ISBN eBook: 978-3-649-62526-1

© 2016 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,

Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Text: Kyra Dittmann,

Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie, Zürich

Lektorat: Frauke Reitze

www.coppenrath.de

Das Buch erscheint unter der ISBN 978-3-649-62344-1

Danksagung

… und am Ende bleibt immer das dankbare Gefühl, dass es auf dem langen Weg von der Idee zum Buch so viele liebe Menschen und glückliche Zufälle gab … dass es eigentlich an ein Wunder grenzt.

In welcher Reihenfolge sich diese Wunder abspielten, ist unmöglich nachzuvollziehen, deshalb fange ich wie immer mit meiner Familie an, die sowieso die beste ist! Was würde ich nur ohne euch tun?

Liebe Katrin, du hast in jedem Fall ein einzigartiges Gespür für den besonderen Augenblick, den es im Leben eines Autors braucht, um für die vielen Buchideen ein Zuhause zu finden. Danke, dass du ihn genutzt hast.

Liebe Frauke, du hast das Äußerste aus mir herausgeholt und Roxys Geschichte das sprichwörtliche i-Tüpfelchen aufgesetzt – ohne dich wäre dieses Buch nicht so besonders geworden!

Special thanks to Kate, someday I will visit your wonderful boutique!

Tja, und Britta, du wusstest es ja sowieso. Ohne dich wäre ich nie auf die Idee gekommen, ein Pferdebuch zu schreiben – obwohl sich doch mein halbes Leben nur um Pferde dreht.

Aber manchmal dauert es eben etwas, bis man sein Zuhause gefunden hat …

Kyra Dittmann wurde 1972 in Bonn geboren. Nach einer Schreinerlehre arbeitete sie viele Jahre im Handwerk, bis sie 2010 ihre beruflichen Weichen neu stellte. Sie absolvierte diverse Schreib- und Drehbuchseminare, unter anderem am Filmhaus Köln, und arbeitet heute als freie Autorin, Reitlehrerin und Eventmanagerin für Kinder.

»Dark Horse Mountain« ist der erste Pferderoman der begeisterten Reiterin, die in ihren Büchern besonderen Wert auf spannende Unterhaltung legt. Sie lebt mit ihrem Mann und den fünfzehnjährigen Zwillingstöchtern in Bonn – im fliegenden Wechsel zwischen Schreibtisch und Stall.

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Epilog

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»Ich habe keine Lust mehr«, sagte ich fest.

Erstaunlicherweise entlockte Cale das ein Lächeln. »Gut. Ich auch nicht. Gehen wir auf den Heuboden, dann fällt niemandem auf, dass wir schwänzen.«

Wir hatten uns in die Stallarbeit geflüchtet, um dem Trubel in der Küche zu entgehen. Mams und Gero waren überraschend aufgekreuzt, um sich von meiner Unversehrtheit zu überzeugen. Mams hatte sich bei mir und bei Dad für ihre jahrelangen Lügen entschuldigt. Wir hatten ein langes Gespräch geführt, worin sie mir ihre Ängste gestanden hatte, mich womöglich an Dad zu verlieren, wenn ich erführe, dass er ein cooler Pferderancher in Amerika war.

Ich hatte mir Bedenkzeit erbeten – und ein wenig Abstand. Und so hatte sie mir erlaubt, ein Auslandsjahr bei Dad in Wyoming zu verbringen. Zufrieden lächelnd erklomm ich die Sprossen zum Heuboden. Ich musste mich weder von Coffee noch von Cale verabschieden und konnte noch ein bisschen die amerikanischen Gewohnheiten studieren.

Cale folgte mir die Leiter hinauf. Der dicke Verband der letzten Wochen war verschwunden, der Arzt hatte gegen Bewegung nichts mehr einzuwenden gehabt.

Die Stallarbeit, die mittlerweile mehr zu einer Ferienbeschäftigung geworden war, hatten wir für heute längst erledigt. Seltsamerweise hatte es in den vergangenen Tagen sowieso kaum noch Boxen auszumisten gegeben. Dabei hatte sich die Menge der Pferde, die im Stall standen, allerdings keineswegs verändert.

»Ich muss dir etwas gestehen«, sagte Cale und ließ sich neben mir ins Heu fallen.

Ich versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, was er mir nun wieder zu beichten hatte. Doch seine Mimik blieb undurchdringlich.

»Was denn?«, fragte ich unsicher. Hatte er am Ende vielleicht eine Freundin oder so?

»Ich habe dich ein bisschen ausgetrickst.« Auf alles gefasst, erwartete ich die Erklärung. »Die Sache mit dem Mist …«, fuhr er zögernd fort, »das war inszeniert.«

»Was?« Ungläubig starrte ich ihn an. »Wie meinst du das?«

»Na ja«, druckste er herum. »Es hat mir, ehrlich gesagt, unheimlichen Spaß gemacht, dich beim Ausmisten zu beobachten. Und ich habe noch nie eine so super Gelegenheit gehabt, den Retter zu spielen, wie an dem Tag, als du in den Misthaufen gefallen bist.« Er grinste vorsichtig. »Ich habe heimlich den Mist wieder zurückgefahren, damit wir immer genug zu tun hatten.«

»Das meinst du nicht ernst!«

»Doch.« Er sah mich halb schmunzelnd, halb ängstlich an. »Verzeihst du mir?«

»In diesem Leben nicht mehr.« Energisch schüttelte ich den Kopf, dann stieß ich ihn ohne Vorwarnung den Heuballen hinunter, auf den wir geklettert waren.

Lachend packte Cale mich, zog mich an sich und hielt mich fest. Hatte ich jemals behauptet, dass es im Heu nicht romantisch war?

»Meinst du, dein Dad gibt mir mal einen Tag Urlaub? Dann könnten wir zum Yellowstone Lake zum Schwimmen fahren. Allein. Nur du und ich.«

Sein verschmitztes Lächeln löste wie so oft ein Kribbeln in meinem Bauch aus.

»Klar, wieso nicht?«, erwiderte ich und versuchte, locker zu klingen bei der Vorstellung, mit Cale schwimmen zu gehen.

Morgen würde sein Dad wieder auf Wide Creek anfangen und den neuen Bereiter anleiten, der ihn unterstützte, solange er eine Therapie machte.

Denn das hatte er versprochen, nachdem mein Vater ihm einen langen Besuch abgestattet und ihm Cales Lage klargemacht hatte – und auch, dass er ihn auf dem Hof brauchte.

»Ich bin echt froh, dass ich mit Liam geredet habe«, sagte Cale leise. »Dad war nach dem Unfall und dem Tod meiner Mutter nicht mehr er selbst. Und trotz des steifen Beins kann er ja immer noch viele Arbeiten erledigen.« Eine nachdenkliche Falte grub sich in seine Stirn. »Vielleicht müssen wir aber abwarten, ob der Sheriff mich noch mal sprechen will«, fügte er hinzu.

»Glaub ich nicht«, erwiderte ich zuversichtlich.

Der gesamte Verbrecherring war aufgeflogen. Mayson hatte zugegeben, Miss Marmelade gestohlen und den Traktor manipuliert zu haben, um während unserer Abwesenheit freie Bahn auf der Ranch zu haben. Auch eine Reihe anderer Delikte im Zusammenhang mit den Pferdediebstählen hatte er gestanden.

Die Polizei hatte aber nicht nur Mayson und Clifford, sondern auch die Kontaktmänner in Saudi-Arabien und Russland festgenommen. Wir hatten ganze Arbeit geleistet.

»Der Sheriff kommt höchstens vorbei, um dir eine Belohnung für deine wertvollen Hinweise zu überreichen«, beruhigte ich Cale, der sich nicht gescheut hatte, gegen die Bande auszusagen. »Und Dad hat versprochen, dass Coffee für seinen kriminalistischen Spürsinn eine extra Portion Heu und eine eigene Weide bekommt.« Ich zwinkerte fröhlich. »Ich wette, Coffee hat die ganze Zeit über gewusst, was Mayson im Schilde führte. Schließlich kannte er ihn von dem früheren Besitzer her.«

Cale nickte. »Du kannst stolz auf dein Pferd sein. Allerdings hätte Coffee auch ein schweres Los gezogen, wenn er seiner neuen Besitzerin nicht gewachsen wäre.« Er knuffte mich. »Vielleicht wird ja doch noch eine Reiterin aus dir?«

»Mal sehen!« Ich lachte, als ich an meine Reitstunde bei Cale dachte. »Da fällt mir ein, dass ich eigentlich noch einen Wunsch frei habe …«

Weiter kam ich nicht, weil seine Lippen meinen Mund mit einem der besten Cowboyküsse des Universums verschlossen.

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Prolog

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Energisch lenkte er den Wagen über den holprigen Weg. Verdammt, warum spielte ausgerechnet heute das Wetter nicht mit?! In der Vorhersage war starker Regen gemeldet worden, der für sein Vorhaben durchaus nützlich sein konnte. Von Sturm und Gewitter hatte der affige Wetterfritze allerdings nichts gesagt.

Ein heftiger Ruck erschütterte die Achse, als der Hänger durch ein Schlagloch fuhr. Der anhaltende Regen hatte die Unebenheiten der Straße noch weiter ausgeschwemmt – der Tag war für das Vorhaben doch nicht so glücklich gewählt. Aber sein Auftraggeber hatte ordentlich Druck ausgeübt und würde die Summe sogar verdoppeln, falls es ihm gelang, den Hengst bis zur nächsten Auktion herbeizuschaffen. Al Shahib wollte von jeder Farbvariante ein Pferd in seinem Stall stehen sehen, das war ihm vierzigtausend Dirham extra wert. Mehr als zehntausend Dollar. Die Araber waren wirklich verrückt. Als Geschäftspartner mochte er die Russen deutlich lieber. Aber ob Russen, Araber oder spleenige Europäer – leider war er nicht in der Position, selbst bestimmen zu können, mit wem er verhandeln wollte. Er unterstand immer noch dem Rancher. Nach diesem Deal würde sich das hoffentlich ändern.

Ein Wasserschwall ergoss sich über die Windschutzscheibe, als eine besonders starke Böe durch die Bäume am Wegrand fegte. Die Stämme bogen sich und die Äste schlugen gefährlich tief aus. Er konnte gerade noch ausweichen und verhindern, dass der Hänger stärker ins Schlingern geriet.

Den unberechenbaren Hengst, der sich darin befand, hatte er nur widerwillig mitgenommen. Wenige Pferde behielten so hartnäckig ihren Willen wie er. Die meisten brachen nach ein paar Monaten seines »Trainings« ein und wurden zu sanften Lämmern. Die Käufer merkten zum Glück erst zu spät, dass dabei meist die Eleganz der Tiere verloren ging. Ein gebrochener Wille beeinträchtigte auf Dauer eben auch das Äußere: Das Fell verlor seinen Glanz, die Muskeln bildeten sich zurück und die Augen blickten nur noch trüb und stur geradeaus.

Aber ihm konnte das egal sein. Hauptsache, die Bezahlung stimmte. Pferde bedeuteten ihm ohnehin nichts – sie waren nutzloses Vieh, das weder Milch noch Fleisch lieferte und damit kaum einem Zweck diente. Ein Glück, dass es dennoch genug dumme Menschen gab, die viel Geld für die hochgepriesene Schönheit dieser Tiere auf die Theke legten. Solange das alles in sein Portemonnaie wanderte, würde er sich nicht beschweren.

Er krampfte die Finger fester um das Lenkrad. Der Regen nahm zu. Er musste den Scheibenwischer auf Höchstleistung stellen, damit er überhaupt noch etwas sehen konnte. Gefährlich nahe tauchte der Graben neben ihm auf – beinahe wäre er von der schlammigen Straße abgekommen. Verbissen lenkte er den Geländewagen zurück in die Mitte der Spur, als plötzlich ein Baum auf ihn herabsauste.

Er riss das Lenkrad herum, geriet ins Schleudern und spürte, wie ihm der Hänger den Boden unter dem Arsch wegzog. Der Wagen kippte zur Seite und überschlug sich. Mit einem ohrenbetäubenden Krach riss die Kupplung aus ihrer Verankerung, und aus den Augenwinkeln sah er gerade noch, wie der Anhänger an seinem Fahrzeug vorbeischoss. Dann raubte der Aufprall ihm die Sicht. Der Airbag explodierte wie ein Faustschlag vor seiner Nase und fing die Splitter der Windschutzscheibe ab. Das Seitenfenster barst, die Karosserie drückte sich ein und der Motor erstarb mit einem klagenden Laut.

Verfluchte Scheiße!

Er rappelte sich auf. Mit großer Anstrengung gelang es ihm, aus dem verzogenen Wagen zu klettern. Immerhin waren seine Knochen heil geblieben! Das Auto samt Hänger konnte er allerdings vergessen. Und wie sollte er bloß seinem Chef erklären, dass er mitten in der Nacht mit dem teuersten Zuchthengst durch den Orkan gefahren war? Er würde sich einen neuen Job suchen müssen, bei dem er sein lukratives Nebengeschäft weiter betreiben konnte.

Er lief zu dem Hänger, der im Graben gelandet war. Leises Poltern drang aus dem Inneren. Das Tier lebte offensichtlich noch.

Er rutschte durch den Matsch die Böschung hinunter und fingerte fluchend an der Verriegelung der Heckklappe herum. Nur mit Mühe gelang es ihm, den Hebel umzulegen und die Laderampe zu öffnen.

Das Pferd lag auf der Seite und stierte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Er musste den Gaul unbedingt wieder auf die Beine kriegen! Ein totes Pferd brachte keinen Cent. Mit einem kräftigen Schlag gegen die Klappe versetzte er dem Tier einen derartigen Schreck, dass es mühsam auf die Beine kam und sich mit schlitternden Hufen aus dem Hänger kämpfte.

Der Strick, mit dem er es angebunden hatte, hing noch an einem Teil der Seitenwand fest, die hinter dem verstörten Pferd herschleifte. Er trat heftig auf das Brett und wie vom Blitz getroffen blieb das Tier in Schockstarre stehen. Sein rotbraunes Fell glänzte dunkel im Regen. Schlammspuren zogen sich über den zitternden Körper.

Er musste sich eine wirklich gute Ausrede zurechtlegen, um diesen Unfall zu erklären. Aber außer dem tosenden Unwetter war der verdammte Gaul der einzige Zeuge dessen, was in dieser Nacht passiert war.

Kyra Dittmann

Dark Horse Mountain

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Yin und Yang

Ich hatte gleich gesagt, dass es eine Schnapsidee war, die Campingtour genauso durchzuziehen, wie wir sie geplant hatten. Aber auf mich hörte ja wieder keiner. Schon gar nicht die Jungs.

Wir sollten uns mal nicht so anstellen, meinte Löti. Das bisschen Regen würde uns schon nicht den Spaß verderben. Nein, mir verdarb der Regen nicht den Spaß – aber er kannte doch die anderen Mädels!

Ich wusste natürlich, warum die Jungs unsern Trip auf keinen Fall abblasen wollten. Es war die letzte Möglichkeit, zusammen etwas wirklich Cooles zu unternehmen, bevor alles anders werden würde.

Unsere gemeinsame Schulzeit war zu Ende …

Nun saßen wir allerdings erst mal in der Aula, aufgehübscht bis zum Gehtnichtmehr. Wie lange hatten wir auf diesen Augenblick gewartet! Vorn auf der Bühne stand Herr Theisen, unser Schulleiter, wie immer adrett gekleidet, das silbergraue Haar lässig, aber perfekt frisiert. Sein Lächeln kam ehrlich rüber. Man kaufte ihm ab, dass er froh war, dass wir alle mit einem Abschluss von der Schule gingen. Auch die Wackelkandidaten hatten es letztendlich knapp geschafft.

Neben ihm unser Klassenlehrer, etwas konfus, mit ungeputzter Brille, aber heute zumindest im Sakko. Ich würde ihn vermissen, unseren Herrn Bohn, von uns auch liebevoll Mr. Bean genannt. Er hatte das Herz auf dem rechten Fleck. Und er konnte gut Mathe erklären.

Unsere Parallelklasse dagegen war vermutlich nicht allzu traurig, ihre Klassenlehrerin endlich los zu sein. Inga Goldmann mit spitzer Nase und spitzem Mund hatte ein ebenso spitzes und falsches Lächeln aufgesetzt, als sie nun ihren Schützlingen das Entlasszeugnis überreichte. Einem nach dem anderen.

Vom Rektor gab es dazu einen festen Händedruck und eine rosafarbene Rose.

Ich war froh, dass ich im Alphabet erst irgendwann in der Mitte kam. Und jetzt war eh erst die Parallelklasse dran. So hatte ich Gelegenheit, mich ein wenig abzulenken, indem ich meinen Blick durch die Reihen schweifen ließ. All die stolzen Eltern! Manche fingerten nervös am Programmheft herum, den Blick fest auf die Bühne geheftet.

Über einige der Jungs musste ich grinsen. Man sah ihnen an, dass sie sich völlig deplatziert fühlten in ihren schicken Anzügen und kaum wussten, wie sie sich darin bewegen sollten. Das war schon ziemlich schräg. Der Weg nach vorn, wo Frau Goldmann ihnen das langersehnte Stück Papier in die Hand drückte, musste ihnen vorkommen wie ein kilometerlanger Balanceakt über den Schwebebalken. Auf dem Rückweg zum Platz der krampfhafte Versuch, lässig zu wirken, das verlegene Lächeln im hochroten Gesicht und dann noch mit einer Rose in der Hand – wie peinlich! Der Anblick war unbezahlbar.

Und erst die Mädchen! Ich wusste, dass einige von ihnen mehrere Stunden beim Friseur zugebracht hatten – ziemlich affig. Es waren dieselben, die sich ständig in ihren Posts im Internet ein zuckersüßes »Du Schöne«, »Du Süße« oder »Lieb dich, du Bezaubernde« schenkten, wenn sie mal wieder frisch gestylt ein neues Profilbild hochgeladen hatten. Ich fand dieses Getue megapeinlich. Aber ich hielt mich mit Kommentaren zurück.

Zugegeben: Auch ich, der es sonst herzlich egal war, wenn bei meinen Ausritten mit Djego der Nieselregen meine Haare an den Kopf klebte oder wie Sauerkraut kringelte – auch ich hatte mir heute Morgen besondere Mühe beim Föhnen gegeben und sogar ein bisschen von Mamas Haarspray über die Frisur genebelt, damit nicht alles gleich wieder zusammenfiel wie ein Käsesoufflé, das man zu hastig aus dem Ofen genommen hatte. Ich fand mich in dem weinroten Etuikleid und den halbhohen Pumps sogar ziemlich sexy, obwohl ich sonst eher Jeans und Stiefel bevorzugte – praktische Stallkleidung halt. Für heute war dieses Outfit perfekt und ich fühlte mich sogar richtig wohl darin.

Aber uns allen ging es in diesem Moment vermutlich ähnlich: die Hände eisig, die Achseln verschwitzt, der Kopf heiß, unangenehm kalter Schweiß auf dem Rücken. Das war die Aufregung.

Mama saß neben mir. Sie trug einen schicken schlammfarbenen Leinen-Hosenanzug und schenkte mir ein warmes Lächeln. Sie war so stolz, dass ich einen guten Schulabschluss gemacht hatte, mit dem mich lockerflockig jede Fachoberschule nehmen würde! Denn das war der Plan. Nach den Ferien würde ich weiter zur Schule gehen. Aber das war noch weit hin, dazwischen lagen die Ferien: Sonne, Urlaub, Lesen, Nichtstun – und vor allem Reiten.

Mama durfte wirklich stolz sein, denn es war auch ihr Verdienst. Sie unterstützte mich, wo sie konnte. Und das war oft nicht leicht gewesen. So manchen Abend hatte sie mit mir zusammengesessen und für die Schule gebüffelt, obwohl sie nach einem anstrengenden Acht-Stunden-Tag im Planungsbüro müde gewesen war.

Auch Manuel hatte sich heute freigenommen. Ich fand es nett von ihm, dass er diesen Moment mit uns teilen wollte. Er war schon okay, Mamas Freund. Manchmal vielleicht etwas anstrengend. Aber okay.

Plötzlich spürte ich Mamas spitzen Ellenbogen in den Rippen und Herr Bohn sagte meinen Namen ins Mikrofon. »Jana Köhnen, kommst du bitte nach vorn?«

Ich sprang auf, knallte meiner Mutter die kleine Handtasche auf den Schoß, die ich zum Schulabschluss von meinem Patenonkel Stefan geschenkt bekommen hatte, und huschte durch die Stuhlreihe zum Gang und weiter nach vorn.

»Gut gemacht, Jana, ein tolles Zeugnis«, lobte Herr Bohn.

Als er mir mein Abschlusszeugnis überreichen wollte, glitt es ihm, unbeholfen, wie er manchmal war, beinahe aus der Hand. Mein Arm schnellte nach vorn und meine Finger konnten gerade noch nach dem Zeugnis schnappen, bevor es zu Boden segelte.

»Gute Reflexe!«, lachte Herr Bohn. Sein abgewetztes Sakko verströmte kalten Zigarrengeruch. »Und ein ›Sehr gut‹ in Mathematik«, konnte er sich nicht verkneifen zu erwähnen.

Es war mir nicht einmal unangenehm, wie ich da stand und mir nun den Glückwunsch des Rektors und die schöne altrosa Rose abholte. Denn auf die Eins in Mathe war ich besonders stolz. »Ist Ihr Verdienst«, hätte ich gern noch zu Herrn Bohn gesagt, aber ich war dann auch lang genug vorn gewesen und wollte die Bühne frei machen für den Nächsten.

Und das war Marc.

Mit federnden Schritten kam er mir auf dem Gang entgegen, als ich zu meinem Platz zurücklief. Seine aschblonden Locken tanzten um sein Gesicht und er zwinkerte mir zu.

Die letzten Meter bis zu meinem Platz schwebte ich. Manuel drückte kurz meinen Arm und lächelte mich an, und als ich mich neben Mama auf meinen Stuhl plumpsen ließ, umarmte sie mich stürmisch und drückte mir einen dicken Kuss auf die Backe.

»Mama!«, stöhnte ich. »Du zerknitterst mein Zeugnis!«

»Oh, sorry!« Mama kicherte wie ein junges Mädchen in sich hinein. Und kicherte noch, als sie sich wieder zurücklehnte.

Ich schloss für einen Moment die Augen und überlegte, seit wann mein Herz so heftig schlug, wenn ich Marc begegnete. Schließlich kannten wir uns schon seit einer gefühlten Ewigkeit. Dann machte ich die Augen schnell wieder auf, denn ich wollte nicht verpassen, wie Herr Bohn ihm das Zeugnis überreichte und Marc danach zu seinem Platz zurückging. Mit federnden Schritten. Und tanzenden Locken.

Ich brauchte dringend frische Luft.

Als ich die schwere Metalltür zum hinteren Schulhof aufschob, schlug mir die Kälte wie eine Wand entgegen, und sogleich bildete sich eine Nebelwolke vor meinem Mund, in die ich übermütig hineinpustete. Tief sog ich die Luft ein. Ich hätte nicht gedacht, dass es dermaßen abkühlen würde!

Gedämpfte Bässe wummerten durch die Nacht. Die Abschlussparty war in vollem Gange. Aus den Fenstern der Aula flackerte buntes Licht auf die grauen Pflastersteine.

Weil ich vom Tanzen so erhitzt war, legte sich die kalte Luft wie eine eisige Schicht auf meine Haut. Ich schauderte.

Dana und Sophie waren mir gefolgt. Sie waren genauso aufgekratzt wie ich und lachten über irgendeinen albernen Witz. Dana stolperte. Cola schwappte aus ihrem Glas, was eine neue Lachsalve auslöste.

»Scheiße, klebt das!« Dana schüttelte sich die Tropfen von der Hand.

Sophie nahm mich fest in die Arme und wiegte uns beide hin und her. »Schule ist vorbei! Schule ist vorbei!«, trällerte sie fröhlich. »Sommer, du kannst kommen!«

In diesem Moment fühlte ich mich, als könnte ich es mit der ganzen Welt aufnehmen. Dana, Sophie und ich kannten uns schon seit der Grundschule. Gemeinsam hatten wir alle Aufs und Abs bewältigt, mit vereinten Kräften im achten Schuljahr Sophie davor gerettet sitzenzubleiben, hatten Dana über die lange Zeit der Trauer hinweggeholfen, als ihre Mutter tödlich verunglückt war, hatten gemeinsam über Lehrer gepestet, über Mitschülerinnen gelästert und für Jungen geschwärmt. Und nun wurden wir gemeinsam in die Freiheit entlassen!

Ich hatte jedoch zu viele von den alkoholfreien Cocktails getrunken, die die Neuner an einer Theke verkauften, die sie mit Schilfgras und Lampions zu einer ganz ansehnlichen Beachbar umgestaltet hatten. Mir war ein bisschen schlecht von all dem süßen Zeug. Sophies Hin- und Hergewackel machte das nicht besser. Lachend befreite ich mich aus ihrer Umklammerung. Sie hob die Handfläche vor ihren Mund und tat so, als pustete sie etwas Unsichtbares, das darauf lag, in meine Richtung. »Feenstaub!«

Das machten wir immer so. Als Zeichen dafür, dass unser Leben gerade ganz besonders glitzerte. Also so, dass unser Glitzern und Strahlen alle und alles um uns herum in einen zauberhaften Glanz tauchte. Oder dann, wenn wir meinten, unser Leben brauche gerade ganz dringend eine Menge Glitzer. Wenn wieder irgendeine Katastrophe passiert war.

»Schade, dass Selisha schon nach Hause musste«, sagte Dana, legte den Kopf in den Nacken und sah in den sternklaren Nachthimmel. Die Himmelskörper funkelten so intensiv, als sei eine Handvoll von Sophies Feenstaubkörnchen hinaufgeflogen.

Selisha, die Vierte in unserer Mädelsrunde, hatte die Party schon viel früher verlassen, weil sie mit ihrer Mutter noch in der Nacht in den Urlaub aufbrechen wollte. Ihre Mutter hatte früher als Entwicklungshelferin in Sri Lanka gearbeitet und war dort nach einer kurzen Affäre mit einem Singhalesen ungewollt schwanger geworden, woraufhin sie Hals über Kopf nach Hause gereist war. Sie kannte noch nicht einmal den richtigen Namen des Mannes! Sie wollte ihn damals nie wiedersehen. Aber nachdem ein paar Jahre vergangen waren und sie mit sich selbst ins Reine gekommen war, flog sie mit ihrer Tochter immer mal wieder in das Land ihres unbekannten Vaters. Sie war der festen Überzeugung, dass die Reisen wichtig seien für Selishas Suche nach ihrer Identität. Selisha hielt ihre Mutter deswegen für ein bisschen plemplem, aber sie liebte Sri Lanka trotzdem, denn sie fand das Land wunderschön. So hatten drei von uns vieren – Dana, Selisha und ich – eins gemeinsam: Wir waren viele Jahre unseres Lebens mit nur einem Elternteil aufgewachsen.

Bei dem Gedanken an das tropisch warme Sri Lanka kroch mir eine Gänsehaut über den Körper. »Brrr, ist das kalt«, bibberte ich und rieb mir die Oberarme, während drinnen lautes Gegröle ausbrach. Der DJ hatte unseren Jahrgangssong angekündigt. »Vöööllig losgelöst vo-hon der Schuuule …!«, hörten wir die Schulkameraden mehr brüllen als singen.

Inzwischen hatten fast alle Erwachsenen die Party verlassen. Nur einige wenige Aufsichtspersonen waren noch da, von uns auserwählte partykompatible Vertrauenserwachsene, die ihren Job bisher ganz gut machten. Das hieß: Sie feierten kräftig mit. Sogar Mr. Bean hatte sich sein verquarztes Jackett ausgezogen und war unter dem Applaus seiner Schüler wie Rumpelstilzchen über die Tanzfläche gehüpft.

»Wie spät ist es überhaupt?«, fragte Sophie und zog sich ihren rosafarbenen Cardigan enger um die Schultern.

Doch alle drei trugen wir heute zu unseren schicken Partyklamotten keine Armbanduhr.

»Als ich das letzte Mal auf die Uhr in der Aula geschaut habe, war es halb eins«, erinnerte ich mich. »Das ist noch nicht so ewig her.«

»Also nicht mehr lange, bis Manuel uns abholt«, stellte Dana fest.

Sophie stieß mir mit dem Ellenbogen gegen den Arm. Etwas fester als gewollt – ausgelassen und albern, wie sie war. »Ey, kannst du ihn nicht anrufen und fragen, ob er ’ne Stunde später kommt?«

Ich winkte ab. Ich war ja froh, dass er sich überhaupt bereit erklärt hatte, uns abzuholen. »Kannste vergessen. Ich hab ihm doch schon eine Stunde länger aus den Rippen geleiert. «

Außerdem wollte ich am nächsten Vormittag zu Djego. Aber das behielt ich für mich. Was war schon ein Pferd, das man ohnehin zweimal in der Woche ritt, gegen eine Schulabschlussfeier, die es eben nur ein einziges Mal im Leben gab? Die anderen hatten so gar nichts übrig für meine Liebe zu den Pferden. Die Besitzerin des dunkelbraunen Wallachs, Frau Tarakci, hatte mir eine SMS geschickt, dass sie es an diesem Wochenende nicht zum Reiterhof schaffen würde. Und sie hatte gefragt, ob ich Djego am Sonntag bewegen könnte. Natürlich konnte ich!

»Ich glaub, dahinten sind die Jungs!«, rief Dana plötzlich und lief auch schon los in Richtung Fahrradunterstand. Ich wunderte mich einmal mehr, wie sie mit diesen High Heels laufen konnte. Ich hätte an ihrer Stelle schon längst mit Gips im Krankenhaus gelegen. Doch sie stolzierte aufrecht und mit wiegenden Hüften davon, als sei der Laufsteg ihr Zuhause.

Rauchwolken stiegen im Schein der Straßenlaterne auf. Löti und seine dämlichen Zigaretten! Löti hieß eigentlich Bastian. Aber er hatte uns vor einiger Zeit erzählt, dass er im Betrieb seines Onkels eine Klempner-Lehre machen würde. Der Onkel hatte ihm in Ermangelung eigener Kinder in Aussicht gestellt, ihm den Betrieb zu überschreiben, wenn er sich nicht allzu dusselig anstellte und auch den Meister schaffte. Seitdem klebte der Name Löti an ihm wie Honig am Bärenmaul.

Seufzend und frierend folgte ich Dana und Sophie, die nun Arm in Arm Richtung Fahrradständer liefen.

Beim Näherkommen erkannte ich Lötis und Tammos Stimmen. Löti kniff die Augen zu Schlitzen zusammen, als er an seiner Zigarette zog, um sie dann Sophie hinzuhalten. Auch sie zog kräftig daran, gab sie Löti zurück und fing augenblicklich an zu husten.

Dana, Tammo und ich warfen uns vielsagende Blicke zu.

»Rauch mal noch eine. Hilft gegen Husten«, feixte Dana.

Tammo versenkte die Hände in den Hosentaschen und stellte sich auf die Zehenspitzen. »Also, jedes Mal wenn Löti sich Kippen kauft, werfe ich fünf Euro in mein Black-Pig. Wenn der so weiterqualmt, hab ich meine neue E-Gitarre nächsten Monat zusammen.«

Wir alle kannten das riesengroße schwarze Sparschwein aus Porzellan, das auf Tammos Fensterbank stand und einen mit seinen schrillen Neonaugen anglotzte, wenn man auf das Haus zuging.

Löti tat so, als würde er mit der Schuhspitze auf Tammos Schienbein zielen.

Ich stöhnte. »Na, ihr müsst ja Kohle haben!«

Djego zu reiten und seine Box sauber zu halten, brachte mir zwar ein bisschen Taschengeld ein, aber große Sprünge konnte ich davon nicht machen.

»Andere kaufen Biomöhren, um damit einen Gaul zu füttern «, lallte Löti. Er hatte eindeutig ein paar Bier intus. Keine Ahnung, woher er die hatte. Da einige aus unserer Stufe noch nicht sechzehn waren, gab es – außer dem Glas Sekt beim Empfang – auf der Party keinen Alkohol. Was mich nicht störte. Aber ich wusste natürlich genau, worauf er anspielte. Ich hatte tatsächlich mal im Bioladen eine große Tüte voll Möhren für Djego gekauft und Löti hatte mich »erwischt«.

Mir war inzwischen so saukalt, dass ich meine Füße schon gar nicht mehr spürte.

»Leute, mir ist saukalt. Ich spüre meine Füße schon gar nicht mehr.« Im selben Moment legte mir jemand von hinten ein Jackett über die Schultern. Erschrocken fuhr ich herum. »Marc!«

Die Dunkelheit war mein Retter! Zum Glück stand ich nicht im Lichtkegel der Laterne, denn die Röte brannte regelrecht auf meinem Gesicht. Der weiche Futterstoff von Marcs Jacke schmiegte sich um meine nackten Arme. Seine Körperwärme steckte noch darin. Unwillkürlich zog ich das Jackett enger um mich. »Voll lieb von dir«, flüsterte ich.

»Kein Ding für ’n King«, versicherte Marc. »Du schlotterst ja schon.«

Ich tat, als kitzelte mich etwas am Ohr – damit ich den Kopf neigen und unauffällig an der Jacke schnuppern konnte, die so gut nach Marc roch.

»Hey, was geht?«, fragte Marc. »Was steht an die nächsten Tage?«

Als hätten wir uns abgesprochen, zuckten wir gleichzeitig mit den Schultern. Irgendwie war in den letzten Wochen alles auf diesen einen Tag zugelaufen. Wir hatten unsere Energie in die Planung der Feierlichkeiten gesteckt und uns so auf diesen Moment gefreut – der nun gekommen war.

»Kein Plan«, sagte Löti. »Jetzt fallen wir alle gemeinsam in ein tiefes schwarzes Loch.«

Tammo zeigte ihm einen Vogel. »Dann fall du mal schön allein. Also, ich fange am Montag meinen Ferienjob an.« Er hatte einen der heiß begehrten Jobs beim Bio-Großhandel ergattert, wo er im Lager Bestellungen für Kunden zusammenstellen musste.

»Eigentlich blöd.« Sophie kickte ein Steinchen weg. »Wir wollten doch zusammen Party machen, abhängen und so. Ich meine, so ewig lange bin ich ja nicht mehr da …«

Ja, nicht nur Löti würde uns verlassen, denn der Betrieb seines Onkels war zu weit weg, als dass er jeden Tag hätte fahren können. Auch Sophie war auf dem Sprung, um ein Praktikum in einer Kinder-Rehaklinik auf Borkum zu machen. Ein ganzes Jahr lang. Aber ein paar gemeinsame Wochen blieben uns noch.

»Wann genau haust du noch mal ab?«, fragte Marc.

»Am fünfzehnten Juli ist mein erster Praktikumstag«, sagte Sophie so leise, als würde sie ihren Entschluss schon wieder bereuen. Dann hob sie den Blick und sagte fast flehentlich: »Versprecht mir, dass wir es bis dahin noch so richtig krachen lassen, ja?«

Löti ließ seine Hand auf ihre Schulter sinken. »Darauf kannst du einen lassen, Lady. Und dann? Überleg mal. Dann kannst du jeden Tag an den Strand. Ist das geil oder ist das geil?«

»Ja, ist klar.« Sophie lächelte bereits wieder. »Ist halt so, dass ich jetzt schon weiß, dass ich euch tierisch vermissen werde.«

»Dann kommen wir dich eben besuchen«, versprach Tammo leichthin. »Don’t panic!«

»Apropos«, hakte Dana nach. »Was steht denn nun an? Ich meine … Urlaub wär schon klasse, aber ich befürchte, dafür fehlt mir die Kohle.«

»Schätzelein«, sagte Löti und legte nun Dana den Arm um die Schultern. Er hob die Hand und maß mit Daumen und Zeigefinger ein paar Zentimeter ab. »Urlaub gibt’s auch für den ganz kleinen Geldbeutel. Muss ja nicht gleich ein Trip nach Mallorca sein. Bevor Miss Sophie auf die Insel abhaut, machen wir zusammen noch eine coole Tour.«

Dana verzog den Mund. »Was für eine zum Beispiel?«

»Na, wir könnten campen gehen«, schlug Löti vor. »Zelten. Lagerfeuerromantik. Tammo nimmt bestimmt auch seine Klampfe mit und dann …«

Dana sah nicht gerade begeistert aus. »Zelten? Aber nicht mit Pipi machen im Wald und so!«

»Es gibt ja auch Campingplätze«, sagte Löti. »Da hast du Klos und Duschen und einen Kiosk und alles, was du brauchst. Lass das mal den Löti machen.«

Plötzlich tauchte wie aus dem Nichts Nopel auf. Nopel war Tammos kleiner Bruder. Eigentlich hieß er Konstantin und war einer von den Cocktail-Mixern aus der Beachbar. Nopel zeigte mit dem Daumen über die Schulter. »Ey, da drinnen ist so ’n Typ, der sucht euch Mädels.«

»Schmales Gesicht, graue Haare mit Zopf, Ziegenbart?«, fragte ich.

Nopel nickte.

»Manuel«, sagten Dana, Sophie und ich wie aus einem Mund.

Mit der rechten Hand streifte ich mir langsam das Jackett von den Schultern und reichte es Marc. »Danke«, sagte ich und lächelte ihn an. »Ich schätze, die hat mir das Leben gerettet. «

»Das war der Sinn«, antwortete Marc.

Wir umarmten uns alle so fest, als gäbe es kein Wiedersehen. Der Moment war wirklich voller Emotionen. Dana, Sophie und ich winkten zum Abschied, bevor die Tür zur Aula uns verschluckte. Dann steuerten wir, getragen von den wummernden Bässen, durch die tanzende Menge auf den Eingang zu, wo Manuel auf uns wartete. Und ich fragte mich, ob man auf einem Campingplatz wohl auch ganz bestimmt ein Lagerfeuer machen durfte.

»Ich warte hier, bis du drinnen bist«, sagte Manuel, als wir zu Hause angekommen waren. Er hielt das Lenkrad mit beiden Händen umklammert.

Ich war verdutzt. »Kommst du nicht mit rein? Also, pennst du nicht bei uns … bei Mama?«

Manuel schüttelte den Kopf. »Ich schlafe besser in meinem Appartement. Ich muss morgen …« Er blickte kurz auf die Uhr. »… ich meine, heute früh raus. Die erwarten mich um zehn Uhr bei meiner Mutter.«

Manuels Mutter war dement und lebte seit längerer Zeit in einem Seniorenstift in der Nähe von Hannover.

»Puh, dann aber schnell ins Bett«, sagte ich. »Da danke ich dir erst recht, dass du uns gefahren hast!«

Und da sagte Manuel etwas, das mich schmunzeln ließ: »Kein Ding für ’n King!«

Ich wollte Mama nicht wecken und machte deswegen das Licht nicht an. Im Schein der Straßenlaternen, der durch die Fenster hereinfiel, schlich ich leise durchs Haus, immer auf der Hut vor Enzo, unserem Kater. Er kam oft lautlos an und strich einem um die Beine – es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ich über ihn gestolpert wäre. Aber er war nicht da. Vermutlich auf Checkertour, irgendwo draußen.

In meinem Zimmer knipste ich die Lavalampe im Bücherregal an. Und da sah ich ihn: Auf dem Schreibtisch stand ein riesiger Strauß mit kunterbunten Rosen! Davor lag ein Kärtchen mit einem handgekritzelten Smiley drauf. »Wir sind so stolz auf dich!«, stand da geschrieben. »Mama, Manuel, Oma Luise, Stefan & Enzo.« Hinter Enzo hatte Mama einen kleinen Pfotenabdruck gemalt.

Plötzlich musste ich weinen. Ich war total gerührt und fühlte mich irgendwie … verschwurbelt. Ich vermisste meine Freunde, die ich ja eben noch gesehen hatte.

Ich vermisste Marc.

Ich schloss die Augen und versuchte, mir seinen Geruch in Erinnerung zu rufen.

Bevor ich einschlief, ließ mich ein Geräusch noch mal hochfahren. Mein Smartphone vibrierte.

Nachricht von Sophie:

Ich fühl mich so … Yin und Yang. A

Owowow, das Leben ist krass.

Läuft da was zwischen Marc und dir?

Träum was Schönes.

Hdgdl.

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Kapitel 1

Böse Vorahnungen

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»Fuck!« Das war das Einzige, was mir dazu einfiel.

Ich starrte auf das Blatt Papier, das vor mir lag und soeben mein Schicksal besiegelt hatte. »Nicht versetzt« stand in kleinen Druckbuchstaben unter den Noten, als wäre es nicht mehr als eine unbedeutende Nebensache.

»Und?« Amelie stieß mir ihren Ellbogen in die Rippen.

»Und was?«, gab ich unwirsch zurück. Ich hatte im Moment wenig Lust, meine Nicht-Versetzung zu diskutieren. Nicht mal mit meiner besten Freundin.

»Hast du es geschafft? Du meintest doch, die Höcker-Mühlendorf würde es sich noch mal überlegen.«

»Hat sie nicht.«

Amelies entsetzter Gesichtsausdruck war wie ein Spiegel meiner Gedanken. Schnell schaute ich weg. Allein die Vorstellung, in eine andere Klasse als Amelie zu kommen, trieb mir die Tränen in die Augen.

»Guck doch nicht so«, murmelte ich und zuckte mit den Schultern, um Amelie zu zeigen, wie gleichgültig mir dieses Stück Papier war.

Ich hatte es sowieso gewusst.

Okay, einen kleinen Funken Hoffnung hatte ich noch gehabt. Meine ganze Zuversicht hatte ich dabei in Frau Höcker-Mühlendrudorf gelegt, die nicht nur vom Namen her an ein Kamel erinnerte. Sie trug zu jeder Jahreszeit riesige ausgelatschte Ökosandalen, und ich war mir sicher, dass sie eine komplette Schulwoche lang reden konnte, ohne auch nur einen Schluck Wasser zu trinken. Im Unterricht ließ sie sich aber leicht beeinflussen. Eine einzige vorgetäuschte Migräne-Attacke hatte einmal dazu geführt, dass sie eine geplante Klassenarbeit verschob. Mein Versprechen, mich im nächsten Schuljahr ganz bestimmt mehr anzustrengen, hatte sie offensichtlich leider weniger beeindruckt.

Es ließ sich drehen und wenden, wie man wollte, es änderte nichts an der unverrückbaren Tatsache: Ich war nicht in die Jahrgangsstufe 10 versetzt worden.

»Mensch, Roxy, du musst unbedingt die Nachprüfung schaffen, sonst sind wir nicht mehr in einer Klasse!«, stieß Amelie hervor.

Ich nickte gequält. Am liebsten hätte ich so schnell wie möglich das Thema gewechselt, doch Amelie ließ nicht locker. »Was sagt denn deine Mutter eigentlich dazu?«

Ich schluckte. Die unvermeidliche Frage schwebte wie eine Spionage-Drohne über mir, die jeden Moment einen feindlichen Angriff planen konnte. Was hätte ich nicht alles darum gegeben, wenn ich die Antwort schon gekannt hätte! In letzter Zeit waren Mams’ Reaktionen oft ziemlich seltsam gewesen – auch bei deutlich harmloseren Vorfällen.

Ich hob den Kopf und sah meine allerbeste Freundin an. Leider konnte sie sich – außer, wenn es um die Frage ging, wie lange sie abends wegbleiben durfte – in keines meiner elterlichen Probleme hineinversetzen. Ihre Mutter war nett und unkompliziert und ihr Vater vor allem: echt. Amelie musste sich nicht ständig mit einem neuen Freund ihrer Mutter herumärgern, der versuchte, ihren nicht vorhandenen Dad zu ersetzen.

Die aktuelle Eroberung meiner Mutter hieß Gero und war ein spießiger Schönling, den sie nun auch noch heiraten wollte. Zum besseren Kennenlernen hatte der perfekte Gero gleich mal einen Maledivenurlaub für uns alle gebucht. Mir wurde jetzt schon übel bei dem Gedanken, drei Wochen lang Mams’ verliebte Turtelei ertragen zu müssen.

Ich seufzte. »Ich werde es spätestens in einer Stunde erfahren, wenn meine Mutter von der Arbeit kommt. Begeistert wird sie jedenfalls nicht sein.«

»Meinst du, dass sie dir trotzdem erlaubt, mit auf die Malediven zu fahren?«, hakte Amelie nach. »Am Ende musst du die Ferien komplett mit Lernen verbringen. Ich meine, eine Fünf in Chemie und eine in Bio gehen ja noch, aber eine Fünf in Englisch, wo doch dein Vater Amerikaner …«

»Mein Vater existiert seit ziemlich genau vierzehn Jahren nicht mehr in meinem Leben«, unterbrach ich sie schnell, bevor sie das Thema vertiefen konnte, über das ich wirklich am allerwenigsten reden wollte.

Natürlich war mir klar, dass meiner Mutter die Englischnote keineswegs egal sein würde, bloß weil mein amerikanischer Vater sich kurz nach meiner Geburt als verantwortungsloser Idiot entpuppt und seitdem nie mehr gemeldet hatte.

»Kommst du trotzdem mit zu Mäx?«, fragte Amelie vorsichtig.

Der Kloß, der mir im Hals saß, schwoll schmerzhaft an. Jedes Jahr feierte ich mit meinen Freundinnen den Beginn der großen Ferien bei Mäx, unserem Lieblingslokal in der Innenstadt. Ich sah schnell zur Seite und blinzelte ein paar Mal. Diesmal hatte ich nichts zu feiern. Und ich wollte meiner Mutter die unangenehme Neuigkeit so schnell wie möglich überbringen.

In diesem Moment stürmte Clarissa an unseren Tisch. Der erlösende Schulgong übertönte ihr Gekreische und verdrängte mit einem Schlag die Tränen, die mir bei Amelies Frage wieder in die Augen geschossen waren. Erleichtert registrierte ich, dass dieses grausame Schuljahr zu Ende ging. Ich durfte nur unter keinen Umständen darüber nachdenken, dass ich es wahrscheinlich noch einmal wiederholen musste.

»Ich habe sieben Einsen!«, quietschte Clarissa. »Ich fasse es nicht. Das ist die absolute Hochphase meiner Schulkarriere.«

Der Kloß in meinem Hals verwandelte sich in akuten Brechreiz. Wie tröstlich, dass es auf dieser Welt jemanden gab, der einen Ausgleich zu meiner unverkennbaren Tiefphase schuf!

»In diesem Jahr habe ich mir meinen Burger bei Mäx wirklich verdient. Nick und Jonas wollen auch mitkommen.« Sie kicherte aufgeregt. »Nick war gerade übrigens einfach umwerfend. Wie er mich angesehen hat … ich bin dahingeschmolzen wie Eis an einem Sommertag!«

Ich verdrehte die Augen und Amelie warf mir einen entschuldigenden Blick zu. Clarissa wusste sehr wohl, dass ich ebenfalls auf Nick stand. Schließlich war das unsere einzige Gemeinsamkeit – abgesehen von der Freundschaft zu Amelie. Leider beachtete Nick allerdings einzig und allein Clarissa, die mir ihren Triumph bei jeder Gelegenheit unter die Nase rieb.

»Dummerweise kann ich heute nicht dabei sein, wenn Clarissa sich verflüssigt«, sagte ich und brachte immerhin ein gequältes Lächeln zustande.

»Ach, komm doch mit, Roxy. Bitte!«, drängte Amelie.

»Nein, ich glaube nicht. Es ist besser, wenn ich meine Beichte bei Mams schnellstmöglich hinter mich bringe.«

Amelie sah mich traurig an, während Clarissa einen unübersehbaren Freudensprung gerade noch abbremste. »Das ist ja to… – äh«, sie räusperte sich, »… total schade.«

Ich widerstand der Versuchung, ihr meinen Tacker in den Fuß zu rammen. Ich musste hier dringend weg, bevor sich meine Mordgelüste verfestigten! Eine glorreich glänzende Clarissa neben meinem unerreichbaren Schwarm Nick überstieg heute definitiv meine Kräfte.

Energisch stopfte ich das Zeugnis in meine Schultasche. Wozu ein Schutzumschlag? Ich sah keinen Grund dafür, darauf zu achten, dass es nicht zerknitterte. Den Schutz würde wohl eher ich benötigen, wenn Mams erfuhr, dass ich ihre Unterschrift auf den blauen Briefen gefälscht hatte …

»Hey, Roxy, warte!« Amelie zog an meinem Arm.

Ich blieb stehen.

»Was ist mit morgen? Unser Termin im Nagelstudio?« Sie wirkte regelrecht verzweifelt.

»Wäre ja schade, wenn der verfällt. Vielleicht könntest du den an mich abtreten?«, mischte sich Clarissa ein.

Ich wollte mir nicht anmerken lassen, wie sehr es mich verletzte, wenn Amelie mit Clarissa dorthin ging. Auch wenn ich gerade ohne Zweifel andere Probleme hatte, aber diesen Triumph gönnte ich ihr nun wirklich nicht.

»Ja, sicher«, erwiderte ich daher betont gleichgültig. »Das wäre echt zu schade.« In Gedanken fügte ich hinzu, dass das sowieso das Erste sein würde, das Mams mir streichen würde, wenn sie mein Zeugnis sah.

Wenn ich geahnt hätte, was mich tatsächlich zu Hause erwartete, hätte ich mich allerdings doch für eine Henkersmahlzeit bei Mäx entschieden und sogar Clarissas Gesellschaft mit einem Lächeln hingenommen …

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»Das meinst du nicht ernst, oder?« Ich fühlte, wie jegliche Farbe aus meinem Gesicht wich, als ob jemand einen Abfluss in mir geöffnet hätte.

»Das ist nichts, worüber ich scherzen würde, Roxolana.«

Mams’ Blick glich dem einer Richterin, die gerade ein Todesurteil sprach. Und so kam ich mir auch vor – wie eine Verurteilte.

»Du meinst, ich darf nicht mit euch in Urlaub fahren und soll stattdessen eine Sprachreise nach England machen?«

»Genau das meine ich.«

»Aber …«

Ich fühlte mich ausgeschlossen, obwohl ich den gemeinsamen Ferien mit Gero nicht ernsthaft hinterhertrauerte. Doch die Vorstellung, allein ein Sprachcamp im verregneten England zu besuchen, war – trotz der einzigartigen Lebenserfahrungen und der wundervollen Eindrücke, die meine Mutter betonte – noch deutlich weniger verlockend.

»Du musst bestimmt Stornierungsgebühren zahlen und in England würde ich niemanden kennen …« Ich suchte verzweifelt nach Argumenten.

An Mams’ Blick konnte ich sehen, dass ich ihren wunden Punkt getroffen hatte: Innerlich kämpfte sie mit ihrem schlechten Gewissen. Ha, diese Runde würde an mich gehen! Unter stillem Jubelgeschrei packte ich in Gedanken schon meinen Koffer: Bikini, Hotpants, Ladekabel …

Ein Maledivenurlaub mit Gero war immer noch besser, als die halben Ferien mit Lernen zwischen lauter fremden Gesichtern zu verbringen.

»Ich finde es auch schade, dass wir in den Ferien auf Roxy verzichten müssen«, mischte sich Gero plötzlich ein.

Bislang hatte er der Szene schweigend zugesehen und nur Mams’ Rede hin und wieder mit einem Nicken bestärkt. Ich konnte kaum glauben, dass er jetzt für mich Partei ergriff. Wasserfeste Sonnencreme, Concealer …, fügte ich lautlos hinzu.

»Aber ich bin ganz deiner Meinung, Lana. Wir sollten dafür sorgen, dass Roxy ihr Englisch verbessert, damit das kommende Schuljahr erfolgreicher verläuft.«

Meine Mutter nickte unnachgiebig. »Mein Entschluss steht fest. Der Maledivenurlaub ist für dich gestrichen, Roxy.«

Ich zerriss meine heimliche Auflistung vor meinem inneren Auge in kleine Fetzen.

»Und die Stornogebühren übernehme ich.« Gero warf einen triumphierenden Blick in die Runde, als ob er gerade einen Bombenvorschlag gemacht hätte.

»Das ist aber unglaublich nett von dir, Gero.« Mams’ Gesicht hellte sich auf. »Wie lieb!«

Wahnsinnig nett. Ich hätte beinahe losgelacht, schüttelte mich aber gerade noch rechtzeitig. Was natürlich sowieso keiner beachtete. Doch man soll niemals glauben, dass es nicht noch schlimmer kommen könnte!

Meine Mutter griff nach Geros Hand und drückte sie. »Da wir gerade dabei sind, unsere Geheimnisse zu lüften …«

Mein ungutes Bauchgefühl setzte zum Vulkanausbruch an.

Gero lächelte milde.

»Wir wollten dir schon länger etwas sagen, Roxy.« Sie tauschten einen verliebten Blick, der meine Eingeweide zusammenpresste. »Ich habe nicht geglaubt, dass ich noch einmal eine echte Familie haben würde, nachdem dein Vater …«

Ich starrte Mams an. Sie wollte doch jetzt nicht wirklich von diesem Thema anfangen. Bitte nicht!

»Also, Gero hat mir gezeigt, dass es sich lohnt, auf den Richtigen zu warten. Wir sind jetzt eine kleine Familie, aus der wir gern eine etwas größere machen würden.«

»Was?«, keuchte ich.

Mams strahlte. »Du bekommst ein Geschwisterchen, Roxy. Wir werden eine richtige, große Familie!«

Ich war hin- und hergerissen zwischen dem Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden, und einer kurz bevorstehenden Explosion in meinem Magen.

»Das ist ja wundervoll«, stieß ich hervor und stürzte Hals über Kopf aus dem Zimmer.

Es gelang mir gerade noch, die Tür hinter mir zuzuschlagen, bevor ich losheulte. Wie heiße Lava stieg die bittere Wahrheit dieser Nachricht in mir auf: Sobald eine zauberhafte kleine Schwester oder ein niedlicher kleiner Bruder unsere sogenannte Familie vervollständigte, wäre ich komplett abgemeldet und überflüssig. Dessen war ich mir sicher.

Blind vor Tränen und vor Wut auf das verflixte Stück Papier, das der Auslöser für diesen Schlamassel war, stolperte ich den Flur entlang und fiel über Geros Aktentasche, die mitten im Weg stand. Das Zeugnis glitt mir aus der Hand, als ich mit ausgestreckten Armen über den Teppich schlitterte. Der antike Sekretär bremste meine Rutschpartie mit einem unsanften Rums, während das Zeugnis vor meinen Augen in dem schmalen Schlitz unter dem Möbelstück verschwand.

Ich wischte mir die Tränen ab. Am liebsten hätte ich das blöde Dokument dort liegen gelassen. Leider wusste ich, dass Mams’ Unterschrift darauf mindestens ebenso wichtig war wie das Schriftstück an sich, wenn ich zur Nachprüfung zugelassen werden wollte. Stöhnend versuchte ich, meinen Arm unter den Sekretär zu schieben. Ich konnte das weiße Papier in der Ecke aufblitzen sehen, aber es gelang mir nicht, es herauszuziehen.

Mist!

Genervt rappelte ich mich auf und versuchte, das Monstrum ein Stück von der Wand abzurücken. Ich zog mit meinem ganzen Gewicht, bis ich kaum noch Gefühl in den Fingern hatte. Minutenlang starrte ich frustriert auf den betonschweren Sekretär, bevor ich es noch einmal versuchte, all meine Energie zusammennahm und wie eine Irre an dem Schrank zerrte. Endlich bewegte er sich immerhin so viel, dass ich dahinter greifen konnte. Erleichtert zog ich das Zeugnis hervor.

Gerade wollte ich den Sekretär zurückschieben, als mir auffiel, dass ich noch ein weiteres Stück Papier in Händen hielt. Einen Brief. An meine Mutter adressiert. Ich drehte den Umschlag um – und erstarrte mitten in der Bewegung.

Liam West, Wyoming.

Der Name meines Vaters brannte in meinen Augen wie ätzende Tinte. Ich musste schon wieder blinzeln.

Mit zittrigen Fingern öffnete ich den Umschlag. Meine Neugier war stärker als die Angst vor dem, was ich lesen würde.

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Das Datum auf dem Briefkopf lag gut ein halbes Jahr zurück.

Mein Puls überschlug sich. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, in einer Zeitschleife gefangen zu sein, in der ich immer wieder dieselbe Fassungslosigkeit durchlebte. Mein Vater hatte sich nach vierzehn Jahren zum ersten Mal wieder gemeldet. Ich konnte nicht sagen, was ich dabei empfand. Aber zumindest wusste ich jetzt, wo ich meine Sommerferien verbringen wollte …