Für Alice und Virginia.

Ich wünsche euch traumhafte Küsse mit den

coolsten Typen dieser Welt!

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K@ss mich, Colin!

Die Wolke plumpste nach unten. Ich hätte darauf gefasst sein müssen – war ich aber nicht. Der Fahrtwind zerrte an meinen Haaren, krampfhaft klammerte ich mich an den Sicherheitsbügel. Ich bekam kaum Luft. Noch ein paar Sekunden und die Höchstgeschwindigkeit war erreicht.

Jetzt! Jetzt! Jetzt!

»Küss mich!«, rief ich.

Colin gehorchte.

»Emma, sweet Emma«, flüsterte er, bevor er seine Lippen sanft und zärtlich auf meine legte.

Sanft und zärtlich?

Na ja. Nicht ganz.

Sein Mund stieß so heftig gegen meinen, dass ich bestimmt eine Lippenprellung bekam, falls es so etwas gab, und unsere Zähne trafen mit einem knirschenden Geräusch aufeinander. Ich glaube, es flogen sogar Funken.

Egal.

Toller Kuss, toller Typ! Bei über hundert Stundenkilometern auf der Achterbahn keine schlechte Leistung.

Ich schwebte im siebten Himmel. Oder zumindest: in der Achterbahn im Himmelspark.

Colins meergrüne Augen hüpften vor meinem Gesicht auf und ab, nachdem er seinen Mund mit einem »Plopp!« von mir gelöst hatte.

»Halt dich an mir fest, Baby!«

Verliebt wollte ich meinen Blick in seinen versenken; war bloß schwierig, weil der Wolkenwagen heute besonders heftig ratterte und wir hin und her geschleudert wurden. Mein Magen hob sich, und Colins Augen wirkten jetzt wie Murmeln, die jemand ständig in die Höhe warf.

Hilfe!

Mit aller Kraft wünschte ich mir den romantischen Moment zurück. Und wenn ich mir dabei die Vorderzähne ausschlug! Das war’s wert. Wer drei Jahre lang auf den ersten Kuss von seinem Traumtypen gewartet hatte, der durfte das verlangen.

»Küss mich!«, rief ich wieder.

»Ich knall dir gleich eine!«

Was?

»Colin, sag mal, spinnst du?!«

»Nix Colin. Lilli.«

Der Wagen ratterte noch stärker. Oder war es eher ein Rütteln? Ein wildes Schwanken?

Etwas traf mich an der Schulter.

»Aua!«

»Ich roll dich aus dem Bett, wenn du jetzt nicht ganz schnell klar in der Birne wirst. Und hör auf, so zu schmatzen!«

Okay, das reichte. So redete kein verliebter Traumtyp, so redete wirklich nur eine: Lilli, meine beste Freundin. Eventuell auch meine neue beste Feindin.

»Ich schmatze nicht, ich küsse, und zwar Colin«, erklärte ich so würdevoll wie möglich.

»Häh?«, machte Lilli. Sie rüttelte weiter und boxte wieder gegen meine Schulter.

Langsam wurde mir wirklich schlecht und so halbwegs wachte ich auf. Leider.

»Ich hasse dich!«, stieß ich aus und bekam große Lust, meine Freundin zurückzuboxen. »Du hast mir den Traum meines Lebens zerstört!«

»Den Traum vom Kuss mit einem Typen, den es nur in deinen Träumen gibt? Cool.«

Hm. Dagegen konnte ich nicht viel sagen. Allerdings bedauerte ich zum ungefähr tausendsten Mal, dass ich Lilli in einem schwachen Moment mein Geheimnis anvertraut hatte. Auf der anderen Seite war ich schon genauso oft froh darüber gewesen, weil es wenigstens einen Menschen gab, der eben dieses Geheimnis kannte und mich nicht für verrückt erklärte.

Höchstens ein klitzekleines bisschen. Meine beste Freundin galt zum Glück selbst nicht unbedingt als die Vernunft in Person, einige Leute fanden sie sogar leicht durchgeknallt. Deshalb hielt sie meistens brav die Klappe und akzeptierte mich so, wie ich war. Samt dem traumhaften Colin.

Ich blinzelte vorsichtig und entdeckte Lillis rundes Gesicht mit der Stupsnase direkt vor mir.

Ihre Augen waren nicht meergrün wie die von meinem Mister Dream, sondern haselnussbraun, genau wie ihre Haare. Außerdem war Lilli klein, kaum eins sechzig groß, während Colin mich selbstverständlich locker überragte. Und das war in meinem Fall eine echte Leistung. (Eine Leistung meiner Fantasie, natürlich.)

Lilli erhob sich von meiner Bettkante und ihre leicht pummelige Figur geriet in mein Blickfeld. Okay, wenn ich sie bis gerade noch im Halbschlaf mit meinem sportlich durchtrainierten Traumjungen verwechselt hatte, zerstörte Lillis Anblick die Illusion in Sekundenschnelle.

Wer sie nicht kannte, hätte meinen können, dass sie bei Jungs keinen großen Erfolg hatte, aber das war ein Irrtum. Lilli wurde viel öfter als ich um ein Date gebeten. Denn dass sie nicht unbedingt aussah wie ein Model, machte sie locker mit ihrem quirligen Temperament und ihrem goldenen Herzen wett.

Ich blinzelte noch mal.

Ihrem goldenen Herzen? Mannomann! Da war ich aber noch ganz schön tief in meinem Liebestraum gefangen. So ein Kitsch fiel mir sonst nicht ein.

»Bist du endlich wach?«, herrschte Lilli mich an.

»Gleich«, murmelte ich und streckte mich unter der Decke. Meine Füße ragten ein ganzes Stück über die Bettkante hinaus. Ich war einfach zu schnell gewachsen, mein Bett hatte da nicht mithalten können. Und Lilli reichte mir höchstens noch bis zur Schulter.

Colin lächelte mich liebevoll an.

»Don’t go, Emma!«, flüsterte er.

Wenn ich mich anstrengte, wenn ich die Augen wieder fest schloss, gab es vielleicht noch eine Chance für uns. Wir würden wieder auf der Achterbahn »CloudKiss« fahren, die so hieß, weil es mit den Küssen da oben eine besondere Bewandtnis hatte. Unsere Lippen würden sich wiederfinden und niemand würde uns stören.

Seufz!

Ich entspannte meine Gesichtsmuskulatur, blendete Lillis Anwesenheit aus und fühlte mich warm und geborgen. Der Kuss war so real, wie ein Kuss nur sein konnte. Also, nicht dass ich da so viele Vergleichsmöglichkeiten hätte. Was daran liegen könnte, dass ich seit drei Jahren in einen Typen verliebt war, der buchstäblich durch mich hindurchsah.

Wahrscheinlich, weil ich so blass war. Jedenfalls hatte dieser Kerl mich noch nie geküsst und deshalb wollte ich es anfangs auch mit keinem anderen versuchen. Na ja, ein bisschen Erfahrungen hatte ich inzwischen schon gesammelt. Hatte sich bloß noch nie besonders richtig angefühlt. So wie der Kuss mit Colin gerade …

»Igitt! Jetzt sabberst du auch noch!«

Lillis Seelenverwandtschaft zu mir äußerte sich eher selten verbal. Ich achtete nicht auf sie, sondern strich mir über die Wange und bildete mir ein, es wären Colins zärtliche Fingerspitzen.

»Hast du endlich genug an dir rumgewischt? Können wir jetzt mal zur Tagesordnung übergehen?«, erkundigte sie sich freundlich und zog mir mit aller Gewalt die Bettdecke weg.

Ich kämpfte verzweifelt, während Colin sich endgültig verkrümelte.

»Bye, Darling, bis bald!«, wisperte er.

»Was machst du überhaupt in meinem Schlafzimmer?«, grunzte ich und gab endlich den Kampf auf, woraufhin Lilli mit viel Schwung und samt der Decke auf den Fußboden plumpste.

»Autsch!«

»Strafe muss sein«, sagte ich grinsend und schwang die Beine aus dem Bett. »Also? Wieso bist du um diese Uhrzeit hier?« Ich linste zum Wecker. »Um acht Uhr früh?«

»Wir haben reingefeiert, schon vergessen? Und ich kann auf dem blöden Ding da nicht mehr schlafen.« Sie deutete auf die dünne Schaumstoffmatratze am Boden. »Außerdem hast du angefangen, diese komischen Geräusche zu machen.«

Auf Letzteres ging ich lieber nicht ein. War mir ein bisschen unangenehm, jetzt, wo ich richtig wach war.

Reingefeiert?

Oh, Mist!

Vor lauter Traum-Küssen hatte ich glatt vergessen, dass ich siebzehn geworden war.

»Happy Birthday!«, sagte Lilli feierlich. »Jetzt bist du wieder fünf Monate lang ein Jahr älter als ich.«

Typische Lilli-Logik.

»Du hast mir doch bestimmt schon um Mitternacht gratuliert«, erwiderte ich, während mir nach und nach die Einzelheiten unserer kleinen Feier einfielen. Hätte ich drauf verzichten können.

Aber so ist das leider mit dem Bewusstsein: Wenn es erst mal richtig da ist, kriegt es so eine verdammt schonungslose Art und erinnert dich daran, was du alles angestellt hast. Da fallen dir dann so Dinge ein wie »Karaoke-bis-sich-die-Gäste-beschweren«, »Heularien-weil-dich-keiner-liebt« und »Mond-anjaulen-weil-du-für-jemand-Bestimmtes-Luft-bist«.

Peinlich, peinlich.

Dabei war noch nicht mal viel Alkohol im Spiel gewesen. Was es irgendwie noch schlimmer machte, fand ich. Aber Lilli trank aus Prinzip nichts Hochprozentiges und alleine hatte ich keine Lust auf Cocktails gehabt.

Also hatten wir hauptsächlich Chips gegessen und uns die halbe »Sex and the City«-DVD-Sammlung meiner Mutter angeschaut. Bis heute das beste Studienmaterial über Männer!

Danach hatten wir gesungen, ich vielleicht noch etwas lauter als Lilli, weil ich mich trotz ihrer Gesellschaft plötzlich so einsam gefühlt hatte.

Na, und dann hatten ein paar Gäste unseres Hostels gegen die Wand gedonnert.

Das »Cloud« gehörte meiner Mutter, und eigentlich waren die Leute, die bei uns abstiegen, überwiegend jung und gut drauf. Aber gestern Abend hatten ein paar von denen anscheinend schlechte Laune gehabt. Was daran gelegen haben konnte, dass ich eher unmusikalisch bin.

»Du klingst wie ein kastrierter Terrier auf Ecstasy«, hatte Josephine mit PH mal behauptet.

Nett.

Danach war ich furchtbar traurig gewesen und weder Lilli noch Colin hatten mich trösten können.

»Klar habe ich dir gratuliert, aber da hast du schon nichts mehr mitgekriegt«, sagte meine Freundin jetzt. »Du hast geheult und gejault und nach Colin gerufen. Dann bist du von jetzt auf gleich eingeschlafen, dabei wollte ich dir noch die Karten legen. Bist du sicher, dass in deiner Cola nur Rum drin war?«

»Ich schwöre!«

»Wäre mir ja sonst auch aufgefallen. Und du weißt, dass zu viel Alkohol meine magischen Kräfte minimiert.«

Ein todernster Ausdruck senkte sich in ihre Augen und sie war schlagartig genau das Gegenteil von quirlig und leicht durchgeknallt. Sie wirkte plötzlich sehr erwachsen und irgendwie brillant. Wenn ich sie nicht schon so lange gekannt hätte, wäre ich schwer beeindruckt gewesen.

So aber kicherte ich nur.

Nachdem Lilli von ihrer Mutter im Alter von zehn Jahren deren ausrangierte Glaskugel geschenkt bekommen hatte, gehörte ihr die Zukunft. Also, die Zukunft anderer Leute. Meine, zum Beispiel. Die war, seit Lilli sie mir vorhersagte, richtig abwechslungsreich geworden. Nur leider nie so ganz korrekt. Sonst hätte ich inzwischen drei Shetlandponys und einen Golden Retriever besessen, einen Goldschatz am Ende des Regenbogens gefunden, meinen Papa heimgeholt und Eriks Herz erobert.

Das war der Typ, der grundsätzlich durch mich hindurchsah.

Ach ja, und vor zweieinhalb Jahren hätte ich laut Lilli Robert Pattinson küssen können. War halt damals mein Schwarm gewesen, und – hey – jeder macht mal Fehler. Immerhin hatte er mich eine Weile von Erik abgelenkt. Und von Colin. Was der mir allerdings ein bisschen übel genommen hatte.

Ja, also meine Zukunft. Dumm gelaufen bisher, aber so leicht gab Lilli nicht auf. Schließlich war ihre Mutter Nena Nickel die Wahrsagerin im Himmelspark, und Lilli hatte fest vor, eines Tages entweder ihren Job zu übernehmen oder in Las Vegas ganz groß rauszukommen.

Bis dahin übte sie in ihrer Freizeit. Vorzugsweise an mir. Einmal hatte ich vorsichtig darauf hingewiesen, dass die alte Glaskugel einen Riss hatte und die Vorhersagen vielleicht deshalb nicht so ganz korrekt waren. Aber davon wollte Lilli nichts hören. Sieglaubte fest an ihre Fähigkeiten. Und neuerdings spezialisierte sie sich sowieso auf Tarot.

»Wir können das jetzt machen«, bot sie an. »Ich hol nur schnell die Karten aus dem Rucksack. Wo habe ich den denn hingeschmissen?«

Suchend sah sie sich um, aber ich sprang schnell aus dem Bett.

»Sorry, keine Zeit. Muss heute Vormittag noch zwei Zimmer vorbereiten.«

Ausnahmsweise war ich froh darüber, dass ich im Hostel so viel mithelfen musste. Gestern noch hatte ich mit meiner Mutter gestritten und darauf bestanden, dass eine hart arbeitende Schülerin das Recht hatte, in den großen Ferien auch mal Urlaub zu machen. Die Sommerferien hatten nämlich schon vor einer Woche begonnen, aber bisher war ich noch nicht ein einziges Mal dazu gekommen, morgens richtig auszuschlafen.

Mama hatte ihr übliches entschuldigendes Lächeln aufgesetzt und gesagt: »Ich weiß, Emma, mein Schatz. Aber wir haben Hochsaison und ganz allein wäre ich völlig hilflos.«

Was leider stimmte.

Da sie schon mal dabei war, erinnerte Mama mich auch gleich daran, dass wir beide ohne das Hostel demnächst unter einer Brücke schlafen würden beziehungsweise Hartz IV beantragen müssten, was in ihren Augen gleich schlimm war.

Die ewigen Sprüche.

Ich konnte sie nicht mehr hören, obwohl ich wusste, dass sie recht hatte. Alles in meinem Leben hing unrettbar zusammen: ich selbst mit meiner Mutter und dem Hostel »Cloud«. Das Hostel mit dem Himmelspark, einem der beliebtesten deutschen Vergnügungsorte. Der Freizeitpark mit der Achterbahn »CloudKiss«, die Jugendliche aus aller Welt erleben wollten – für die sie deshalb sogar bis in die norddeutsche Tiefebene kamen und in einer Kleinstadt namens Kiesel übernachteten, die so unbedeutend war, dass sie es mit ihrem Namen nicht mal bis zum Stein oder gar Felsen gebracht hatte.

Das war uns allen hier verdammt peinlich.

Wenn wir bei einem Ausflug nach Hamburg oder Bremen erzählten, wir kämen aus Kiesel, ernteten wir regelmäßig ratlose Blicke. Fügten wir hinzu, das sei die Stadt neben dem Himmelspark, wussten alle sofort Bescheid.

So einfach war das. Der Park war wichtig und das Hostel war wichtig. Für mich hatte es zur Folge, dass ich kräftig mit anpacken musste, zumal meine Mutter nicht gerade die geborene Geschäftsfrau war.

Es gab kein Entrinnen.

Seufzend schnappte ich mir Jeans und T-Shirt.

»Für die Zukunft habe ich heute echt keine Zeit«, erklärte ich knapp. »Es gibt Pflichten zu erfüllen.« Das klang gut und erwachsen, fand ich. Musste ich mir merken.

Lässig glitt ich in meine Jeans. Blöd nur, dass ich mich mit beiden Beinen im rechten Hosenbein verhedderte und meinen souveränen Eindruck gleich wieder zunichtemachte, indem ich hilflos zurück auf mein Bett sackte. Meine langen Glieder waren einfach mal wieder im Weg. Daran musste ich noch arbeiten.

Lilli grinste. »Boah! Dünner geht’s nicht. Du brauchst echt bloß ein Hosenbein!«

»Eben nicht.« Ich kämpfte darum, meinen linken Fuß zu befreien. Der steckte irgendwo in den Tiefen meiner angriffslustigen Hose fest.

»Soll ich Seifenwasser holen?«, bot Lilli hilfsbereit an. »Dann flutscht es besser.«

»Untersteh dich!«

Ich zog und zerrte. Der Fuß löste sich mit einem Ruck, mein linkes Knie knallte gegen mein Kinn. Ich sah funkelnde Sterne.

Lilli klatschte in die Hände. »Hast du dich gerade selbst k.o. geschlagen?«

»Klappe«, knurrte ich. Und weil ich ein bisschen sauer auf sie war, wiederholte ich noch mal: »Ich will von deiner Wahrsagerei jetzt nichts wissen, klar?«

Lilli zog einen Flunsch. »Du machst einen schweren Fehler. Ich spüre gute Vibrationen, das ist dein Moment. Du wirst erfahren, ob Erik heute Abend zu deiner Geburtstagsfeier kommen wird. Und so erwartet dich eine leuchtende Zukunft!«

Fast wäre ich auf sie reingefallen, obwohl ich mir unter einer leuchtenden Zukunft nicht viel vorstellen konnte. Klang nach radioaktiver Strahlung.

»Interessant«, erwiderte ich und tat, als würde ich scharf nachdenken, während ich meine Beine so elegant wie möglich in die jeweils für sie vorgesehenen Hosenbeine bugsierte.

Prompt hoben sich Lillis Mundwinkel. »Vertrau deiner allerbesten Freundin – und der Macht der Karten.«

»Prima. Blöd nur, dass es keine Party gibt, zu der irgend jemand kommen könnte.«

Die Macht der Karten fiel in sich zusammen. Beziehungsweise: Lillis Gesichtszüge entgleisten.

»Du gibst keine Party? Du bist endlich siebzehn und willst das nicht feiern? Machst du Witze?«

»Nö.« Ich stand wieder auf, zog den Reißverschluss hoch und schloss den Knopf. Dann hüllte ich mich in ein schwarzes T-Shirt in XXL-Größe.

Es fiel so, wie es fallen sollte, nämlich weit und locker über meine kaum vorhandene Oberweite und meine abstehenden Hüftknochen. So konnte wenigstens die Illusion entstehen, unter dem Stoff würden sich weibliche Proportionen befinden, die ich nur verstecken wollte.

Meine Mutter war der Meinung, ich machte mir da zu viele Gedanken. Ich sollte mich ruhig ein bisschen farbenfroher und figurbetonter kleiden, sagte sie immer. Ich sei nämlich bildschön und würde das nur nicht merken.

Meine Mutter hatte eben keinen Plan.

Figurbetont, ha!

Erstens gab es nichts zu betonen und zweitens erledigte meine Mutter das schon an sich selbst mit ihren engen Kleidern und tiefen Ausschnitten.

Nee, danke. Eine in der Familie reichte.

Neuerdings fügte sie gern hinzu, ich müsste nur warten, bis ich ausgewachsen sei. Die richtigen Pölsterchen würden dann schon noch kommen.

Okay, aber wann sollte das sein? Wenn ich die Drei-Meter-Marke überschritten hatte? Ich war jetzt schon knapp eins achtzig. Das reichte! Von einer Hormonbehandlung, um die ich meine Mutter anflehte, seit ich dreizehn war und anfing, in die Höhe zu schießen, wollte sie natürlich nichts wissen. Der Natur dürfe man nicht ins Handwerk pfuschen, behauptete sie.

Na super. Eines Tages würde ich im Himmelspark als Attraktion ausgestellt werden. Herrschaften, treten Sie näher, sehen Sie das größte Mädchen der Welt, wie es sich selbst k.o. schlägt …

»Das würde ich nie zulassen, Darling!«, versicherte mir Colin schnell, als ich so weit mit meinen Überlegungen gekommen war.

Aber da stellte Lilli sich auf die Zehenspitzen und klopfte mir mit dem Fingerknöchel gegen die Schläfe.

»Pennst du im Stehen weiter? Also, was ist jetzt mit der Party?«

»Keine Party«, gab ich dumpf zurück, in Gedanken noch ganz bei der Drei-Meter-Emma. »Ich bin zu groß dafür.«

»Was?«

»Ich meine, zu müde. Außerdem haben wir gestern schon gefeiert.«

»Quatsch. Wir haben Cola getrunken, Chips gegessen und zugesehen, wie Carrie mit Mr. Big rumgemacht hat. Das ist nicht feiern. Und heute ist Samstag, da hat keiner was Besseres vor.«

Ich hob die Schultern. »Egal. Hab trotzdem keine Lust.«

Allein der Gedanke, ich müsste einen kompletten Abend mit der Hoffnung verbringen, ein gewisser Typ könnte tatsächlich vorbeikommen – nur um dann enttäuscht zu werden, weil er doch nicht kam –, jagte mir ein paar kalte Schauder über den Rücken. Ich hielt mich selbst grundsätzlich für ein ziemlich starkes Mädchen, aber das war selbst mir zu viel. Lilli und die anderen, die in meine unglückliche Liebe eingeweiht waren, würden versuchen, mich zu trösten, die Party würde sich wie Kaugummi in die Länge ziehen, und mein armes, junges Herz würde endgültig brechen.

Knacks!

O Mann, irgendwas machte dieser siebzehnte Geburtstag mit mir. Irgendwas furchtbar Kitschiges.

Zum Glück konnte Lilli keine Gedanken lesen.

Hoffte ich.

Endlich fiel mir aber eine gute Ausrede ein: »Ich werde viel zu kaputt sein. Nachher kommt eine Gruppe aus München. Fünf Typen zwischen achtzehn und zwanzig. Das wird total anstrengend!«

»Pfft«, machte Lilli. »Pass auf. Ich helfe dir mit den Zimmern und nachher reden wir noch mal über heute Abend, okay?«

»Okay«, sagte ich leichthin.

Hilfe konnte ich immer gebrauchen und irgendwie würde ich Lilli schon von ihrer Partyidee abbringen. Mir war einfach nicht danach – und ich hatte meine Gründe.

Oder besser gesagt, einen ganz bestimmten.

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Der Ritter der Schwerter

»Erst mal frühstücken«, entschied Lilli.

Ich nickte, obwohl mir noch ein wenig schlecht war von der Schaukelei im Traum und Lillis Angriff auf mein Bett. Aber ein heißer Tee und etwas Zwieback konnten nicht schaden.

Lilli schnappte sich ihren Rucksack, marschierte vorneweg in unsere Küche, füllte den Wasserkocher und schaltete ihn ein.

Unsere Wohnung im ersten Stock eines Altbaus war winzig, weil meine Mutter so viel Platz wie möglich für das Hostel hatte lassen wollen. War eine kluge Entscheidung gewesen, vor allem für Mamas Verhältnisse. Regelrecht vorausschauend. Bis heute bewunderte ich sie insgeheim dafür. Aber wenn ich noch weiter wachsen sollte, konnte es eng werden.

Es gab überhaupt nur zwei Räume, wobei das Zimmer meiner Mutter auch als Wohnzimmer diente. Meistens zog ich es aber vor, in meinem eigenen kleinen Reich zu bleiben. Außerdem hatten wir noch eine schlauchartige Küche und ein winziges Bad. In der Dusche musste ich jetzt schon den Kopf einziehen.

Zum Hostel gelangte man über einen kurzen Flur. Hier oben gab es zwei Gästezimmer plus Gemeinschaftsbad, unten im Parterre waren noch einmal drei Räume eingerichtet, jeweils mit zwei oder maximal drei Betten. Alles reichlich eng und bescheiden. Dafür waren sämtliche Wände hellblau gestrichen, und überall segelten aufgemalte Schäfchenwolken zu den Zimmerdecken hinauf, was immerhin den Eindruck von Weite und Größe vermittelte.

Ich seufzte.

Es gab Tage, da hoffte ich, das »Cloud« werde sich auf magische Weise ausdehnen. Mehr Platz, mehr Licht und größere Einnahmen, indem wir mehr Leute unterbringen konnten. Zimmer mit vier oder sechs Betten brachten definitiv mehr ein.

Leider würde sich diese Hoffnung nie erfüllen, da half auch der künstliche Wolkenhimmel nichts. Wir wurden rechts vom Kieseler Rathaus und links vom Luxushotel »Star« eingequetscht. Vor dem Haus lag der Marktplatz, und hinten raus trat man direkt auf eine schmale Gasse, an die sich eine weitere Häuserzeile anschloss. Keine Chance auf Vergrößerung.

Ich seufzte abermals. Es war nicht gut für mich, so früh am Morgen schon an das »Star« zu denken. Konnte mir die Laune für den ganzen Tag verderben. Erstens erstreckte es sich im Gegensatz zu unserem Hostel über drei miteinander verbundene Altstadthäuser – Platz ohne Ende hinter historischen roten Klinkerfassaden und spitzen Giebeldächern. Zweitens gehörte es der Mutter meiner Erzfeindin Josephine mit PH, und drittens … ach, es war besser, ich dachte nicht länger darüber nach.

Lilli interpretierte mein Seufzen falsch. »Jetzt lass endlich mal deine Jungs in Frieden. Die beiden haben einen entspannten Samstagmorgen verdient. Du darfst sie nicht ständig mit deinen Wünschen verfolgen.«

»Was? Eben hast du mir noch angeboten, dass du heute Abend …«

»Blödsinn. Ich bin keine Magierin. Hätte bloß mal nachgesehen, ob er vorbeikommt. Vielleicht geschieht ein Wunder.«

»Sehr komisch.«

»Na ja, ich kann eben nicht zaubern!«

Über Zauberer wollte ich im Moment lieber nicht nachdenken. Das hatte mit meiner Mutter und dem neuen Magier im Himmelspark zu tun und war so eine Sache, die mich extrem störte. Ernest Livingston hieß der und meiner Meinung nach hatte er Mama hypnotisiert. Vielleicht auch verflucht.

Keine Ahnung.

»Und diesen Colin musst du endlich abhaken«, fuhr Lili mit todernster Miene fort. »Das ist definitiv ungesund, wie du an dem hängst. Der tut dir nicht gut.«

Prompt meldete sich Colin aus den Tiefen meines Unterbewusstseins zu Wort. »Du willst mich wohl loswerden!«, rief er empört.

»Das stimmt doch gar nicht!«, gab ich zurück.

»O doch«, sagte Lilli. »Du bist meine beste Freundin, Emma, und ich sorge mich um dich.«

»Nicht nötig«, erwiderte Colin. »Emma kann auf sich selbst aufpassen.«

Lilli riss die Augen auf. »Das finde ich jetzt aber ein bisschen krank!«

»Was denn?«, fragte ich, ganz in Gedanken.

»Dass du von dir selbst in der dritten Person redest.«

»Ach so.« Colin grinste. »Sie denkt, dass du sprichst, wenn ich spreche.«

»Ach so«, sagte ich.

»Und du gibst dir selbst dein eigenes Echo«, ergänzte Lilli. »Na, egal. Colin muss jedenfalls weg.«

Colin ballte die Fäuste, aber das ging mir dann doch etwas zu weit.

»Hör auf!«, rief ich.

»Sie soll mich in Ruhe lassen, that old witch!«

Ich schüttelte den Kopf. Langsam löste Colin sich in Luft auf.

»Häh?«, machte Lilli.

O nein, hatte ich etwa schon wieder mitgesprochen?

»Nichts«, antwortete ich und hoffte, dass ich zumindest Colins letzten Satz nicht laut gesagt hatte.

Lilli warf mir einen zweifelnden Blick zu, dann streckte sie sich zu einem der Hängeschränke in die Höhe. »Wo sind die Teebeutel abgeblieben?«

Ich griff über sie hinweg und reichte ihr die Packung English Breakfast. Manchmal war es doch von Vorteil, groß zu sein. Lilli hängte je einen Teebeutel in zwei Becher und goss heißes Wasser auf. Ich stellte währenddessen Zwieback auf den Tisch und holte, da ich meine beste Freundin gut kannte, Butter, Marmelade und Aufschnitt aus dem Kühlschrank.

Lilli toastete dünne Weißbrotscheiben, dann saßen wir einander gegenüber am Frühstückstisch.

»Wirklich«, sagte sie, »du musst damit aufhören!«

Ich hatte gehofft, sie hätte das Thema vergessen. Um Zeit zu gewinnen, pustete ich in meinen Tee. Endlich sagte ich: »Was kann ich denn für meine Träume?«

Lilli legte sich drei Scheiben Salami aufs Brot, biss ab und kaute langsam.

»Ist nicht mein Spezialgebiet«, meinte sie dann. »Aber ich schätze mal, du hast das provoziert.«

»Was?«

»Du weißt schon, was ich meine.«

Wusste ich, wollte es aber nicht hören. »Ich denke normalerweise überhaupt nicht mehr an Colin. Das ist vorbei«, behauptete ich, halbwegs selbst davon überzeugt.

»Ja klar, und Miley geht ins Kloster«, erklärte Lilli.

Okay, sie glaubte mir nicht. Mir verging komplett der Appetit und ich zerbröselte meinen Zwieback auf dem Teller. Blöder Geburtstag. Konnte ich drauf verzichten.

»Colin Hemdswolle schwebt in anderen Sphären als du.«

»Helmsworth«, korrigierte ich automatisch. »Er heißt Helmsworth. Ist ein alter englischer Traditionsname.«

Lillis Zeigefinger schoss vor. Ich begriff, dass ich in ihre Falle gelaufen war.

»Das ist vorbei, was?«, fragte sie. »Du denkst kaum noch an ihn, ja?«

»Korrekt«, erwiderte ich, trank von meinem Tee, verbrannte mir die Lippen und unterdrückte einen Fluch.

»Darling, du musst besser aufpassen«, sagte Colin und schüttelte, besorgt lächelnd, den Kopf.

Ich verdrehte die Augen und lächelte zurück.

»Was gibt’s da zu grinsen?«, fragte Lilli.

Ich zwang meine Mundwinkel in Normalstellung.

»Sag ihr, sie soll sich um ihren eigenen Kram kümmern!«, zischte Colin.

Schätzungsweise musste ich ihn wirklich besser unter Kontrolle halten. Aber wie kontrollierte man eigentlich sein eigenes Unterbewusstsein?

»Wenn ich nicht über ihn reden müsste, wäre es vielleicht einfacher, ihn zu vergessen«, sagte ich kleinlaut.

»Nee, das funktioniert genau andersrum. Wie bei einer Teufelsaustreibung.«

Ich erschrak. Colin auch. Er wurde regelrecht blass, fast durchscheinend.

»Help me!«, rief er.

»Emma«, sagte Lilli fest, die zu ahnen schien, was in mir vorging. »Du bildest dir diesen Engländer bloß ein. Der ist nicht echt, capito?«

»Das weiß ich doch!«, erwiderte ich.

Ich wusste es wirklich. Meistens.

»Du hast ihn dir ausgedacht, weil du vor drei Jahren dein Herz an Erik verloren hast, und jetzt wirst du ihn nicht mehr los.«

Lilli konnte verflixt deutlich werden.

Aber ganz so einfach war das nicht gewesen. Damals waren ein paar Dinge gleichzeitig passiert, die – na ja – meine Fantasie beflügelt hatten.

»Was ist denn nun?«, fragte Lilli mitten in meine Überlegungen hinein. Mein Tee war kalt, der Zwieback zu Staub zerfallen.

»Hm?«, machte ich.

»Willst du dich endlich von Good-Boy-Colin verabschieden oder den Rest deines Lebens mit einem Geist verschwenden?«

Ich zuckte zusammen. »Rest deines Lebens« klang verdammt lang. Eine Vision entstand vor meinen Augen: Emma Stern, so um die achtzig, faltig und mit krummem Rücken, die mit einem kahlköpfigen Grufti-Engländer vor dem Kamin saß, wobei der Ohrensessel ihres Freundes seltsam leer wirkte …

Echt gruselig!

Lilli steckte sich eine Scheibe Salami ohne Brot in den Mund. Sie konnte besonders gut nachdenken, wenn sie etwas aß. Behauptete sie.

»Die Frage ist, ob eine Teufelsaustreibung wirklich hilft. Meiner Meinung nach bist du nämlich noch nicht bereit für den ultimativen Abschied.«

Der leere Ohrensessel machte mir schon etwas Angst, aber bis ich achtzig wurde, war es ja noch eine Ewigkeit hin.

Lilli hatte recht. Meinen Colin ließ ich mir so schnell nicht nehmen. Ich dachte tatsächlich noch häufig an ihn und ich wollte ihn so gerne noch mal küssen.

Nein, nein! Colin durfte noch nicht gehen!

Lilli las es mir vom Gesicht ab.

»Alles klar. Er bleibt also. Aber sag mir später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt! Ich glaube nämlich, du kriegst mit dem noch eine Menge Ärger.«

»Quatsch. Ich habe das unter Kontrolle.«

Lilli schnappte sich die letzte Scheibe Salami, bevor ich den Teller mit dem Aufschnitt zurück in den Kühlschrank stellen konnte.

»Eine Party würde dir helfen, auf andere Gedanken zu kommen. Nette Leute, coole Musik, gute Stimmung. Und wenn der schöne Erik seine starken Arme um dich legen würde …«

»Fang nicht wieder davon an!«

Lilli lachte, zog ihren Rucksack unter dem Tisch hervor und holte ihre Tarotkarten heraus. »Komm schon, Emma. Lass uns nur einen Blick hineinwerfen. Eine einzige Karte, die dir sagt, ob dein Traumtyp dein dumpf pochendes Herz erhören wird.«

Ich musste lachen, weil Lilli auch ganz schön kitschig drauf war. Und weil ich nicht sicher war, wen sie nun genau mit »Traumtyp« meinte.

»Lieber nicht.«

»Feigling. Ich spüre, da kommt jemand auf dich zu. Jemand, der dich von deinem Mister Dream erlösen wird.«

»Ich denke, du kannst nicht zaubern?«

»Ist nur so eine Idee.«

Ich fühlte mich jetzt schon von meinem Geburtstag überfordert, dabei war ich bisher nur aufgestanden und hatte Tee getrunken.

Müde sah ich Lilli an. »Was wollen wir denn eigentlich genau wissen? Ob Erik sich in mich verlieben wird oder ob da ein anderer auftaucht?«

Allein der Gedanke, ich könnte mich in jemanden verlieben, der nicht Erik Hansen hieß, erschien mir absurd.

»Alles. Na los.« Lilli fächerte die Karten auf. »Zieh eine. Bloß eine. Sei keine Spielverderberin.«

Ich dachte daran, dass sie meine beste Freundin war und dass sie unglaublich viel Geduld mit mir hatte, seit sie von Colin wusste. Außerdem wollte sie mir helfen, die Zimmer zu putzen. So einen Menschen sollte man nicht verärgern.

Also tat ich ihr den Gefallen. Ich setzte mich wieder hin und zog eine Karte.

Lilli drehte sie um.

»Oh, der Ritter der Schwerter.«

Ich nahm die Karte und sah einen ziemlich finster blickenden Typen in goldener Rüstung. In der Hand hielt er ein breites Schwert, das er vermutlich gleich dem nächstbesten Gegner in den Bauch rammen würde.

Der sollte mich von Colin erlösen? Indem er ein Blutbad anrichtete?

Nee, danke.

»War wohl nix.«

»Hör erst mal zu.« Lilli zog ein Buch aus dem Rucksack. »Ich lerne noch«, sagte sie entschuldigend.

Als sie meine hochgezogenen Augenbrauen bemerkte, fügte sie selbstsicher hinzu: »Sogar ein Genie wie ich muss sich manchmal noch rückversichern. Aber keine Angst, ich mache das schon.«

Dann blätterte sie, bis sie die richtige Seite gefunden hatte.

»Aha. Hier steht's: Der Ritter der Schwerter ist ein dunkelhaariger junger Mann mit braunen Augen. Er ist kühn und furchtlos und sich seines Erfolges gewiss. Mit großer Entschlossenheit bewegt er sich voran und opfert alles für seine Ziele. Der ewige Krieger, der jede Schlacht des Lebens schlagen kann.«

Das war ja beängstigend! Aber auch lustig. Ich konnte mir die Fast-drei-Meter-Emma schwer als eine Art Burgfräulein vorstellen, das von einem Ritter errettet werden musste. Unwillkürlich fragte ich mich, ob er mich auf seinem Schimmel entführen würde und ob das Ross groß genug für mich war. Hoffentlich schleiften meine Füße nicht auf dem Boden! Würde die Szene irgendwie verderben.

Ich gluckste in mich hinein, während ich mir die Tarotkarte besah. »Wenn der freundlicher gucken würde, hätte er fast Ähnlichkeit mit Colin. Aber das olle Schwert steht ihm nicht.«

Lilli verdrehte die Augen. »Ich bin noch nicht fertig. Die Figur symbolisiert Tapferkeit, Mut und Ritterlichkeit.«

»Genau wie Colin«, flüsterte ich und grinste.

»Er verteidigt das Gute und streitet gegen das Böse!«

Ich wartete, ob noch mehr kam, doch Lilli packte das Buch weg.

»Wahnsinn!«, sagte ich. »Das passt alles total. Aber wie soll mir denn bitte Colin helfen, Colin zu vergessen?«

Lilli sah sich nach Essbarem um. Der Tisch war allerdings schon abgeräumt. Also zauste sie sich bloß die Haare und schwieg eine Weile vor sich hin.

So langsam lief mir die Zeit weg, die Zimmer waren immer noch nicht hergerichtet.

Als ich schon wieder aufstehen und aus der Küche gehen wollte, holte Lilli tief Luft.

»Es steht viel schlimmer um dich, als ich befürchtet habe«, sagte sie düster.

»Was?«

»Es gibt kaum Hoffnung.«

»Hallo? Geht's noch?« Ich wollte lachen, denn sie klang wie Meredith Grey in »Grey's Anatomy«, aber es kam nur ein komisches Gurgeln aus meiner Kehle. Als ob der Kartenritter mir sein Minischwert drohend an den Hals gesetzt hätte.

Lilli blieb vollkommen ernst. »Warum siehst du in jedem Typen gleich deinen erfundenen Engländer? Es könnte auch jemand ganz anderes sein. Jemand, der herbeikommt und dich ablenkt. Und die Charaktereigenschaften passen übrigens auch ganz prima auf …«

»Also, erstens stimmt das überhaupt nicht«, unterbrach ich sie mit fester Stimme. »Ich kenne eine Menge Jungs und keiner erinnert mich an Colin. Und zweitens …«

Zweitens fiel mir kein weiteres Argument ein, deshalb verstummte ich. Lilli konnte die Ähnlichkeit zwischen dem Miniritter und Colin natürlich nicht erkennen, sie wusste ja nicht, wie er aussah. Und ich würde mich hüten, ihr zu erzählen, was für ein schöner, großer Typ mit dunklen Locken und meergrünen Augen er war.

So ein bisschen normal wollte ich in ihren Augen schon noch bleiben.

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Idioten im Anmarsch

Zehn Minuten später betraten Lilli und ich das erste der beiden freien Zimmer im Parterre, die geputzt werden mussten. Wir waren mit Eimer, Wischmopp, frischer Bettwäsche und Staubwedeln ausgerüstet.

»Wo ist eigentlich Charlotte?«, fragte Lilli und fing an, das untere Stockbett abzuziehen.

Ich nahm mir das obere Bett vor und musste mich nicht besonders strecken. »In Hamburg«, antwortete ich. »Auf der Reisemesse. Ist schon ganz früh losgefahren.«

»Wow!«, meinte Lilli. »Hat sie da einen Stand oder so? Nur für euer Hostel?« Ihre Stimme drang gedämpft zu mir nach oben. Wahrscheinlich kämpfte sie gerade mit dem Bezug.

»Nein«, gab ich zurück. »Aber Kiesel hat einen, zusammen mit dem Himmelspark. Und Mama will ein paar Flyer verteilen.«

Das passte zu ihr. Unser Tagesgeschäft ließ sie gern mal schleifen, aber mitten unter Leuten sein, gut aussehen und plaudern – das gefiel ihr.

Es war okay. Ein bisschen mehr Werbung für das »Cloud« konnte nicht schaden. Und ich war nicht traurig, dass sie an meinem Geburtstag fehlte.

»Fahr nur«, hatte ich gesagt. »Das ist wichtig. Es geht ums Geschäft.«

Und so war es ja auch. Ich seufzte.

Colin stupste mich liebevoll in die Seite. Dann schnappte er sich das Kopfkissen, das ich gerade abgezogen hatte, und warf es in die Luft.

»Sei nicht traurig, Baby«, sagte er, »ich bin doch bei dir!«

Ein paar Federn wirbelten hoch und vollführten einen irren Tanz vor meinen Augen. Darüber musste ich lachen. Colin auch. Das Kissen bekam noch mehr ab, der Bettpfosten leider auch.

»Autsch!«, rief ich und wackelte mit den Fingern, um zu prüfen, ob einer gebrochen war.

Nee. Keiner stand in unnatürlichem Winkel ab. Der Schmerz ließ auch schon nach. War aber nützlich gewesen, weil mein kurzer Moment von Trübsinn jetzt verflogen war.

»Danke, Darling!«, sagte ich.

»Immer wieder gern«, sagte Lilli. »Wofür denn?«

»Nichts. Vergiss es.«

»Ah, verstehe. Du führst Selbstgespräche mit Colin und schlägst dabei um dich.«

Sie brachte mein kleines Problem wie gewohnt auf den Punkt.

»Musste nur mal das Kopfkissen ordentlich aufschütteln.«

»Das klang aber anders!«

»Lass uns einfach weitermachen.«

Lilli antwortete nicht. Sie rührte sich auch nicht mehr.

Upps. War sie jetzt etwa doch genervt von mir? Ich hätte es ja verstehen können. Seit ich ihr von Colin erzählt hatte, warnte sie mich vor ihm. Ihr war das absolut nicht geheuer, wie eng ich mit ihm befreundet war – beziehungsweise wie stark ich von ihm besessen war, um mal ihre Worte zu benutzen. Sie sprach ernsthaft von einer Obsession, die sich angeblich leicht zu einer Geisteskrankheit auswachsen könnte. Andererseits lenkte sie aber auch immer wieder ein und war auf meiner Seite. So um Weihnachten herum hatte sie sogar mal ausprobiert, sich einen eigenen imaginären Freund anzulachen. Zu ihrem größten Bedauern war sie damit kläglich gescheitert. Sie verriet mir, der Typ habe in ihrem Kopf alle paar Minuten die Gestalt gewandelt. Von Justin Bieber zu Bill Kaulitz zu King Kong zu Gollum …

Aber nun war Lillis letzter Versuch, mir Colin auszureden, kaum eine halbe Stunde her. Vielleicht hatte sie ja endgültig die Geduld mit mir verloren.

Ich schaute nach unten und sah, dass sie gebückt über dem Bett hing.

»Was ist denn los? Hat einer der Gäste mal wieder was vergessen?«, fragte ich vorsichtig.

Das passierte ständig. Klamotten, Geldbeutel, Handys – unglaublich, was die Leute so liegen ließen. Letztes Jahr hatte ich sogar mal eine Babypuppe gefunden, die so echt aussah, dass ich sie vor Schreck fallen ließ, als sie anfing, in meinen Armen zu wimmern. Dann war sie still. Meine Mutter hatte ein Weilchen gebraucht, um mich davon zu überzeugen, dass ich keine Mörderin war. Ich dachte nicht so gern daran zurück.

Langsam kam Lilli hervor und richtete sich auf. Sie trug ein bunt verpacktes Päckchen in der einen und ein zusammengefaltetes Blatt Papier in der anderen Hand.

Ein paar Sekunden lang war ich unheimlich froh, weil sie nicht aussah wie jemand, der eine jahrelange Freundschaft zerstören wollte. Nur wie jemand, der nicht fassen konnte, was er da gefunden hatte.

»Ich glaube«, sagte sie andächtig, »das ist für dich. Und es fühlt sich an wie ein funkelnagelneues Smartphone.«

»Kannst du neuerdings wirklich hellsehen?«, fragte ich. Aber ich dachte dasselbe. Dieses Päckchen hatte genau die richtige Größe, und ich wünschte mir sofort intensiv, ich könnte noch heute mein uraltes und oberpeinliches Tastenhandy entsorgen.

»Hat Charlotte gerade Geld für so was?«

Mein Wunsch löste sich in Luft auf.

»Nee, natürlich nicht.«

Es sei denn … Es gab da eine andere Chance und die war sogar recht groß.

Lilli reichte mir das Blatt Papier. Ich erkannte die verwaschene Handschrift meiner Mutter und brauchte eine Weile, bis ich sie entziffern konnte.

»Happy Birthday, mein Schatz«, las ich vor. »Ich dachte mir, dass du dein Geschenk hier am ehesten findest. Das Zimmer steht ja seit gestern Abend leer, aber wie ich meine fleißige Emma kenne, wird es heute ganz früh vorbereitet. Und deshalb sollst du eine besonders schöne Überraschung erleben! Das Geschenk ist von deinem Vater. Das hast du dir wahrscheinlich schon gedacht, nicht wahr? Es wurde vor ein paar Tagen abgegeben. Ich hoffe, ich bin heute so rechtzeitig zurück, dass wir beide feiern können. Hab dich ganz doll lieb …« Ich brach ab. Lilli musste nicht unbedingt wissen, dass meine Mutter auch was von vielen dicken Küssen und festen Umarmungen geschrieben hatte.

Ich las den Zettel noch einmal und schluckte.

Colin wollte einschreiten und die Nachricht zerreißen und einen Moment lang kämpften meine Hände miteinander um die Vormacht.

Papa.

Mein verschwundener, quasi nicht existenter Vater. Der irgendwo ein Leben ohne mich lebte und wahrscheinlich eher selten an mich dachte. Der für diesen ganzen Schlamassel mit dem Hostel verantwortlich war – und der mir fehlte, obwohl ich kaum noch wusste, wie er aussah und wie es sich überhaupt anfühlte, einen Vater zu haben.

Nur eines wusste ich genau: Ich würde ihn finden, irgendwann. Und ich wollte erfahren, warum er mich verlassen hatte.

»Ich helfe dir dabei«, flüsterte Colin mir zu.

»Danke, aber das muss ich allein tun.«

»Was?«, fragte Lilli. »Charlotte hat dich ganz doll lieb und du musst was allein tun?«

»Äh, nein.«

Meine Hände gehörten wieder mir und falteten den Brief zusammen.

»Das ist also von deinem Vater? Echt? Smartphone! Smartphone! Smartphone!«, skandierte Lilli.

Okay, sie wusste von Martin Stern genauso viel wie ich, nämlich fast nichts, aber sie hatte im Laufe der Zeit mitbekommen, dass er mir zum Geburtstag und zu Weihnachten tolle Geschenke machte. Nicht in jedem Jahr, und manchmal schien er mich regelrecht vergessen zu haben. Aber wenn ich es schon nicht mehr erwartete, kam meistens doch noch etwas von ihm.

Ich hasste meinen Vater, weil er nicht da war, weil er noch nicht mal Kontakt mit mir haben wollte, aber ich nahm natürlich seine Geschenke an. Das war schließlich das Mindeste, was er für mich tun konnte. Und ohne ihn wäre ich wirklich arm dran gewesen – ohne iPod, ohne Laptop, ohne Nikes (die zwar eine halbe Nummer zu klein gewesen waren, aber trotzdem toll), ohne Colin … Ja, auch dafür war er indirekt verantwortlich.

»Mach auf! Mach auf! Mach auf!«

Ich riss das Papier herunter, sah die Schachtel und fischte das flache, handliche Gerät heraus, das mich endlich ein normaler Teenager werden ließ. Ich suchte das Päckchen nach einer Glückwunschkarte ab, nach einem wenn auch noch so winzigen Zettel.

Nichts. Wieder mal kein Wort von meinem Vater!

Ein kleiner, zorniger Schauder lief mir über den Rücken. Aber ich presste die Lippen aufeinander und knirschte mit den Zähnen, während sich Lilli für mich freute. Ich musste wirklich lernen, mit meinen Eltern besser klarzukommen.

»Ich kann mein Angebot nur wiederholen, Darling«, sagte Colin hilfsbereit.

»Was?«

»Denk dran, ich habe Erfahrungen als Privatdetektiv. Gemeinsam finden wir deinen Daddy.«

»Nein! Du bist nicht echt. Du kannst das nicht.«

»Wollen wir wetten?«

»Shut up!«, rief ich, und mein Traumboy funkelte mich beleidigt an.

»Emma!«, stieß Lilli aus. »Ich habe überhaupt nichts gesagt!«

»Sorry.«

Mist. Ich hatte schon wieder laut gesprochen. Das musste ich schnellstmöglich in den Griff kriegen! Aber Colin hatte recht. Es war wirklich dringend nötig, meinen Vater aufzuspüren und eine Erklärung für sein Verschwinden einzufordern. Ich konnte dieses Problem nicht länger vor mir herschieben.

Doch bevor ich wieder mal darüber nachgrübeln konnte, wie und wo ich eine Spur meines Vaters finden konnte, nahm Lilli mir mein neues Smartphone aus der Hand und begutachtete es.

»Guck mal!«, rief sie aus. »Inklusive SIM-Karte, also bestimmt auch mit Vertrag. Wo ist denn der?«

»Hat wahrscheinlich Mama«, mutmaßte ich, noch nicht ganz über die Enttäuschung hinweg.

»Los«, sagte Lilli. »Ich habe das Vorgängermodell. In null Komma nix zeige ich dir alle Funktionen.«

Ein Glück, dass ich meine beste Freundin hatte!

Dankbar ließ ich mich neben ihr auf das Bett fallen und wir versenkten uns in meine »Emma-ist-endlich-wie-alle- anderen-Zukunft«.

Das dauerte ziemlich lange, und wir vergaßen die Zeit, weil wir uns mit WhatsApp-Nachrichten amüsierten.

Ich stellte mir vor, wem ich außer Lilli noch gerne schreiben würde, lächelte vor mich hin und gab einen kurzen Text ein. So ganz aus dem Herzen.

»Fein«, schrieb Lilli zurück. »Ich liebe dich auch, Süße, aber alles hat seine Grenzen. An wen hast du denn gerade gedacht?«

Ich las noch ihre Antwort, als sie schon losprustete.

Ich grinste schief.