losgeht. Dummerweise hab ich die ganzen Ferien über nicht daran gedacht, mich um dieses Spiel zu kümmern, wegen Urlaub und Sonne und Büchern und allem. Ferien sind einfach, hm, die sind wie eine knatschbunte Vogelinsel, auf die man sich in einem Fluss voller Krokodile rettet. Kaum ist man getrocknet und hat die blumigen Düfte in der Nase, vergisst man, was es bedeutet, Tag für Tag ums Überleben zu kämpfen. Man kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass man bald schon wieder ins Wasser geschubst wird. (Beziehungsweise in die achte Klasse kommt.)

Und jetzt hab ich den Stress und muss mich auf den letzten Drücker vorbereiten, sonst stehe ich morgen als Volldepp da, wenn Mia und Frederike in der Pause erzählen, dass ihre Frauen in den Ferien wieder drei, vier, fünf Babys in die Welt gesetzt haben – oder dass ihre Mädchen erwachsen und sehr erfolgreiche Topmodels geworden sind.

»Und deine?«, heißt es nämlich als Nächstes. »Oder hast du immer noch nicht …«

»Doch, doch!«, ruf ich dann. »Aber bei mir liegen gerade noch alle Leute im Familienkoffer und leiden unter Computerkollaps.«

Nicht lustig.

Immerhin funktioniert dieses Schreibprogramm, wie man sieht (und zwar ohne Pannen). Die verschiedenen SCHRIFTEN, alle >.-,#+!*»Zeichen«:;?&%§$< und ([{Klammern}]). Es funktioniert so gut, dass ich glatt meine Lebensgeschichte mal eben aufschreiben könnte, bevor das Spiel zu Potte kommt. Meine Memoiren vom Tragebeutel bis zur Bahre, einschließlich des traurigen Nachrufs:

Im Gedenken an Anouk Vogelsang,

geboren mit dem Unnormal-Gen,
gelebt, gelitten und gestorben,
hinabgestiegen in das Reich des Todes
und nie wieder auferstanden,
da sie vermutlich noch dort unten
irgendwas Komisches verzapft.

Oder wie soll man es sonst nennen, wenn einfach bei allem, was man in seinem Leben anfängt, was anderes rauskommt, als man geplant hat?

Gestern zum Beispiel: Meine Mutter (genauer gesagt, Matrix) hat mir Geld gegeben, damit ich mir was zum Anziehen kaufe. Weil ich mich bei ihr über das japanische Wickeloberteil beschwert hab, das meine andere Mutter (also MaMi) mir frei nach ihrem Entwurf für Madame Butterflys Hochzeitsszene geschneidert hatte. Sie (MaMi) kann es einfach nicht lassen, weil sie so verknallt in all die Kostüme ist, die sie sich fürs Opernhaus ausdenkt.

Dass MEIN Leben keine Oper ist und ICH mich mit den Sachen nicht auf einer Bühne verstecken kann, vergisst sie schon mal dabei.

Matrix hat auch erst nicht so recht kapiert, wo das Problem lag.

»Ist doch todschick«, hat sie gesagt, ohne überhaupt richtig hinzugucken, wie ich in dem verhedderten Ding aussah. (Ungefähr wie Harry Houdini kurz vor einem lebensgefährlichen Entfesselungstrick.) Matrix war nämlich gerade damit beschäftigt, den Fettfilter von unserer Geschirrspülmaschine zu reinigen.

»TODSCHICK, genau!«, hab ich ihr geantwortet. »Ich werde morgen aber zufällig NICHT Hochzeit feiern, sondern muss wieder in die Schule. Oder darf ich die wohl bitte abbrechen und aus Hannover wegziehen, um einen amerikanischen Offizier zu heiraten und seine Geisha zu werden? Dann muss ich wenigstens nicht ständig MaMis und deine Schnapsideen ausbaden.«

Das hat gewirkt.

Matrix hat sich umgedreht und mich mit gerunzelter Stirn betrachtet. Und obwohl ihr Nun-wollen-wir-doch-erst-mal-sehen-was-hier-eigentlich-los-ist-Blick mehr an meinem Gesicht hängen geblieben ist als an meiner japanischen Zwangsjacke, hat sie den Ernst der Lage nun offenbar endlich erkannt. Sie hat sich notdürftig die Finger abgewischt, ihr Portemonnaie geholt und mir zwei schöne, glatte Scheine in die Hand gedrückt.

»Such dir aus, was du willst«, hat sie gesagt. »Und ohne dass dir jemand reinredet.«

Manchmal ist Matrix echt großzügig. Vielleicht wollte sie aber auch einfach nur mit dem doofen Filter fertig werden und den Samstag für andere Dinge nutzen. Um sich in die Brombeerhecken am Bahndamm zu schlagen, zum Beispiel, und im Laufe des Wochenendes fünf Kilo Marmelade einzukochen.

(Matrix’ Marmeladen sind die leckersten der Welt [unangefochten!].)

Jedenfalls.

Ich bin mit der Tram in die Stadt gefahren, weil mein Fahrrad schon seit dem zweiten Tag der Sommerferien platt ist, und hab unterwegs beschlossen, auf direktem Weg zu h&m zu gehen, wo Mia und Frederike immer ihre Klamotten herhaben. Es war mein ehrlicher und fester Plan.

Für den Rest kann ich nichts. Ich hab sogar knallfest die Augen zugemacht, als ich am Ohrenschmaus vorbeigekommen bin.

Aber dann bin ich um ein Haar mit einer alten Omi zusammengerasselt, hab einen Anschiss kassiert und musste wieder ein bisschen gucken.

Und was hab ich gesehen?

Die weit geöffnete Eingangstür. Und hinter der weit geöffneten Eingangstür die ausladenden Tische mit den CDs. Insbesondere: den Tisch mit den Metal-CDs. Auf seinem Rand balancierten winzige Rocker mit tätowierten Oberarmen. Sonst bemerkte sie natürlich niemand, doch mir winkten sie umso begeisterter zu. Und genau das ist mir zum Verhängnis geworden.

Es ist bestimmt nicht so, dass ich es WILL, aber … nun ja. Ich steh total auf Metal.

Das liegt daran, dass Philipp mich immer zu den Konzerten von Gryphos einlädt, und zwar schon seit ich denken kann. Frühkindliche Prägung nennt man das und es funktioniert so ähnlich wie Muttermilch und Kuscheln und Zuhausegeruch. Man ist der Sache sozusagen hilflos ausgeliefert, ob sie einem nun nützt, weil alle anderen (zum Beispiel die Leute in der Schule) sie auch toll finden, oder ob sie einem schadet, weil alle anderen (zum Beispiel die Leute in der Schule) sie unnormal finden.

Man liebt die Sache aber trotzdem weiter, weil man so an sie gewöhnt ist und weil Gewohnheit wieder neue Liebe fabriziert, und so finden einen die anderen immer unnormaler und unnormaler, und was das heißt, weiß wirklich jeder, der unnormal IST.

Gryphos also.

Greif. Der große, kluge Vogel mit den ungemütlichen Löwenkrallen.

Und: die Band von Philipp Trapper. Die Independent-Metal-Band, um genau zu sein.

Am Anfang ist immer entweder MaMi oder Matrix zu Philipps Konzerten mitgekommen, aber es hat jedes Mal Streit gegeben, wer ranmuss und wer verschont bleibt. Darum geh ich mittlerweile allein hin. Mit dreizehn ist man ja wohl auch wirklich zu alt dafür, um sich von seinen Müttern in irgendwelche Undergroundclubs begleiten zu lassen. Ich muss nur jedes Mal hoch und heilig versprechen, Ohropax zu benutzen und mich backstage nicht versehentlich mit Bier versorgen zu lassen.

»Bei Philipp weiß man ja nie«, kann MaMi sich dann nicht verkneifen zu sagen, und dabei rollt sie bedeutungsvoll mit den Augen.

Doch sie meint es kein bisschen böse. Das steht fest. Auf Philipp sind MaMi und Matrix niemals böse, OBWOHL sie seine Musik bescheuert finden und OBWOHL man bei ihm wirklich nie weiß.

Bier finde ich aber sowieso eklig. Metal geht genauso gut mit Apfelschorle.

Jedenfalls, der Ohrenschmaus. Die weit geöffnete Eingangstür. Die winkenden Rocker. Die rappelvollen Tische. Ich bin einfach nicht dran vorbeigekommen, und rausgekommen bin ich erst recht nicht, zumindest nicht, ohne einen von Matrix’ Scheinen dazulassen. Es hat sich aber wirklich gelohnt, ihn zu opfern: für vier gebrauchte CDs, unter anderem das limitierte Cynic-Album von 2008.

Hell yeah!

Der zweite Schein ist drei Läden weiter im Bücherwurm geblieben. Er ist mir direkt vor dem großen Schaufenster aus der Hosentasche gefallen, hat sich vor meinen Augen zu einer wunderschönen Origamischwalbe zusammengefaltet und ist geradewegs in die Jugendbuchabteilung geflattert, wo er in elegantem Gleitflug im Fantasyregal gelandet ist. Mit ihm allein hätte ich bei h&m sowieso nicht mehr viel ergattern können. (Schätz ich mal.) Für zwei Taschenbücher hat er aber noch gereicht. Jetzt hab ich endlich die Kane-Chroniken komplett und hab seit gestern 284 Seiten gelesen.

Nur, was ich morgen anziehen soll, das weiß ich immer noch nicht. Madame Butterfly scheidet auf alle Fälle aus. Lieber geh ich im Schlafanzug in die Schule, der ist wenigstens nicht gefährlich.

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Gerade haben MaMi, Matrix und ich Abendbrot auf dem Balkon gegessen (Fladenbrot mit warmer Brombeermarmelade [sehr lecker!]), zu dritt die Nachrichten geguckt (also, nicht auf dem Balkon, sondern im Wohnzimmer) und uns darüber aufgeregt, was in der Wahnsinnswelt so los ist (Kriege, Kanzler, Katastrophen).

»’ne kleine Runde Skat, bevor ich mich noch mal an den Schneidertisch hocke?«, hat MaMi gefragt, nachdem sie den Fernseher ausgeschaltet und sich einigermaßen beruhigt hatte.

Wobei man vielleicht anmerken muss, dass ihr SCHNEIDERtisch ein riesengroßer SCHREIBtisch ist, mit Computer (plus ihrem neuen Laptop), Zeichenbrett und allem Pipapo. Die eigentliche Nähecke ist eher klein, weil Kostümbildner nur so tun, als würden sie Kostüme bilden, und schneidermäßig andere für sich schuften lassen. Obwohl MaMi aber eben auch nähen KANN, und zwar besonders gut Kostüme (zu meinem Pech).

Fast noch besser kann sie Skat zocken (auch zu meinem Pech), und genau das hat sie also vorgeschlagen, vorhin, nachdem der Nachrichtensprecher sich freundlich verabschiedet hatte und wir seine Horrormeldungen zusammen mit dem Brombeerbrot verdaut haben. Doch ich hatte es plötzlich eilig, in mein Zimmer zu kommen.

DENN …

»Mein Spiel!«, hab ich gerufen, und vor lauter Aufregung hab ich das Sofakissen in hohem Bogen von meinem Schoß geschleudert. »Das muss doch jetzt endlich mal fertig geladen haben.«

Matrix hat das Kissen mit vorwurfsvoller Miene aus der Vanilla planifolia geangelt. Dabei kann ich nichts dafür, dass die Zimmerpflanzen bei uns so dicht wachsen wie im tropischen Regenwald. Mir gehen ja sogar Kakteen ein, das weiß Matrix genau. Den Dschungel hat sie sich ganz allein zuzuschreiben, beziehungsweise ihrer Landschaftsarchitektur, mit der sie auch vor unserer Wohnung (also Matrix’ Lieblingslandschaft) nicht haltmacht.

»Aber nicht die halbe Nacht zocken!«, hat sie deshalb auch nur gesagt und die Vanilla tröstend gestreichelt.

»Morgen geht die Frühaufsteherei wieder los«, hat MaMi mit einem Stoßseufzer bekräftigt.

MaMi hasst Schultage mindestens so sehr wie ich, weil sie spätabends meistens ihren kreativen Kick bekommt, lauter Kleider, Stulpen, Schuhe und Hüte erfindet und dann höchstens drei, vier Stündchen geschlafen hat, wenn der Wecker klingelt.

Matrix hat noch irgendwas gesagt von wegen, wer denn in dieser Familie fürs Frühaufstehen zuständig sei und fürs Kaffeekochen und Frühstückmachen und Schulbrotschmieren und Autoausparken, aber so genau hab ich nicht mehr hingehört.

Wusch war ich in meinem Zimmer und wusch an meinem Schreibtisch. Klick, Bildschirmschoner weg, klick, Schreibprogramm zu, klick, zum Spiel.

Und?

Na?

Die Sanduhr.

Immer noch.

»Geh ins Neandertal!«, hab ich sie angeschrien, aber sie hat nicht reagiert. Sie war genauso unnormal wie alles andere, mit dem ich es zu tun kriege, seit ich mitsamt meinem Unnormal-Gen auf dieser Welt bin.

Und während ich sie angesehen hab, wie sie so starr auf dem Bildschirm hing, als wollte sie für alle Ewigkeiten weiterrieseln – da ist mir klar geworden, dass immer alles bleibt, wie es ist. Weil man so sehr an das gewöhnt ist, was man hat, und weil man es eben gewohnheitsliebt, und weil man aus Gewohnheitsliebe selber immer alles gleich macht. Und darum verändert sich auch überhaupt nichts an dem, was man NICHT hat (zum Beispiel: Friede, Freude, Freunde). Man kommt zwar in die nächste Klasse, aber sonst bleibt alles beim Alten.

Es sei denn, man strengt sich an und hört auf, alles wie immer zu machen. Dann sind vielleicht auch die Krokodile nicht mehr so gefährlich, wenn man wieder durch diesen Fluss schwimmen muss, der Schule heißt.

Also hab ich das Schreibprogramm schnell wieder geöffnet. Um die bescheuerte Sanduhr nicht mehr länger sehen zu müssen, bevor der Figurenkoffer aufgeht und ich endlich loslegen kann mit der Familienerschaffung. Und weil ich einen Beschluss gefasst hab, den ich vorher noch unbedingt aufschreiben wollte.

Er lautet:

Ab sofort wird alles anders.

Ab sofort wird mein Leben NORMAL.

So wahr ich Anouk Vogelsang heiße!

Ich hab mir auch gleich überlegt, was ich alles machen könnte, um ein NORMALES Leben zu führen. Erst hatte ich nur zwei oder drei Ideen (was wiederum an meinem Gen liegen muss). Aber dann hab ich an Mia und Frederike gedacht, zu denen ich mich morgen in der Pause wieder stellen werde. Obwohl ich den bösen, aber begründeten Verdacht hab, dass sie hinter meinem Rücken über mich lästern:

»Anouk hat noch nie …«

»Anouk hat schon wieder …«

»Anouk findet …«

»Anouk sagt …«

»Anouk macht …«

»Anouk ist bestimmt …«

»Bei Anouk zu Hause …«

Und mit einem Mal ist mir so viel Unnormales zum Ändern eingefallen, dass ich aufpassen muss, nichts davon zu vergessen.

Hier kommt eine Merkliste.

Ich werde ab sofort:

1. angesagte Sachen machen (je nachdem [umhören!])

2. Computer spielen (mach, du doofer Laptop!)

3. shoppen (und zwar: Klamotten)

4. Popmusik hören (statt Metal)

5. mich schminken (herausfinden, wie!)

6. mitreden können (siehe 1., 2. und 4.)

7. mehr mit Leuten unternehmen (zum Beispiel 3.)

8. nicht immer nur Bücher lesen, sondern auch Zeitschriften (siehe 4.–6.)

9. insgesamt aber weniger in meinem Zimmer rumhocken, um

10. genug Zeit für alles andere zu haben.

So. Und jetzt fang ich an.

Und zwar mit Punkt 2: dem Spiel.

TROMMELWIRBEL, TUSCH, FANFARE …

… und Sand.

Sandsandsand, der in feinen Körnchen auf meinen Schreibtisch rieselt.

Hell no!

Ich fass es nicht.

Der Steinzeit-Rechner hat den Ladevorgang abgebrochen.

Montag, der 20. August

(Der Tag der neuen Mitmenschen)

Also heute …

Okay, das kann jetzt auch noch hier rein, obwohl das eigentlich keinen Sinn mehr ergibt mit meinen Memoiren. Ich kann ja schlecht mit einem Programm um die Wette schreiben, das es gar nicht mehr gibt. Und zwar: weil ich gestern Abend alles, was von dem Spiel auf meinem Laptop gelandet war (nicht viel), wieder gelöscht hab. Dann: Trash-Eimer entleert und auf Nimmerwiedersehen weg damit!

Um ein Haar hätte ich auch die Software weggeschmissen, und zwar in den echten Trash-Eimer, der in der Küche steht. Aber dann ist mir rechtzeitig eingefallen, dass ich’s ja vielleicht irgendwann noch mal probieren kann mit dem Hochladen.

Mach ich VIELLEICHT, wenn ich mich vollständig wieder abgeregt hab.

WENN.

In der Zwischenzeit hat es allerdings dermaßen viel Zusatzärger gegeben, dass das dauern kann. Als ich von der Schule nach Hause gekommen bin, wollte ich nicht mal mit MaMi Basilikum-Knoblauch-Spaghetti essen, obwohl die zusammen mit Flammkuchen, gefüllten Weinblättern und Zitronenmilchreis meine Leibspeise sind und obwohl ich jetzt Hunger hab wie irre.

Und zwar.

Ich hab natürlich doch das japanische Wickeloberteil anzogen, heute Morgen. Und vielleicht wär es besser gewesen, wenn ich auf dem Schulweg mit einer der Stoffbahnen an einem Ast hängen geblieben wär und nicht mehr vor noch zurück gekonnt hätte, bis mich (sagen wir, ungefähr gegen Schulschluss) jemand voller Mitleid und Ergriffenheit befreit hätte.

Sehen Sie hier: Anouk Vogelsang,

baumelnd im liebevollen Geschenk ihrer Mutter
(genauer gesagt, MaMi),
einer Henkersschlinge mit japanischem Knoten.

Denn so eine morgendliche Begrüßung durch einen Baum hätte sich bestimmt netter angefühlt als die, mit der ich im Flur vor dem Klassenraum empfangen wurde.

»WIE – SIEHST – DU – DENN – AUS?«, hat Frederike gerufen, kaum, dass sie mich entdeckt hatte – eingequetscht zwischen irgendwelchen Oberstufentypen, die wie ich in allerletzter Sekunde in der Schule angekommen waren und mich ohne Fluchtmöglichkeit vor sich herschoben. Und sofort rätselte die gesamte Klasse laut los, in was für sonderbare Stoffstreifen ich an diesem schönen Spätsommertag im August gewickelt war.

»Mumienbandagen?«

»Mullbinden?«

»Klopapier?«

Dabei konnte ich die vierundzwanzig mal zwei Blickpfeile, die dabei auf mich abgefeuert wurden, gerade kein bisschen gebrauchen. Im Gegenteil, eigentlich war ICH diejenige, die etwas Interessantes entdeckt hatte und ungestört gucken wollte.

Da stand nämlich eine Neue, ganz in der Nähe von Mia (die noch ein bisschen busiger und braungebrannter war als vor den Ferien) und Frederike (die noch ein bisschen größer und germanischer war), ganz so, als hätten sie sich schon gegenseitig zugenickt und vielleicht sogar ein paar Worte miteinander gewechselt.

Natürlich hat auch sie sich nun nach mir umgedreht, und was soll ich sagen?

Sie sah nett aus, die Neue.

Sie sah sehr nett aus zwischen all den anderen, die gerade nicht so nett waren.

Sie sah haargenau so aus wie eine, die man gerne zur Freundin haben möchte, nämlich lieb und freundlich und mit großen, hellen Augen in dem schmalen Gesicht.

Eine, von der alle sagen: Wow!

Eine, an deren Seite das Unnormal-Gen in mir gar keine Chance mehr hätte, weil sie nämlich nichts davon WÜSSTE, sondern stattdessen mein Ab-sofort-normales-Leben kennenlernen würde. Das Unnormal-Gen würde einfach lahmgelegt werden und alle meine übrigen Gene (ganz besonders die Freundinnen-Gene) könnten sich richtig austoben.

Im Haar der Neuen saß ein bunt gescheckter Schmetterling, der mit Glitzeraugen umherspähte und ab und zu eine Runde um ihren Kopf schwirrte, als hätte er vor, ihr den direkten Weg zu dem Mädchen zu weisen, das in dieser Klasse am allerbesten zu ihr passte.

Ich war mir sicher, sie würde mich mögen. Ich war mir sicher, wir würden uns sofort anfreunden, wenn ich es geschickt anstellen würde, sie anzusprechen, und wenn nur nicht die ganze Klasse –

»Stoffwindeln?«

»Bettlaken?«

»Wäschesack?«

– ja, wenn eben nicht die ganze Klasse durch den Flur gebrüllt hätte, wie komisch sie mich an diesem ersten Schultag nach den Sommerferien in meinem bescheuerten Wickeloberteil fand.

Aber das war noch längst nicht alles. Eine einzelne Katastrophe lohnt ja nicht, das weiß jeder, der regelmäßig Nachrichten guckt.

Ich wollte mich gerade mit dem Mut der Verzweifelten an Mia und Frederike vorbeischieben, mich dabei lässig nach ihren Figuren erkundigen (was immer noch besser ist, als gar nicht über das Spiel mitreden zu können) und dann irgendwie in die Nähe der Neuen gelangen, um, wenn schon keinen guten ersten, so doch wenigstens einen guten zweiten Eindruck zu machen. War dies gelungen, wollte ich direkt mal Hallo zu ihr sagen, fragen, wie sie heißt, und ganz beiläufig erwähnen, dass ich ihr VIELLEICHT einen Platz neben mir organisieren könnte.

Aber genau da wurde ein letzter Zwischenruf durch den Flur trompetet.

Der Ruf lautete: »Hey, Madame Butterfly!«

Der Rufer war ein etwas zu klein geratener Junge, der sich gerade an die Klasse herangepirscht hatte, und zwar in einem Paar sehr abgenutzter Klettverschlusssandalen, in denen er auch noch Socken trug, die so verrutscht waren, dass sie vorne an den Zehen ein Stück raushingen. Es sah (das muss ich leider sagen) RICHTIG, RICHTIG SCHLIMM aus. Schlimmer noch, als er sich mit genau diesem Schuh- und Strumpfwerk zwischen die ganzen Sneakers und Chucks der 8b-Jungs gemischt hat.

Aber das Schlimmste war, dass ich ihn kannte.

Er mich übrigens auch.

Oder sagen wir es mal so: Ich wusste, was man über Moritz Spiekmann wissen muss, und er wusste, was man über Anouk Vogelsang wissen muss.

Noch Fragen?

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1. Was man über MORITZ SPIEKMANN wissen muss:

• Er spielt seit seinem fünften Lebensjahr Gitarre.

• Er spielt entsprechend gut (also: sehr).

• Sein Lehrer ist ein gewisser Philipp Trapper, Sänger und Leadgitarrist von – tadaaa! – Gryphos.

• Er (M.) komponiert außerdem, nimmt seine Stücke auf und bearbeitet die Tonspuren am Computer. Kurz, er ist ein NERD.

• Er wechselt die Schulen wie seine Unterhosen (mindestens eine pro Schuljahr).

• Er verbringt oft halbe Tage bei Philipp, darf nach dem Unterricht bei ihm zu Abend essen, Musik mit ihm hören und sich mit ihm UNTERHALTEN.

• Einmal war er noch da, als ich mit MaMi und Matrix zu Besuch gekommen bin. Philipp sagte: »Moritz, das ist Anouk, von der ich dir erzählt hab.«

• Er sagte: »Anouk, das ist Moritz, von dem ich dir erzählt hab.«

• Philipp sagte außerdem: »Moritz, das sind Miriam und Beatrix, von denen ich dir erzählt hab.«

• Und Moritz nickte wissend und guckte zwischen Philipps und meinem Gesicht hin und her, als würde ihm bei diesem Abgleich nun auch wirklich noch das allerletzte Licht aufgehen.

2. Was man über ANOUK VOGELSANG wissen muss:

• Siehe Sonntag, der 19. August!

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Also.

Moritz hatte gerufen. Madame Butterfly. Er schien wirklich ALLES zu wissen, über mich, über meine Mütter, über sämtliche Produktionen der Niedersächsischen Staatsoper, über die ganze verrückte Welt.

NICHT zu wissen schien er lediglich, was man besser für sich behält, beispielsweise die kostümbildnerischen Anspielungen in der unfreiwilligen Bekleidung irgendwelcher Klassenkameradinnen. Und da er bei seinem Hopping durch die Schulen der Stadt ausgerechnet in MEINER Klasse gelandet war, wurde nun logischerweise automatisch ICH zu seiner Klassenkameradin.

Ich stand zum Denkmal erstarrt da. All meine Gedanken schrumpften zu Staubkörnchen zusammen und verwehten ins Nirgendwo. In meinem versteinerten Kopf hämmerte Metal. Und der Schmetterling in den Locken der Neuen, der sich eben in meine Richtung gedreht hatte, verwandelte sich zu einer Haarspange aus angelaufenem Silber und bunten Steinchen und rührte sich genauso wenig wie ich.

Als ich mich endlich wieder bewegen konnte, war Folgendes passiert:

Pietschi (unser Deutsch- und Musiklehrer Herr von Pietsch [der neuerdings auch unser Klassenlehrer ist]) hatte sich zu uns durchgekämpft und unter Lebensgefahren den Klassenraum aufgeschlossen. In der letzten Sekunde war er zur Seite gesprungen, um nicht überrannt zu werden, als nun alle Tische geentert wurden und nach dem Recht der Stärkeren und Schöneren eine Sitzordnung entstand, an der wahrscheinlich nicht mal die pädagogischen Maßnahmen sämtlicher Lehrer, die unsere Klasse unterrichten, würden rütteln können. Geschweige denn ich, die, noch ziemlich steif und benommen, hinterhergewankt kam.

Ich sah:

• Hinten saßen die Starken.

• In der Mitte saßen die Schönen.

• In der Mitte der Mitte saßen Mia und Frederike.

• Rechts von ihnen (neben der strunzdummen Sophie) saß die Neue.

• Vorne saß der Rest.

• Ganz vorne, am Deppentisch direkt vor Pietschis Lehrerpult, saß Moritz.

Der Platz neben ihm war frei. Es war der letzte freie Platz im ganzen Klassenraum.

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Gerade ist MaMi in mein Zimmer gekommen und hat gefragt, ob ich vielleicht Lust auf einen Spaziergang hätte.

Auf einen SPAZIERGANG!

Nicht etwa: auf einen Teller aufgewärmte Basilikum-Knoblauch-Spaghetti, liebevoll dekoriert mit frischer Kapuzinerkresse und Ringelblumenblüten aus Matrix’ Balkonzucht. Oder meinetwegen: auf eine Portion selbst gemachte Alabamacreme mit hauchdünnen Schokoraspeln und sehr viel Schlagsahne.

Nein, auf einen –

»Besten Dank«, hab ich nur gesagt.

MaMi hat mich komisch angeguckt. »Bedrückt dich irgendwas?«, hat sie gefragt.

»Ach, nööö«, hab ich geantwortet. »Die Welt ist wunderbar! Ich fühl mich fast so leicht wie Madame Butterfly, nachdem sie beschlossen hat, sich zu erdolchen.«

MaMi hat noch komischer geguckt.

»Kschsch!« Ich hab in Richtung Tür gezeigt.

Sie hat geguckt und geguckt.

Ich bin mit dem Schreibtischstuhl zu meiner Anlage gerollt und hab 21st Century Schizoid Man von Shining angestellt. Jørgen Munkeby hat begonnen zu brüllen.

Da ist sie geflohen und hat die Tür gründlich hinter sich zugeklinkt.

Von Spazierengehen war keine Rede mehr.

Und ich kann weiter von dem Elend schreiben, das heute über mich gekommen ist. Mit knurrendem Magen und genau derjenigen Musik in den Ohren, die ich loswerden wollte, damit das Schuljahr OHNE Elend beginnen kann.

Aaargh!

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Es war das übliche Ritual. Die beiden Neuen sollten sich ganz ungezwungen der Klasse vorstellen.

»Vielleicht mögt ihr ein bisschen –«, hat Pietschi gesagt und verlegen mit der Hand gewedelt, um die beiden nach vorne zu bitten.

Sämtliche Köpfe der 8b sind in die Höhe geschossen. Es wurde totenstill.

»In Ordnung.« Moritz ist aufgesprungen und hat sich an unserem Tisch vorbeigeschoben, als hätte er nur darauf gewartet, das Wort zu ergreifen. Allerdings hatte er nicht bemerkt, dass einer seiner ausgeleierten Klettverschlüsse aufgegangen war, ist mit vollem Schwung draufgetreten und hätte sich um ein Haar auf die Nase gelegt, wenn er nicht Pietschis Arm zu fassen gekriegt hätte. Nun war es Pietschi, der schwankte, und in die Stille im Klassenraum hat sich ein Kichern gemischt.

Aber Moritz hat sich seelenruhig hingehockt, ratsch, auch noch den anderen Klettverschluss geöffnet, seine Socken hochgezogen (offensichtlich darum bemüht, zumindest für kurze Zeit eine symmetrische Ordnung an seine Füße zu bringen) und hat die Klettbänder von Fusseln befreit, sie dabei immer wieder zurechtgeruckelt, um sie schließlich – Schläufchen auf Widerhäkchen, Schläufchen auf Widerhäkchen – mit den Unterbändern zu verschließen.

Das Kichern im Klassenzimmer wurde mit jedem Zurechtruckeln doller.

»Lore?«, hat Pietschi bittend gesagt, und das bedeutete, die Neue sollte den Anfang machen.

Sie stand auf.

Sie setzte den rechten Fuß vor den linken.

Sie setzte den linken Fuß vor den rechten.

Sie setzte den rechten Fuß wieder vor den linken.

Als sie vorne angekommen war, hat sie gesagt: »Ich heiße Lore Pfeifer und bin in den Sommerferien aus der Wedemark nach Hannover gezogen.«

Das war jetzt vielleicht noch nicht so wahnsinnig spannend, aber ich stellte es mir auch ziemlich grauenvoll vor, da vorne zwischen dem Sandalen schließenden Moritz und dem Ärmel zurechtzupfenden Pietschi zu stehen und vor einer versammelten Schulklasse über MICH zu reden.

Jedenfalls fand ich es schon mal außerordentlich sympathisch, dass Lore aus dem Umland (das MaMi und Matrix immer Speckgürtel nennen) nach Hannover gezogen war, jawohl. Und ich wollte unbedingt mehr über sie erfahren: Wo genau sie jetzt wohnt, was sie gern in ihrer Freizeit macht und welche Popstars sie gut findet. Um ihr mein Interesse zu bekunden, hab ich sie angelächelt. Ich hab so ermunternd ich konnte gelächelt. Mein Lächeln musste auf jeden Fall bei ihr ankommen.

Beziehungsweise: HÄTTE auf jeden Fall bei ihr ankommen MÜSSEN.

Wäre nicht Moritz im selben Augenblick (mit in fast übernatürlicher Perfektion verhakelten Klettverschlüssen) aufgestanden und hätte sich vor sie geschoben.

»Und ich heiße Moritz Spiekmann.« Er hat sehr ermuntert zu mir zurückgelächelt. »Ich bin noch nie umgezogen, aber ich hab trotzdem schon ein paar Schulen hinter mir und bin dort ’ner Menge Idioten begegnet.«

Hat er gesagt.

Dann hat er die Augen zu zwei Schlitzen zusammengekniffen und sich in der Klasse umgesehen. »Solchen, die die Leere ihrer Schädel mit der Breite ihrer Schultern kompensieren wollten.«

Hat er gesagt.

»Und solchen, die die Pflege ihres Aussehens mit der Entwicklung ihrer Intelligenz verwechselt haben.«

Hat er gesagt.

»Früher oder später haben wir immer Ärger miteinander bekommen. Aber ich bin mir sicher, solche Leute gibt’s in dieser Klasse zum Glück nicht, und wir werden uns alle super verstehen.«