Prolog

Kanada, Old Masset, auf den Haida Gwaii.

Die Schachtel war aus Horn. Verblichen sah sie aus und gelb vom Licht vieler Tausend Tage und dem Schweiß etlicher Hände, durch die sie gereicht worden war. Schnitzereien zogen sich über die Wände und den Deckel, so fein, dass man sich kaum vorstellen konnte, dass ein Mensch sie hergestellt haben sollte. Im Zwielicht des dämmerdunklen Raums schienen sie sich zu bewegen, fast als wären sie lebendig.

Kate hatte die Schachtel schon oft bewundert. Jedes Mal wenn sie Táan bei seiner Familie daheim besuchte, hatte sie wenigstens eine kleine Weile vor dem Regalbrett im Wohnzimmer gestanden und die gewundenen Linien betrachtet, die zu immer anderen Bildern zusammenflossen, je nachdem, aus welchem Winkel man sie ansah, und hatte sich vorgestellt, wie sich das seidig schimmernde Horn wohl unter den Fingern anfühlen mochte.

Aber niemals, wirklich niemals wäre ihr in den Sinn gekommen, auch tatsächlich nach der Schachtel zu greifen, die laut Táan ein uraltes Erbstück seiner Familie war. Bis zu diesem Abend. Dabei war es nicht einmal ihre Idee gewesen …

Das Herz schlug Kate bis zum Hals, als sie langsam die Hand ausstreckte. Mit gespitzten Ohren horchte sie in die Stille. Sie wusste nicht, was passieren würde, wenn sie jemand im Haus des Chiefs erwischte. Aber sie wollte es lieber nicht darauf ankommen lassen. Noch einmal warf sie einen schnellen Blick zur halb geöffneten Verandatür. Der Südostwind trieb feuchtwarme Abendluft und den Geruch nach Salz und Fisch herein. Draußen war die dunstverhangene Sommersonne bereits untergegangen, doch ein paar letzte Strahlen klammerten sich noch an den indigoblauen Himmel. Die sonst so lebhafte Siedlung von Old Masset war still an diesem Abend, nirgendwo brannte Licht, niemand war unterwegs. Nur aus der Ferne war der Klang von Trommeln und Gesang zu hören. Alle waren zum Potlatch gegangen, das die deutschen Gäste, die nun so lange Zeit Teil des Lebens in Old Masset gewesen waren, in die Heimat verabschieden sollte. Auch Kate war dort in der Sporthalle gewesen, hatte gefeiert, gelacht und gesungen. Doch dann hatte diese Stimme sie fortgelockt. Ein Flüstern, das sonst niemand hörte und das ihr befahl …

Was machst du denn da, Mädchen?

Kate zuckte zusammen.

Da war sie schon wieder. Die Stimme des Raben.

Und draußen auf dem Verandageländer konnte sie ihn jetzt auch sehen. Ein riesiges Tier, das pechschwarze Gefieder majestätisch aufgeplustert, das sie aus funkelnden Knopfaugen musterte. Kate spürte seinen Blick, als würde sie jemand am ganzen Körper mit einer dieser schwarzen Federn kitzeln.

Hör endlich auf herumzutrödeln!

Kate rieb sich über die nackten Oberarme, um die Gänsehaut zu vertreiben, die die Kitzelfederstimme auf ihrer Haut hinterließ. Sie kannte Raben gut. Hier auf den Inseln waren sie überall, man konnte sich vor ihnen praktisch nicht retten, ob nun in der Natur oder in den Geschichten, die die alten Indianer erzählten. Von Xuuyah war dort immer wieder die Rede, dem schlauen Vogel, der das Licht in die Welt gebracht hatte, und noch vieles mehr. Aber ein echter sprechender Rabe war Kate bisher noch nicht begegnet. Sich mit ihm anzulegen, war sicher keine gute Idee. Der Rabe hatte ihr gesagt, sie solle die Schachtel nehmen, also würde sie das tun. Auch wenn ihr das Herz dabei gehörig in die Hose rutschte.

Ehe sie noch länger darüber nachdenken konnte, griff sie nach der Schachtel. Das Horn war warm unter ihren Fingern, geradezu weich, genau wie sie es sich immer vorgestellt hatte. Es schmiegte sich an ihre Haut wie ein kleines Tier, als wollte es sagen: Schön, dass du mich gefunden hast!

Kate musste unwillkürlich lächeln, und sie konnte nicht anders, als die Schachtel noch ein wenig zu streicheln. Behutsam folgte sie den Linien und Kerben mit den Fingerspitzen. Eine Sonne war dort abgebildet und ein Adler, der seine Schwingen über sie breitete, als wollte er sie beschützen. Beinahe konnte Kate die Hitze des Lichts auf den Wangen spüren und das Rauschen des Windes in den Federn hören.

Wir haben nicht ewig Zeit, nun mach schon!

Kate schloss kurz die Augen. Es war falsch. Ganz bestimmt war es falsch. Aber der Wille des Raben, das spürte sie deutlich, war viel stärker als der ihre. Mit der freien Hand öffnete sie den Reißverschluss ihrer Umhängetasche und ließ die Schachtel hineingleiten.

»Was zum Teufel tust du da?«

Kate erschreckte sich so sehr, dass ihr ein kleiner Schrei aus der Kehle rutschte. Das war nicht der Rabe! Die Stimme war echt gewesen und in der Stille furchtbar laut. Und noch während sie sich umdrehte, wusste sie, wer da gesprochen hatte. Wer sie erwischt hatte, obwohl sie doch so vorsichtig gewesen war.

Táan stand im Türrahmen zur Diele und starrte sie ungläubig an. Sein schmales Gesicht war im Dämmerlicht voller Schatten und schlecht zu erkennen, aber eines sah Kate trotzdem ganz deutlich: Er war fassungslos. Und bitter enttäuscht von seiner vermeintlich besten Freundin, die gerade den wertvollsten Besitz seiner Familie stahl.

Ein dicker Klumpen bildete sich in Kates Kehle und ihre Wangen begannen zu glühen. »Ich … äh … also …«, stammelte sie. »Es ist nicht so, wie du denkst!«

»Stell das sofort wieder hin.« Táan sprach ganz leise, aber Kate hörte trotzdem, wie wütend er war. »Sofort. Dann vergesse ich vielleicht, was ich gesehen habe.« Er atmete zweimal angestrengt durch. »Weil du es bist.«

Und weil, dachte Kate, du niemals vor Sigai und dem Chief zugeben könntest, dass sie recht hatten. Die Erkenntnis trieb ihr Tränen in die Augen. Sie haben es immer gewusst. Ich bin keine gute Freundin für dich. Eine gute Freundin hätte so etwas nie getan!

Und trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, spürte sie, wie sich ihre Finger um den Riemen ihrer Tasche verkrampften, als wären sie fest entschlossen, die Schachtel auf keinen Fall wieder herzugeben.

»Ich kann nicht«, flüsterte sie. »Ich muss sie mitnehmen. Der Rabe hat es gesagt. Es … tut mir leid!«

An Táans Gesicht war nicht abzulesen, ob er ihr glaubte. Es blieb nur starr vor fassungslosem Zorn. Kate warf einen flehenden Blick nach draußen auf die Veranda, wo immer noch der riesige Vogel saß. Warum gab er ihnen nicht ein Zeichen? Irgendetwas, damit Táan begriff, dass Kate wirklich nicht von allein auf diese hirnrissige Idee gekommen war? Sie konnte sich ja nicht einmal richtig an den Weg hierher erinnern! Überhaupt erschien die ganze Aktion ihr rückblickend wie ein seltsamer Traum, als hätte die Dämmerung sich nicht nur über das Licht, sondern ebenso über die Realität gelegt. Aber wie um alles in der Welt sollte sie Táan das erklären?

Konnten Raben grinsen? Dieser, so schien es, konnte es jedenfalls. Dann schlug er leicht mit den Flügeln und ließ ein spöttisches Schnarren hören. Ansonsten schwieg er. Und Kate hätte heulen können vor Verzweiflung.

Táan aber war ihrem Blick gefolgt, und auch er musterte nun den Raben, der diese Prüfung völlig ungerührt über sich ergehen ließ.

Seine Stirn kräuselte sich. »Xuuyah?«, murmelte er halblaut, und erstaunt erkannte Kate, dass sich etwas Ehrfürchtiges in seine Stimme geschlichen hatte. Die grimmige Entschlossenheit war aus seinem Gesicht verschwunden und verwirrter Ratlosigkeit gewichen.

Atemlos wartete Kate darauf, dass er noch etwas tun oder sagen würde. Konnte er den Raben vielleicht auch hören? War sie vielleicht gar nicht allein?

Doch da schüttelte Táan plötzlich den Kopf, drehte sich um und verschränkte die Arme vor der Brust. Obwohl Kate nur noch seinen Rücken sehen konnte, wusste sie genau, wie verkniffen sein Mund war und wie angespannt sein Kinn, wie immer, wenn er etwas tun musste, was ihm nicht gefiel. Es versetzte ihr einen Stich in die Brust. Etwas sehr Wertvolles hatte in diesem Augenblick einen tiefen Riss bekommen, das spürte sie deutlich. Vielleicht unkittbar. Vielleicht für immer.

»Es tut mir leid«, flüsterte sie verzweifelt.

»Geh«, entgegnete er kühl. »Wir haben uns hier nie getroffen.«

Kate öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Es gab so vieles, das sie noch gern gesagt hätte, und sie hatte nur so furchtbar wenig Zeit dafür. Aber beim Anblick von Táans geradem, stolzem Rücken versagten ihr alle Worte und Tränen schossen ihr in die Augen. Um ein Haar hätte sie die Schachtel doch wieder hervorgeholt, um sie ihrem besten Freund zurückzugeben. Aber sie konnte es nicht.

Ein weiteres Mal ertönte die Stimme des Raben in ihrem Kopf.

Du bist längst zu weit gegangen, dummes Kind. Nun steh da nicht rum und tu, was er dir sagt!

Und Kate begriff, dass es ab hier tatsächlich kein Zurück mehr gab. Der Diebstahl war geschehen und nicht mehr rückgängig zu machen, ob sie die Schachtel nun zurückstellte oder nicht. Also drehte sie sich um und rannte mit tränennassem Gesicht über die Veranda auf die Straße hinaus.

Ana Jeromin

Sonnentänzer

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1

Besuch aus der Vergangenheit

Vier Jahre später, Deutschland.

Achtundfünfzig. Neunundfünfzig. Dreizehn Uhr siebenunddreißig. Eins. Zwei. Drei …

In Zeitlupe rückte der Sekundenzeiger der Uhr über der Klassenraumtür voran. Oder zumindest kam es Kathrin so vor, während sie die Sekunden zählte, die bis zum Ende des Unterrichts noch blieben. Seit Stunden lockte von draußen die Sonne an einem kristallblauen Sommerhimmel, rief sie in den Park oder ins Freibad, vielleicht auch in den Wald oder in die Eisdiele – jedenfalls raus aus der stickigen Luft des Schulgebäudes, in dem sie und ihre Mitschüler vor sich hin schwitzten und sich um die Fleißaufgaben drückten, die so kurz vor den Sommerferien wirklich niemand mehr erledigen wollte. Kathrin hatte schon versucht, sich die Zeit mit Schattenspielen zu vertreiben, und dafür begeistertes Kichern von Malin und Felix geerntet, die links und rechts neben ihr saßen und vor Langeweile und Hitze genauso vor sich hinschmolzen. Aber irgendwann war ihr Kopf selbst dafür zu träge geworden, und sie begnügte sich damit, die Uhr zu fixieren, als könnte sie die Zeiger allein durch ihre Gedankenkraft schneller vorantreiben. Aber eher das Gegenteil war der Fall.

Noch dreizehn Minuten.

Kathrin gähnte und zupfte gelangweilt an ihrem alten Indianerarmband herum, drehte an den geschnitzten Perlen aus Horn und kratzte notdürftig die Soßenspritzer vom Mittagessen von den geflochtenen Lederbändern. Das Armband hatte seine besten Tage wirklich vor langer Zeit gesehen. Immerhin trug sie es jetzt schon über vier Jahre. Eigentlich war sie auch viel zu alt für Kinderschmuck. Ihre Hand war inzwischen so groß, dass die Schlinge höchstens noch mit viel Gewalt darüberpasste. Aber auch wenn Kathrin an ihre Kindheit oft mit etwas gemischten Gefühlen zurückdachte – der Tag, an dem Uncle Sam, einer der weisen Männer von Old Masset, ihr das Band schenkte, war wunderschön gewesen. Und deshalb hatte sie es nie übers Herz gebracht, den Talisman einfach von ihrem Arm zu schneiden.

Außerdem – aber den Gedanken verdrängte Kathrin schnell wieder – war es wohl auch ein Zugeständnis. Ein winziges Zeichen für all die Verrücktheiten, für die sie nur dann genug Mut hatte, wenn ihre Freunde es nicht sahen. Weil niemand von ihnen auch nur ahnen sollte, wie wunderlich sie wirklich war. Es war schwer genug gewesen, endlich dazuzugehören.

Ein Wispern riss sie aus ihren Gedanken. »Hey! Kathi!« Malin zupfte am Ärmel ihres Shirts und hielt ihr unter der Bank das Handy hin, auf dem eine Nachricht leuchtete:

Von: Hauke

Good News: Heute Grillen am See 15:30! Pits bringt Bier mit, wir die Würste! Sei kein Ei – sei dabei! ;-P

Malins Augen funkelten. »Kommst du mit?«

Kathrin fühlte ihr Herz augenblicklich schneller schlagen. Das waren endlich mal gute Aussichten! Sie mochte kein Bier, nicht mal mit viel Cola, aber sie mochte Pits. Pits, der eigentlich Peter hieß, zwei Stufen über ihnen war und mit Malins Freund Hauke in einer Handballmannschaft spielte. Sie mochte ihn sogar sehr.

»Aber so was von!« Sie fühlte, wie sich auf ihrem Gesicht ein etwas zu begeistertes Grinsen ausbreitete.

Malin hob den Daumen und erwiderte das Grinsen, während sie vorsorglich nach vorn zu Frau Dehne schielte. Aber die Deutschlehrerin hatte sich in irgendwelche Unterlagen vertieft und schien selbst nicht sonderlich interessiert daran, ob ihre Schüler arbeiteten oder nicht. So war das eben drei Tage vor den Sommerferien.

In diesem Moment ertönte endlich das erlösende Klingeln.

»Oh, Gott sei Dank!« Kathrin war augenblicklich auf den Beinen. Nicht einen Moment länger würde sie hier drin hocken. In den letzten Jahren hatte sich in ihrem Leben einiges geändert, angefangen bei ihrem neuen Spitznamen. Aber manche Dinge lagen ihr einfach im Blut und würden wohl ewig ein Teil von ihr bleiben. Zum Beispiel, dass sie sich bei jedem Wetter am liebsten draußen herumtrieb – und das am besten barfuß. Ihre nackten Sohlen schwitzten seit Stunden in den Sandalen. Sie brannten darauf, den heißen Straßenstaub zu spüren und mit dem schwülen Sommerwind um die Wette zu rennen, sobald niemand mehr in der Nähe war.

»Also, heute Nachmittag geht klar!« Gut gelaunt warf sie sich den Rucksack über die Schulter und strahlte Malin an.

»Perfekt!« Malin wuchtete ihren Stuhl auf den Tisch. Dann schlenderten die Freundinnen nebeneinander die Treppe hinunter auf den Schulhof hinaus.

»Dann geht das heute ja vielleicht endlich mal einen Schritt weiter mit dir und Pits.« Malin grinste und stieß sie mit dem Ellbogen in die Seite.

Kathrin spürte prompt, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. »Jaaa, mal sehen«, wehrte sie ab, während sie in Gedanken schon ihren Kleiderschrank nach einem perfekten Outfit durchsuchte.

»Komm schon, das wird! Ich weiß es – du musst dich nur mal trauen.« Malin drückte ihr zum Abschied ein Küsschen auf die Wange. »Also, wir sehen uns dann. Ich warte noch auf Hauke.«

Hauke hatte im naturwissenschaftlichen Trakt Physik und Herr Buschkamp überzog auch kurz vor den Ferien noch gnadenlos jede Stunde. Darauf wollte Kathrin nicht warten, zumal Malin und Hauke auf dem Heimweg jedes Mal aneinanderklebten, als hätten sie sich Monate nicht gesehen. Ein weiterer Grund, warum Kathrin sich wünschte, Pits würde endlich ein paar Worte mehr für sie übrig haben als Hallo und Tschüss. Vielleicht würde sie dieses schreckliche Vermissen dann auch verstehen. Bis dahin aber überließ sie die Turteltäubchen lieber sich selbst und machte, dass sie vom Schulgelände herunter und in die Freiheit kam.

Sie hatte die Schule kaum hinter sich gelassen, als sich hinten in ihrem Kopf etwas regte. Gerade als sie sich nur zwei Straßen weiter an einer Straßenlaterne festhielt, um endlich die Sandalen von ihren Füßen zu fummeln, spürte sie es: ein Kitzeln schwarzer Federn, ein Flügelschlag von Schwingen, die sich ausbreiteten. Sich streckten, dem Licht entgegen.

Ahhh … Die Stimme des Raben kribbelte unter ihrer Schädeldecke. Das wurde aber auch wirklich Zeit. Ich wäre fast erstickt.

»Xuuyah …« Ein Seufzer schlüpfte über Kathrins Lippen. Seit fast fünf Jahren begleitete die Stimme sie nun, und das Gefühl von Worten, die mit kleinen Käferbeinchen auf ihrer Haut krabbelten, erschreckte sie längst nicht mehr. Sie hatte schon vor einer ganzen Weile die Hoffnung aufgegeben, dass er sich irgendwann von allein verabschieden würde, und sich irgendwie mit dem lästigen Untermieter in ihrem Kopf arrangiert. Das Abkommen, dass der Rabe in der Schule und in Gegenwart von Kathrins Freunden seinen Schnabel zu halten hatte, war hart erkämpft, und Kathrin bedauerte jedes Mal, wenn ihre Schonfrist vorbei war.

Ich dachte schon, du willst ewig da drin hocken. Xuuyah klang an diesem Nachmittag besonders ungeduldig. Beinahe konnte Kathrin sehen, wie er mit dem Schnabel klapperte und von einem Bein auf das andere trat. Wie gut, dass die Sonne schien. Wie gut, dass die Aussicht auf ihre Nachmittagspläne sie so vor gelöster, fröhlicher Stimmung übersprudeln ließ, dass ihr keine noch so ätzende Bemerkung irgendetwas anhaben konnte.

»Ich war nicht länger dort als an jedem anderen Mittwoch auch«, erklärte sie ungerührt, während sie über die Bordsteinkante balancierte. Der Stein war glühend warm an ihrer Haut. Sand und kleine Steinchen klebten an ihren Sohlen. Es fühlte sich herrlich nach Sommer an. »Aber ich bin beeindruckt, dass du es trotzdem geschafft hast, den Schnabel zu halten.«

Abmachung ist Abmachung, murrte der Rabe, und Kathrin spürte, wie er sein unsichtbares Gefieder schüttelte. Was hast du Taugenichts jetzt vor?

hast du Taugenichts jetzt vor?

Kathrin musste unwillkürlich grinsen. »Durch den Park rennen. Eis essen, bis mir schlecht wird. Und nachher zum See, das hast du doch mitbekommen.«

Du willst dich wirklich schon wieder mit diesem bleichen Bengel treffen? Xuuyah klang ein wenig säuerlich. Aber Kathrin ließ sich davon nicht die Laune verderben. Das wäre ja noch schöner.

»Ja, schon wieder«, erklärte sie betont fröhlich. »Und bald hoffentlich noch viel öfter. Was dagegen?«

Xuuyah krächzte abfällig. Er ist dumm und kann noch weniger als du. Du solltest lieber noch ein paar Bücher lesen. Das würde mir und dir sehr viel eher weiterhelfen.

Kathrin seufzte und verdrehte die Augen. »Ich hab es dir doch schon tausendmal erklärt. In den Büchern meiner Eltern steht nichts, was uns weiterhilft. Ich hab sie alle durch. Mehrfach.«

Und ich habe dir schon tausendmal gesagt, dass du einen anderen Weg finden musst, dummes Ding! Du könntest ja auch mal deinen Grips anstrengen, statt die Nachmittage damit zu verplempern, diesen Nichtsnutz anzuschmachten.

»Pits ist kein Nichtsnutz, und es geht dich gar nichts an, wie ich meine Nachmittage verbringe.« Jetzt war Kathrin doch ein wenig gereizt – vor allem darüber, dass Xuuyah wirklich wild entschlossen schien, ihre gute Stimmung zu vermiesen.

Aber der Rabe lachte bloß höhnisch. Ja, geh du nur zum See. Wir werden ja sehen, wie viel Freude du daran haben wirst. Denk daran, auch du musst deinen Teil der Abmachung einhalten.

Kathrin blieb stehen, schloss die Augen und atmete einmal tief durch. Ganz ruhig bleiben. Nicht provozieren lassen. Dieses Gespräch führten sie jeden Tag mindestens einmal und sie kannte ihren Text. Aber tief drinnen wühlte die Erinnerung sie immer noch auf. »Mein Teil der Abmachung ist längst erfüllt. Ich habe getan, was du wolltest, weißt du noch?«

Xuuyah schnarrte unwillig. Als ob ich dein schmähliches Versagen je vergessen könnte. Vielleicht sollte ich dich noch ein wenig öfter darauf hinweisen.

Kathrin schüttelte den Kopf. »Egal was du sagst. Ich gehe heute zum See und werde Spaß haben. Und du wirst so lange still sein. Sonst höre ich nämlich wirklich auf, nach einer Lösung zu suchen. Und zwar für immer. Kapiert?«

Der Rabe krächzte abfällig und gab ansonsten keine Antwort. Aber so leicht ließ Kathrin sich nicht austricksen. Dafür trug sie diesen zermürbenden Machtkampf um ihre Gedanken und Taten schon zu lange aus.

»Kapiert?«, wiederholte sie mit mehr Nachdruck.

Aber der Rabe schwieg beharrlich. Nicht einmal seine Flügel regten sich, um Kathrin zu kitzeln.

»Hey! Federvieh!« Sie stampfte leicht mit dem Fuß auf und sah sich im nächsten Moment reflexartig um, ob sie auch niemand dabei beobachtet hatte. Es war für andere Passanten sicher absonderlich genug, dass ein sechzehnjähriges Mädchen barfuß über den Bordstein balancierte und dabei fortwährend zu sich selbst murmelte. Aber dann auch noch aufzustampfen und sich scheinbar selbst auszuschimpfen, war vermutlich doch etwas zu viel des Guten. »Ob du das kapiert hast, will ich wissen!«, zischte sie leiser, obwohl tatsächlich außer ihr kaum jemand auf der Straße unterwegs war. »Ich will es von dir hören, wörtlich!«

Immerhin hatte sie dem Raben ein weiteres spöttisches Lachen entlockt. Reg dich nicht so auf, Mädchen. Natürlich habe ich es verstanden. Lauf nur schnell nach Hause, damit wir nicht zu spät kommen. Du wolltest doch sowieso durch den Park rennen, oder nicht? Also lauf nur, lauf!

Da. Er tat es schon wieder. Kathrin atmete noch einmal tief durch. Selbst wenn er scheinbar klein beigab, versuchte Xuuyah immer noch, sie auszutricksen. Sie hasste es, wenn er ihre eigenen Wünsche so verdrehte, dass sie zu einem Befehl von ihm wurden. Aber Befehle von Xuuyah auszuführen war ein absolutes No-Go, das hatte sie durch bittere Erfahrung lernen müssen. Dann eben kein Wettlauf mit dem Sommerwind. Es war genauso gut, die Welt genüsslich unter den Füßen zu spüren.

»Schön, dass wir uns einig sind«, erklärte sie so kühl wie möglich, während sie mit betont gelassenem Schritt in den Park einbog. »Der Tag wird super. Du wirst schon sehen.«

Das Haus von Kathrins Eltern lag in einer verkehrsberuhigten Wohnsiedlung, deren Gärten direkt an das Wäldchen im Park anschlossen. Als Kathrin dort ankam, hatten der Weg über die Wiesen und den federnden Waldboden ihren Ärger über den Raben längst besänftigt. So schön war der Park im flimmernden Sonnenlicht, dass sie sogar noch ein paar Schlenker und Umwege genommen hatte. Nun blieb ihr zwar nicht mehr besonders viel Zeit, bis sie sich aufmachen musste zum See, aber das war die himmlische Ruhe unter dem Schattenspiel der Buchen allemal wert.

Der Hausflur empfing sie mit angenehmer Kühle.

»Ich bin’s!« Kathrin ließ ihre Sandalen unter der Garderobe fallen und horchte auf eine Antwort.

Zunächst erhielt sie keine. Das Haus, so schien es, schlief einen trägen Hitzeschlaf unter der Sommersonne. Aber dann hörte Kathrin Stimmen aus der Küche. Offenbar hatte niemand sie gehört, denn das Gespräch klang nicht, als sei es unterbrochen worden. Ihre Mutter. Ihr kleiner Bruder Moritz. Und jemand Fremdes.

Kathrin runzelte die Stirn. Ihre Eltern hatten gar nicht erwähnt, dass sie jemanden erwarteten. Unschlüssig blieb sie stehen und versuchte zu entscheiden, ob sie direkt die Küche betreten oder vielleicht erst einmal heimlich lauschen sollte.

Doch da öffnete sich schon die Küchentür. Kathrins Mutter Miriam streckte ihren Kopf durch den Spalt und nahm ihr die Entscheidung ab.

»Hab ich doch richtig gehört!« Das sonnengebräunte Gesicht ihrer Mutter strahlte unter den dunklen Stirnfransen und ihre Augen blitzten. Kathrin kannte diesen Ausdruck, und er bewirkte nicht unbedingt, dass sie sich entspannte. So sah ihre Mutter aus, wenn sie triumphierend verkündete, bereits ein Geschenk für sie zu haben, obwohl sie erst in drei Monaten Geburtstag hatte. Wenn sie eine Überraschung vorbereitet hatte. Kathrin hasste Überraschungen. Das hatte der Rabe sie gelehrt.

»Wir haben schon sehnsüchtig auf dich gewartet!« Ihre Mutter zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Du hast Besuch!«

Besuch? Kathrin runzelte die Stirn. »Wer denn?«

Natürlich hatte ihre Mutter keineswegs vor, ihr das zu verraten. Oder sie auch nur ein frisches Shirt anziehen zu lassen – eines, das nicht verschwitzt an ihrem Rücken klebte. »Na, komm doch einfach rein!« Sie stieß die Tür auf und zog Kathrin in die Küche.

Und im nächsten Moment war das verschwitzte Shirt egal. Völlig egal.

Denn am Küchentisch, von ihrem kleinen Bruder begeistert bestaunt, saßen zwei Jungs. Und nicht irgendwelche. Kathrin war sich nicht sicher, ob sie die beiden auf der Straße erkannt hätte. Groß waren sie geworden und sehr erwachsen, trotz der Limonadengläser mit den bunten Schirmchen, die vor ihnen auf dem Tisch standen. Doch die Gesichtszüge waren ihr vertraut – die hohen Wangenknochen, die braunen Augen mit den beneidenswert langen Wimpern über den markanten Nasen. Viel zu vertraut sogar.

»Kathi, guck mal!« Moritz’ Augen leuchteten. »Es ist …«

»Táan.« Kathrin wusste es, noch ehe ihr Bruder es ausgesprochen hatte. Und neben ihm saß sein Zwillingsbruder Sigai.

»Hallo, Kate«, sagte Táan und lächelte. Aber seine Augen, die in Kathrins Erinnerung so leuchtend tiefbraun funkeln konnten wie das Harz der Ahornbäume, blieben dunkel.

Er hat sich die Haare abgeschnitten, dachte Kathrin und wunderte sich verschwommen, warum ausgerechnet diese Erkenntnis sie so schmerzte. Sie hatte seine langen Haare immer gemocht. Nun trug nur noch Sigai den kurzen Pferdeschwanz, den sie von den Zwillingen kannte.

Táans Bruder indes machte sich nicht einmal die Mühe, ein freundliches Gesicht zu versuchen. Und Kathrin wusste nicht, ob sie irre lachen oder vor Verzweiflung in Tränen ausbrechen sollte. Táan. Sigai. Und ihr alter Name: Kate. Hier, zu Hause, in ihrer Küche. In diesem Moment schien die Vergangenheit, die sie seit Jahren so weit von sich geschoben hatte, wie sie nur konnte, bis sie sich zu einem riesigen Berg aufgetürmt hatte, mit einem Mal über ihr zusammenzubrechen.

In ihrem Kopf aber brach im gleichen Moment ein wildes, triumphierendes Lachen aus.

Das ist ja nicht zu fassen! Endlich! Endlich! Auf diesen Tag habe ich seit Jahren gewartet! Freu dich, Mädchen! Hier kommt jemand, der all deine Fehler ausbügeln kann!

Kathrin antwortete dem Raben nicht. Stattdessen zwang sie sich nun ebenfalls ein Lächeln aufs Gesicht, auch wenn sie ahnte, dass es nicht überzeugender war als das von Táan.

»Überraschung!« Miriam schien die seltsame Stimmung zwischen ihrer Tochter und den unerwarteten Gästen gar nicht zu bemerken. Sie strahlte über das ganze Gesicht. »Die beiden sind mit einem Austauschprogramm zur Völkerverständigung hier und werden die ganzen Sommerferien bei uns wohnen! Na, was sagst du? Ist das nicht großartig?«

»Wahnsinn«, murmelte Kathrin matt. Völkerverständigungsprogramm! Von wegen! Sie wusste genau, weshalb die Zwillinge hier waren. Táan hatte sie verraten. Nach all den Jahren hatte er sie doch noch verraten. Und in diesem Moment hätte sie wirklich heulen können.

Ihre Mutter allerdings deutete ihre Sprachlosigkeit offenbar weiterhin komplett falsch und das war vermutlich ihr aller Glück. »Moritz war so lieb, den beiden sein Zimmer zu überlassen«, erklärte sie fröhlich und wuschelte Kathrins Bruder durch die Haare. »Er kann ja so lange bei dir auf der Gästematratze schlafen. Für die sieben Wochen wird das doch wohl gehen, oder? Na, was sagst du? Ist das nicht eine super Entschädigung dafür, dass wir dieses Jahr nicht in den Urlaub fahren können?«

Sieben Wochen. Kathrin war, als hätte jemand soeben ihre großen, goldenen Sommerferien in ein schwarzes Loch verwandelt, das alle Fröhlichkeit aufsaugte. Aber ihrer Mutter zu widersprechen war einfach nicht drin. Wie auch? Wie hätte sie ihr erklären sollen, dass sie sich über die lang geplante und höchstwahrscheinlich kostspielige Überraschung überhaupt nicht freuen konnte? Miriam dachte offenbar, Táan und sie wären nach all den Jahren immer noch beste Freunde. Und Kathrin brachte es einfach nicht übers Herz, ihr die Wahrheit zu sagen. Zu dumm nur, dass sie eine furchtbar schlechte Lügnerin war.

»Super«, murmelte sie und wusste, dass ihre Mutter sie spätestens jetzt durchschauen würde. Ihr überraschter Blick sprach Bände.

»Sorry, Mama«, versuchte Kathrin sich zu entschuldigen, obwohl ihr klar war, dass das nicht funktionieren konnte und es vermutlich nur noch schlimmer machen würde. »Ich freu mich, ich hab nur … gerade gar keine Zeit. Weißt du, ich bin mit Malin und Hauke am See verabredet und muss gleich los …«

Wie erwartet, verschloss sich das Gesicht ihrer Mutter augenblicklich. Kathrin sah, dass sie unter allen Umständen ihre Enttäuschung vor den Gästen verbergen wollte. Aber später, das wusste sie, würde es noch ein ordentliches Donnerwetter deswegen geben.

»Na, aber das ist doch super!«, flötete Miriam betont fröhlich. »Dann kannst du die beiden ja gleich mitnehmen und sie deinen Freunde vorstellen. Ein Nachmittag am See klingt doch nach einer tollen Unternehmung!«

Kathrin konnte nicht anders, ihr Blick flog wie magisch angezogen zu Táan und Sigai, die noch immer schweigend auf ihren Stühlen hockten. Vage kam ihr in den Sinn, dass die Brüder zumindest ahnen mussten, dass es kaum etwas Schlimmeres für sie gab, als sie mit zu ihren Freunden zu nehmen. Und sie wünschte sich mehr denn je, die Sonne, die durchs Fenster hereinbrannte, würde sie einfach schmelzen, damit sie in den Fugen zwischen den Bodenfliesen verschwinden konnte. »Ich weiß nicht«, stammelte sie. »Vielleicht wollen sie sich heute ja lieber noch ausruhen …«

»Jetzt hör aber auf, Kathrin!«, zischte ihre Mutter. Sie war nun wirklich sehr nah dran, die Beherrschung zu verlieren. Und Kathrin wusste, sie hatte verloren. So lange hatte sie darum gekämpft, ihre Gegenwart und Vergangenheit streng voneinander zu trennen. Aber das war in dem Moment vorbei gewesen, als sie die Küche betreten hatte.

»Tut mir leid«, flüsterte sie und konnte kaum noch verhindern, dass ihr Tränen in die Augen stiegen.

»Klar könnt ihr mit mir zum See kommen. Wenn ihr wollt …«

Táan und Sigai sahen sich an. Es war unmöglich, in ihren Gesichtern zu lesen, aber das musste Kathrin auch nicht. Eigentlich war es egal, was sie dachten. Es war ja sowieso alles zu spät.

»Mama, was hat Kathi denn?«, fragte in diesem Moment Moritz. Er begriff offenbar überhaupt nicht, warum Kathrin nicht vor Begeisterung völlig ausflippte. Wie sollte er auch?

»Ich weiß auch nicht, Schatz.« Miriam lächelte angestrengt. »Sie ist wahrscheinlich müde von der Schule, sie hatte einen langen Tag. Da war die Überraschung vielleicht ein bisschen viel für sie. Oder, Kathrin?« Sie schüttelte den Kopf, wie um zu zeigen, dass sie eigentlich gar keine Antwort mehr wollte. »Komm, Mori. Du kannst mir im Garten helfen. Die drei haben sich bestimmt eine Menge zu erzählen und wollen ein bisschen Zeit für sich.«

Moritz’ Augen wurden riesengroß und rote Flecken erschienen auf seinen Wangen. Selbstverständlich wollte er auf keinen Fall gerade jetzt in den Garten gehen. Aber seine Mutter ließ ihn gar nicht erst protestieren. Sie nahm Moritz in ihrer resolutesten Art am Ellbogen und zog ihn einfach nach draußen. Nur ein düsteres Loch aus Enttäuschung und Unverständnis blieb zurück.

Eine Weile blieb Kathrin noch stehen, wo sie war. Ihr Kopf fühlte sich trotz der Hitze wie eingefroren an und ihr Gehirn wiederholte immer und immer wieder nur den einen Gedanken:

Táan. Ausgerechnet Táan.

Auch die Brüder schwiegen nun beharrlich. Táans Lächeln war längst verschwunden. Und Kathrin wusste, bei einem Wettstreit, wer das drückende Schweigen länger aushielt, würde sie definitiv den Kürzeren ziehen. Táan und vor allem Sigai waren schon als Kinder unbezwinglich in allem gewesen, was Geduld erforderte – nicht zuletzt, weil Kathrin mit dieser Tugend leider kein bisschen gesegnet war.

»Also … ich geh mich dann mal umziehen.« Wenn sie zwischen den beiden hindurchsah, musste sie keinem von ihnen direkt in die Augen sehen, das immerhin war praktisch. »Wenn ihr mitwollt, in einer halben Stunde geht’s los. Es … ähm … ist schön, euch zu sehen.«

Táan und Sigai wechselten einen weiteren Blick. Wie damals schon verstanden sie sich wortlos, führten stumme Gespräche, bei denen Kathrin sich jedes Mal ausgeschlossen und ein bisschen dumm vorgekommen war. Aber diesmal war die Botschaft auch für sie eindeutig. Die beiden hatten ein Anliegen, von dem sie alle drei wussten, was es war. Unklar blieb nur, ob dies der richtige Zeitpunkt für eine Konfrontation war oder ob sie damit noch warten sollten.

Kathrin aber wartete ihre Entscheidung nicht ab. »Dann bis gleich – vielleicht.« Mit diesen Worten floh sie aus der Küche und ließ die Brüder einfach sitzen. Die Tür knallte sie laut hinter sich zu.