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Tief unten im Meer, in den dunklen Wassern des Fjords, verbarg sich ein Geheimnis. Ein Geheimnis, von dem kein Mensch etwas wusste. Dort, wo der Hafen der kleinen Stadt ins offene Meer mündete, befand sich Lyckhav, die Welt der Unterwasserwesen. Sie erstreckte sich tief unter den grauen Schären und den grünen Holmen mit ihren Birken, Tannen und dem dichten Moos. Dennoch war es hier unten auf dem Meeresgrund nicht finster oder trüb. Dafür sorgten die vielen Laternenfische und Leuchtquallen, die Lyckhav in ein ganz besonderes warmes Licht tauchten. Im Sommer halfen ihnen die Sonnenstrahlen bei ihrer Arbeit. In den Wintern dagegen sorgten allein die leuchtenden Meeresbewohner dafür, dass die Welt unter Wasser auch während der dunklen Jahreszeit licht und hell blieb.

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Was für ein Glitzern! Was für ein Leuchten!

Nicht einmal die Fischer, die in ihren weißen Booten über die Wellen schipperten, ahnten, was sich unter ihnen verbarg.

Es war eine stille Welt, ruhig, friedlich und …

„Meja? Meja! Wie sieht es denn hier schon wieder aus?“ Frau Bläck, die strenge Lehrerin der Unterwasserschule Muschelkiste, ein Tintenfisch von gewaltigem Ausmaß, schrie entsetzt auf. „So eine Unordnung habe ich noch nie gesehen. Und dieser Schmutz überall! Unerhört!“

Ihr Blick wanderte von den Geschirrbergen, die sich auf dem Tisch stapelten, über ungemachte Nixenbetten, verstreute Kleidungsstücke und Spielzeug. Durch die Räume kugelten Perlen, die Meja für ihr Lieblingsspiel, das Unterwasserkegeln, benutzte. Eigentlich sah es in Mejas Zuhause herrlich kunterbunt und fröhlich aus. Aber natürlich nicht für eine Lehrerin, die den Kindern Anstand und Ordnung beibringen wollte! Meja jedoch ließ sich von dem Durcheinander nicht stören, denn sie war ein kleines Mädchen, ein Meermädchen. Aufräumen war für sie eine Unterbrechung ihres Spiels, völlig unwichtig.

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Deshalb kicherte Meja nur vergnügt, als sie Frau Bläck so schimpfen hörte. Und weil sie ein ziemlich pfiffiges Mädchen war, hatte sie auch gleich eine Antwort für die strenge Lehrerin: „Das ist keine Unordnung, Frau Bläck, das sind Experimente. Sieh mal!“ Sie deutete auf die schmutzigen Muscheltässchen, die sich turmhoch auf dem Esstisch stapelten. „Du weißt doch, dass meine Eltern Forscher sind, Frau Bläck. Das will ich später auch werden. Und deshalb muss ich genau untersuchen, wie hoch ich die schmutzigen Tassen stapeln kann, bevor sie umfallen. Bis jetzt sind es genau zwölf. Eine Tasse für jeden Tag, an dem Papa und Mama schon weg sind!“

Frau Bläck schüttelte fassungslos den Kopf.

„Und was die Spielzeuge betrifft, Frau Bläck, die haben mir versprochen, sich selbst aufzuräumen. Wirklich!“ Meja rollte mit den meergrünen Augen, während sie auf die kleinen Gold- und Silberkrabben deutete, die im ganzen Haus herumwuselten. „Aber sie wollen einfach nicht im Regal sitzen bleiben. Sie beschweren sich, dass es dort so, sooo langweilig ist.“

In diesem Moment stieß Frau Bläck einen schrillen Schrei aus und deutete auf ihre Handtasche. Meja beobachtete amüsiert, wie auf einmal alle Krabben darin verschwanden.

„Siehst du, Frau Bläck!“ Meja lachte. „Sie räumen sich doch auf.“

Mit einem energischen Schwenk schüttelte die Lehrerin ihre Handtasche mit allen Krabben wieder aus. „Kindchen, du und deine Ausreden. So kann es wirklich nicht weitergehen.“ Frau Bläck fächelte sich mit einem ihrer Tentakel kühles Wasser ins erhitzte Gesicht. „Sieh mal: Hier habe ich dir ein wunderbares Buch mitgebracht. Darin kannst du genau nachlesen, wie man eine ordentliche Meerjungfrau wird. Und wenn du nur endlich in die Schule kommen würdest, dann …“

„Pffff.“ Meja schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre wilden, langen Haare hin und her flogen. „Das würde ich ja gern tun“, flunkerte sie, denn auf Schule hatte das Meermädchen in Wirklichkeit gar keine Lust, „aber ich habe leider so, sooo viel zu tun, Frau Bläck, weißt du. Ich muss das Nixenkraut im Vorgarten umgraben, meine Leuchtquallen füttern und mich um Mamas Nautilus kümmern. Da bleibt keine Zeit für die Schule.“ Frau Bläck kniff die Augen zusammen, wie sie es immer tat, wenn ihr etwas ganz und gar nicht gefiel. „Ach ja, deine Eltern. Was haben sie sich nur dabei gedacht, ein so kleines Mädchen wie dich ganz allein hier zurückzulassen?“

„Aber ich bin doch nicht allein, Frau Bläck. Du irrst dich!“, protestierte Meja. „Ich habe meine Freunde.“

„Und wer macht dir etwas zu essen?“, fragte die Lehrerin. „Wenn deine lieben, aber sehr, sehr nachlässigen Eltern noch ein paar Tage länger weg sind, verhungerst du mir bald!“ Die Lehrerin schüttelte den Kopf und zauberte gleichzeitig hinter ihrem Rücken eine Schüssel hervor. „Aber das lasse ich natürlich nicht zu. Und darum habe ich dir etwas Feines zu essen mitgebracht.“ Sie hielt Meja die Schüssel direkt unter die Nase.

„Bäh! Igitt, pfui, puähhh! Auf gar keinen Fall esse ich dieses grüne Glibberzeug!“ Mejas Augen blitzten. „Pfui Qualle! Nie, nie, nie. Niemals!“

Das Meermädchen schlug so heftig mit dem Schwanz, dass das Wasser brodelte und die gemütliche Hängematte stürmisch herumschaukelte. Beinahe wäre Lille, Mejas kleiner Seestern, der als Nachtlicht an der Decke über ihrem Schlafplatz klebte, heruntergepurzelt.

„Algenglibber? Nie, niiiemals!“ Meja verschränkte trotzig die Arme.

Herrje, das passte der strengen Frau Bläck natürlich überhaupt nicht. Sie schnaufte, sie seufzte, sie brummte und sie grummelte. Dabei wiegte sie missbilligend den Kopf hin und her.

„Aber, Meja“, sagte sie schließlich mit ernster Lehrerinnenstimme, „das ist ganz wunderbare und sehr gesunde Algengrütze. Und du bist ein Mädchen, das noch wächst. Du brauchst dringend Vitamine!“

Meja verzog den Mund, während sie in die Suppenschüssel starrte. Pfui Grottenolm, das sah ja furchtbar aus. Und wie das stank, igittigitt! Meja hielt sich mit Daumen und Zeigefinger die Nase zu, weil sie den Geruch einfach nicht mehr ertragen konnte. Es war ja nicht so, dass sie nicht gern aß. In der Unterwasserwelt gab es jede Menge leckere Sachen, die Meja richtig gut schmeckten. Aber mit Sicherheit nicht dieser grüne Gemüseglibber.

Frau Bläck schaute Meja streng an und kniff schon wieder ihre kleinen Augen zusammen. Oder immer noch. Meja war sich da nicht ganz sicher. „So, du Wasserfloh, und jetzt setzt du dich bitte brav an den Tisch und isst“, forderte sie resolut. „Sonst wirst du mir am Ende noch krank.“

Wasserfloh?

Meja stemmte die Hände in die Hüften und streckte ihr Kinn vor. „Ich bin kein Wasserfloh! Und sowieso brauche ich deine grüne Grütze nicht, Frau Bläck. Mama und Papa haben mir nämlich eine ganze Truhe mit Perlen dagelassen, damit ich mir etwas Ordentliches zu essen kaufen kann. Und außerdem kommt es beim Essen nicht nur darauf an, was man isst, sondern auch, mit wem. Und deshalb muss ich dich jetzt leider verlassen, liebe Frau Lehrerin!“

Meja paddelte durch den Raum, war schon bei der mächtigen Kommode, die mit vielen bunten Muscheln geschmückt war, und zauberte – schwupp – ein Beutelchen aus der Schublade hervor. Sie pflückte Lille von der Decke und hängte den Seestern an die Kette, die sie um ihren Hals trug.

Lille war etwas ganz Besonderes. Mejas Eltern hatten ihrer Tochter den sprechenden Seestern geschenkt, kurz bevor sie zu ihrer Reise aufgebrochen waren. Seither trug Meja ihn um den Hals. Jeden Tag. Genauso wie sie es ihren Eltern versprochen hatte.

„Schließlich bin ich eine brave Tochter und halte mich ganz genau daran, was Mama und Papa mir gesagt haben.“ Meja rollte so wild mit den meergrünen Augen, dass der Lehrerin ganz schwindelig wurde. „Das verstehst du doch sicher, Frau Bläck, oder?“

Die Lehrerin klappte den Mund auf. Aber bevor sie etwas sagen konnte, plapperte Meja schon weiter. „Auf seine Eltern soll man hören. Also schwimme ich jetzt geschwind zum Kugelfisch und hole mir eine große Portion Schlammkekse. Die Grütze musst du leider allein essen. Schwipp-schwapp, ich bin jetzt weg! Ahoi, Frau Bläck!“ Noch bevor die Lehrerin sie mit einem ihrer Fangarme packen und zurückhalten konnte, war Meja verschwunden.

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Im Rauschen des Meeres gingen die Ermahnungen der empörten Frau Bläck beinahe unter. „Aber, Meja, so benimmt sich doch kein ordentliches Meermädchen! In der Schule warst du bisher auch nur ein einziges Mal, nämlich am Tag deiner Einschulung. Ein einziges Mal!“ Frau Bläck räusperte sich. „Das ist jetzt beinahe zwei Wochen her. Wenn deine Eltern das wüssten, wären sie bestimmt nicht froh darüber. So kann das wirklich nicht weitergehen. Hast du mich verstanden? Das ist unerhört, ganz und gar unerhört, Meja Meergrün!“

Gehört hatte das Meermädchen schon, was Frau Bläck ihm zugerufen hatte. Aber darauf hören wollte es dennoch nicht. Und vielleicht musste man das ja auch überhaupt nicht. Wenn man sich zum Beispiel aus Seetang flugs zwei kleine Stöpselchen zurechtformte und sich die dann in die Ohren steckte, dann konnte man nichts mehr hören. Fast nichts. So einfach war das. Schwipp-schwapp!

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Vergnügt schwamm Meja durch Lyckhav, ihr Zuhause, das sie so sehr liebte. Vorbei an den Häusern der Stadt, prächtig mit Algen und Meereslilien bewachsen. Hinweg über die verträumten Regenbogenschwämme. Wie eine Sammlung schmaler, bunter Vasen sahen sie aus. Als ob sie darauf warteten, dass Meja sogleich ein paar Algenstängel hineinsteckte. Und überall war da dieses Licht. Dieses helle Leuchten, das Meja am Tag begleitete. Ein Leuchten, das bis in die Herzen drang und die Bewohner von Lyckhav glücklich machte. Und deshalb war das Licht auch so wichtig, denn hier in Lyckhav sollte jeder so glücklich wie nur möglich sein.

„Hej, hej!“, rief Meja einer Horde Seepferdchen zu.

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Doch die Pferdchen waren viel zu sehr mit Fangenspielen beschäftigt und erwiderten Mejas Gruß nicht. Kichernd schwamm Meja weiter und machte einfach das, was sie am liebsten tat. Meja war nämlich eine Weltenerkunderin. Sie konnte sich gar nicht sattsehen an den bunten Quallen, dem saftigen Meersalat oder dem lilagrünen Seegras, das träge im Wasser schaukelte. Ganz besonders faszinierten sie immer wieder die blauen Rochen, die übrigens nur in Lyckhav blau waren. Meja warf einen Blick durchs Fenster der Unterwasserschule Muschelkiste. Überall saßen kleine Meermädchen an langen Tischen und fädelten Perlen für hübsche Ketten auf, spielten mit ihren Goldkrabben oder ließen sich Geschichten vorlesen. Sehr niedlich. Nur leider auch viel zu brav! Und viel, viel zu langweilig für Meja! Am liebsten betrachtete sie ohnehin das lustige Treiben auf dem Fischmarkt: die bunten Verkaufsstände, die vielen Händler – eben all die Bewohner Lyckhavs, die hierhergekommen waren, um einzukaufen und sich zu unterhalten, zu plappern und rattern, zu blubbern, zu lachen und natürlich um zusammen zu essen. Ach, wie sehr Meja es doch mochte, auf dem Marktplatz herumzustromern. Sie konnte gar nicht genug davon kriegen.

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Meja schwamm kreuz und quer, rief hier einer Marktfrau fröhlich „Ahoi“ zu, nickte da lachend in die Runde von Fangzahnfischen, winkte, zog ein paar Grimassen, war heiter und sorglos. Das Leben war wirklich schön, fand sie. So wunderbar und farbenfroh, so spannend und unterhaltsam.

Als sie am Stand der netten Frau Knubbig, einer gemütlichen Seekuh, vorbeikam, die dort täglich ihre duftenden Seegrasbrötchen verkaufte, fiel Mejas Blick auf eine sonderbare dunkle Stelle hinter dem Stand. Meja runzelte die Stirn. Denn eigentlich machten die Beleuchter Lyckhavs allesamt einen prima Job – sie sorgten für Licht. Überall. Warm. Hell und sicher. IMMER! In Lyckhav gab es keine dunklen Flecken.

„Siehst du das auch, Lille?“, sagte Meja zu ihrem Seesternchen. „Schon komisch, oder?“

Doch der kleine Kerl antwortete nicht. Wahrscheinlich schlief er. Wie immer. Und womöglich bildete sie sich das Ganze auch nur ein. Besonders gut hatte sie letzte Nacht nämlich nicht geschlafen und dann der frühe Besuch von Frau Bläck … Da konnte man schon mal so verwirrt sein, dass man komische Dinge sah. Und auch hörte! Irgendwie klang heute Morgen alles ganz anders in Mejas vertrauter Welt. Das Knirschen und Knurren, das Trommeln und Pupsen der Fische hörte sich nicht an wie sonst. Ganz fremd. Ganz merkwürdig. So dumpf und weit weg.

Irritiert schwamm Meja weiter. Am Anfang des Riffs, dort wo sich die Seeanemonenfelder ausbreiteten, stand der Kiosk des Kugelfisches Brillo. Hier verkaufte er seine köstlichen Schlammkekse, für die Meja kilometerweit geschwommen wäre.

„Ahoi, Brillo!“, rief Meja ihm zu und freute sich schon auf die Antwort, mit der er sie immer begrüßte: „Hunger, kleines Meermädchen?“

Aber heute nicht. Heute war alles anders. Heute klang Brillo, als hätte er einen Seeigel verschluckt. Komisch!

Die kleine Meerjungfrau sah ihn verwundert an.

Huha klunkigars Mährmättchen? Wie komisch redete Brillo denn auf einmal? Und warum stiegen aus seinem Maul jede Menge bunte Blubberblasen, aber keine richtigen Töne mehr? Was war bloß mit Brillo los?

Der Kugelfisch pumpte sich ungeduldig auf. „Mäha! Hötunich?“

Meja betrachtete ihn von allen Seiten. Seltsam. Womöglich hatte er sich eine schlimme Krankheit eingefangen, irgendein Wasservirus oder so. „Mäha! Nihmti Stöhöbsäl austenoren“, knurrte Brillo.

Meja runzelte die Stirn. Sprach Brillo auf einmal eine andere Sprache? Erst als sie sah, dass der Kugelfisch wie verrückt vor ihr auf und ab hüpfte und mit dem Kopf auf Mejas Ohren deutete, verstand sie endlich. Verflixter Taschenkrebs, sie hatte ja noch immer die Seetangstöpsel in ihren Ohren stecken.

Schwipp-schwapp – raus damit!

„Meja! Kannst du mich jetzt hören?“, brüllte Brillo.

„Autsch! Schrei doch nicht so! Da wird mir ganz schwummrig, wenn du so plärrst“, quietschte Meja. „Natürlich kann ich dich hören. Hab ja schließlich nichts an den Ohren … äh, ich meine, in den Ohren … zumindest keine Stöpsel mehr …“

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„Stöpsel in den Ohren? Das kenne ich nur von meiner Großmutter Gösa. Die hat sie sich immer reingestopft, wenn Großvater Gris wieder geschnarcht hat.“ Brillo kicherte. „Aber wozu soll das denn bitte schön bei dir gut sein? Lernt man so etwas in der Schule, Meermädchen?“

Muschelkiste

Sie musste es sich noch mal von Nahem ansehen. Schließlich war sie die Tochter berühmter Forscher und das Nachforschen war ihr in die Wiege gelegt worden.

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