image

image

image

Die Geschichte um Leo, Friedrich, Marlene und Wilhelm ist natürlich ausgedacht. Es hat diese Helden nicht gegeben, so wie auch Sommerbier, Mackensen, Sirinow, Parks und die anderen Gestalten, die dieses Buch bevölkern, erfunden sind.

Aber das Berlin des Frühlings 1945 hat es gegeben, genauso wie die Trümmer, über die am 20. April die letzte Geburtstagsansprache des Propagandaministers Goebbels für seinen Führer Adolf Hitler wehte. Es hat die täglichen Bombenangriffe gegeben, die Luftschutzkeller und die Menschen, die sich darin voller Angst drängelten, die Fanatiker, die in den letzten Kriegstagen in ihrem Wahn noch Durchhalteparolen an die Hauswände schrieben, und die schweigende Masse, die kein Wort mehr davon glaubte und sich duckte, um von der Wirklichkeit möglichst unbeschadet überrollt zu werden.

Und es hat U-Boote wie Leo gegeben. Während der größte Teil der deutschen Juden, die nicht rechtzeitig das Land verlassen hatten, in die Vernichtungslager deportiert und dort ermordet wurde, versteckten sich einige Tausend von ihnen (genau bekannt ist die Zahl nicht) in Kellern und Hinterzimmern – unser Leo ist einer von ihnen. Und obwohl die meisten ihrer ehemaligen Mitbürger von ihnen im wahrsten Sinn des Wortes nichts wissen wollten (wie sie auch von den Deportationen und von den Massenmorden nichts wissen wollten), fanden sich hier und da Helfer wie Wilhelm, die ihr eigenes Leben riskierten, um diese menschlichen U-Boote unter der Meeresoberfläche der Großstadt zu verbergen und zu versorgen. Viele von ihnen wurden am Ende doch entdeckt, weil Gestapospitzel, Denunzianten und Verräter ihre Augen überall hatten, und auch, weil sie mit der Zeit vielleicht unvorsichtig wurden, die Wohnungen verließen, in Ausweiskontrollen gerieten oder auf der Straße erkannt wurden. Dennoch überlebten allein in Berlin etwa 1.400 Personen auf diese Weise den Krieg.

Den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg (ERR) hat es wirklich gegeben, und seine Arbeit lief in etwa so ab, wie der betrunkene Fritz Mackensen sie beschreibt: Das eigentliche Ziel, Material über weltanschauliche Gegner der Nationalsozialisten zu sammeln, trat bald in den Hintergrund, weil opportunistische Charaktere, von Gier getrieben, dazu übergingen, den ERR zur persönlichen Bereicherung zu nutzen. Dasselbe gilt im Prinzip für die anderen Organisationen, die sich an diesem lukrativen und für die Opfer nicht selten tödlichen Beutezug beteiligten. Die Plünderer gingen umso ungenierter vor, als ihre Führer nicht gerade ein Beispiel der Zurückhaltung gaben: Hitler plante in der Tat ein gigantisches Museum in Linz, und Göring, der über eine riesige Privatsammlung verfügte, häufte an, was er an alten Meistern bekommen konnte. Andere Parteigrößen sammelten ganz ungeniert Kunst, die nach der nationalsozialistischen Weltanschauung als »entartet« galt, doch auch sie kümmerten sich nicht um die Herkunft der Ware, die sie bei ihren dubiosen Hehlern kauften. Eine Wolowski-Sammlung hat es zwar nicht gegeben, aber sie steht symbolisch für eine ganze Reihe von hochkarätigen Sammlungen, die ihren rechtmäßigen Besitzern gestohlen, abtransportiert und oft auseinandergerissen und verscherbelt wurden. Alles in allem ist die Geschichte des Kunstraubs während des Zweiten Weltkriegs eine Geschichte, die viel mit Gier und wenig mit Ideologie zu tun hatte: Jeder arbeitete gegen jeden, um so viel wie möglich zusammenzuraffen. Als der Krieg zu Ende ging, wanderten Tausende von erbeuteten Kunstwerken kreuz und quer durch das Land, weil die Räuber hofften, sie behalten und irgendwann wieder zu Geld machen zu können. Eine ganze Reihe von Meisterwerken verschwand auf diese Weise, ohne dass man jemals wieder eine Spur von ihnen fand.

Das Bernsteinzimmer ist eines dieser Meisterwerke. Genauer gesagt, handelt es sich nicht um ein Zimmer, sondern um eine Wandvertäfelung, die überwiegend aus geschnitztem Bernstein bestand, kurz nach 1700 für das Charlottenburger Schloss angefertigt und dann aber im Berliner Stadtschloss eingebaut wurde. 1716 schenkte der Preußenkönig Friedrich Wilhelm sie dem russischen Zaren Peter (dem Großen), der ihm dafür groß gewachsene Rekruten für seine Leibgarde schickte. So kam das Zimmer nach Sankt Petersburg und landete schließlich im Katharinenpalast von Zarskoje Selo südlich der damaligen russischen Hauptstadt.

Als die deutsche Wehrmacht im Sommer 1941 in die Sowjetunion einfiel, witterten der ERR und andere teilweise in Behörden organisierte Kunsträuber fette Beute. Im September erreichten die deutschen Truppen den Raum Leningrad. Obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits viele Kunstschätze vor der heranrückenden Front in Sicherheit gebracht worden waren, fiel das Bernsteinzimmer, dessen Demontage in der Eile zu aufwendig gewesen war, in die Hände der Deutschen. Es wurde (nach einigem Kompetenzgerangel) schließlich nach Königsberg gebracht und dort im Schloss eingebaut und ausgestellt.

Angesichts der Gefahren durch den Bombenkrieg (einen ersten Brand im Schloss hatte das Bernsteinzimmer im Februar 1944 überstanden) wurde es nach kaum mehr als zwei Jahren wieder abgebaut und wahrscheinlich im Keller des Schlosses eingelagert. Um die Jahreswende wurde es dann mit Steppdecken und Federbetten gepolstert und in 28 Kisten verpackt, während die Suche nach einem geeigneten Evakuierungsort begann.

Was dann passierte, ist bis heute ein Geheimnis. Es ist bekannt, dass zahlreiche Kunstwerke (darunter auch die Privatsammlung von Gauleiter Koch) aus dem von der Roten Armee eingeschlossenen Ostpreußen auf dem Schienenweg über Potsdam nach Weimar geschafft wurden. Wahrscheinlich war das Bernsteinzimmer dabei. Wahrscheinlich.

Doch an diesem Punkt verzweigt sich der Baum der Theorien geradezu explosionsartig. Letztlich lässt sich noch nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob das Zimmer überhaupt noch existiert. Dennoch gibt es einige Privatforscher, die mit an religiöser Besessenheit grenzendem Eifer danach suchen. Theorien kamen und gingen.

Neue Hoffnung keimte vor allem in den 90er-Jahren auf: Nach der Öffnung der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow tauchte eine ganze Reihe verloren geglaubter Schätze wieder auf, die ihrerseits 1945 als Beute aus deutschen Museen nach Russland geschafft worden war. Darunter befanden sich auch der Schatz des Priamos und der Pergamonfries (den Leo, Friedrich und Marlene kurz vor dem Abtransport noch einmal besichtigen dürfen). Als dann im Jahr 1997 auf einer Auktion in Bremen ein Mosaik auftauchte, das nachweislich zum Bernsteinzimmer gehört, wurde die Glut noch einmal kräftig angefacht. Doch wer gehofft hatte, dass das Geheimnis des Bernsteinzimmers nun endlich gelüftet würde, wurde enttäuscht. Und so wird weiter spekuliert und an den Legenden gestrickt. Vielleicht taucht irgendwann ein Enkel von Oberst Sirinow auf und überrascht uns alle mit einem spektakulären Fund vom Dachboden seines Großvaters …

image

»Er soll uns bleiben, was er uns ist und immer war«, schnarrte die Stimme aus dem Radio.

Wilhelm verdrehte die Augen. »Unser Hitler«, äffte er den Minister durch zusammengepresste Lippen nach.

»Unser Hitler«, echote Goebbels. Die ersten Klänge der Nationalhymne quollen aus dem Apparat, eingebettet in eine Geräuschkulisse aus Knacken und Rauschen.

Leo und er standen am Fenster in Wilhelms riesigem Wohnzimmer und blickten hinaus auf die Kurfürstenstraße. Hinter ihnen tickte die Standuhr. Von der Höhe des fünften Stockwerks aus konnte man durch die ausgebrannten Dächer der gegenüberliegenden Häuserzeile in die gähnende Leere dahinter blicken. Der ganze Straßenzug war bis auf wenige Ausnahmen ein seelenloses Gerippe aus Ruinen, das von Brandschutzmauern und Fassaden mehr schlecht als recht zusammengehalten wurde. Die Brände hatten schwarze Schleier über den klaffenden Fenstern hinterlassen und die Sprengbomben alle Zwischendecken herausgerissen. An einigen Stellen waren ganze Häuser regelrecht pulverisiert worden. Die Schutthaufen lagen wie die Ausläufer von Schneelawinen zwischen den noch stehenden Häusern auf dem Bürgersteig. Verbogene Heizungsrohre und Balken ragten in den Himmel. Es war fast niemand auf der Straße unterwegs.

»Unser Hitler«, wiederholte Wilhelm verächtlich. »Dürfte sein letzter Geburtstag gewesen sein. Glückwunsch auch von uns.«

»Warum hörst du dir das überhaupt an?«, fragte Leo.

»Weil ich neugierig bin, wie groß der Abstand zwischen Wahn und Wirklichkeit noch werden kann.«

»Wahn und Wirklichkeit«, murmelte Leo.

»Ja.« Wilhelm kam in Fahrt. »Der Wahn ist ein Ballon, die Wirklichkeit der Boden. Verstehst du?«

»Natürlich.«

»Der Ballon steigt immer höher, weil sie immer mehr heiße Luft reinpusten. Und je höher der Ballon steigt, desto stärker spannt er sich, weil die Luft außen immer dünner wird. Und desto lauter wird der Knall, wenn der Ballon platzt. Sie wissen, dass das passieren wird. Und trotzdem pusten sie immer weiter heiße Luft rein.«

»Warum? Damit es lauter knallt?«

»Ja. Und damit sie den Absturz auf den Boden der Wirklichkeit auch bloß nicht überleben.«

»Das glaub ich nicht. Jeder will doch überleben.«

»Sicher. Die meisten warten auch nur auf den richtigen Moment, um mit dem Fallschirm auszusteigen. Den Letzten vernebelt die dünne Luft da oben offenbar den Verstand. Aber wer noch ein Fünkchen davon hat, der springt und rettet sich. Unser Reichsmarschall zum Beispiel. Der hat sich heute nach Bayern abgesetzt.«

Leo schaute seinen dreißig Jahre älteren Freund an. »Woher weißt du so was immer?«

Wilhelm lächelte dünn, ohne den Blick von der Straße abzuwenden. »Glaub es mir. Göring ist auf dem Weg nach Berchtesgaden.«

Unwillkürlich stellte Leo sich Görings aufgedunsene Gestalt vor, die schnaufend aus dem Korb eines Fesselballons kletterte.

Wilhelm hatte den gleichen Gedanken. »Damit wäre der letzte nennenswerte Ballast von Bord. Und jetzt überleg mal, wie schnell der Ballon erst ohne den Dicken steigt!«

Eine Weile lachten beide leise vor sich hin. Unten fuhren zwei Möbelwagen vor. Spedition Knauer stand in verblichenen Lettern auf den Planen. Die Fahrer rangierten eine Weile, bis die Laster quer auf der Straße standen. Auf eine Hauswand dahinter hatte jemand in weißen Druckbuchstaben »Siegen oder Sterben!« gepinselt. Der Schriftzug wurde zum Ende hin immer kleiner, weil der Abstand zum Hauseingang rechts davon offenbar falsch eingeschätzt worden war.

»Und während sie oben in ihrem Ballon auf den großen Knall warten, treffen Wahn und Wirklichkeit hier unten schon aufeinander. Verstehst du, was ich meine?« Wilhelm zeigte auf den aufgemalten Schriftzug. »Früher standen Hunderttausend Leute wie mit dem Lineal gezogen im Karree und schrien: ›Führer befiehl, wir folgen!‹ Es war zum Kotzen. Aber man hat ihnen sofort geglaubt, dass sie die ganze Welt in Brand setzen.«

»Und heute können sie keine drei Wörter mehr ordentlich an eine Wand pinseln. Und trotzdem soll man ihnen glauben, dass sie den Krieg gewinnen werden«, sagte Leo.

»Genau. Und jetzt frage ich mich: Glaubt so einer wirklich, was er da schreibt?«

»Vielleicht hat ihn jemand dazu gezwungen. Schreib das, sonst erschieß ich dich!«

Wilhelm lachte spöttisch auf. »Genau das wird der mit dem Pinsel hinterher auch sagen: Ich hab doch nur geschrieben, was man mir befohlen hat! Aber weißt du, was? Es wäre nicht so weit gekommen, wenn nicht jede Menge Leute viel mehr getan hätten, als sie mussten.«

Wilhelm verstummte, und wieder wusste Leo, dass sein Freund das Gleiche dachte wie er. Wilhelm sprach leise weiter. »Das sind die Leute, die deine Eltern an die Gestapo verpfiffen haben, Leo. Die laufen jetzt durch die Straßen und pinseln solche Sätze an die Wände.«

Wilhelm starrte auf die Mauer mit dem Satz. Er schien jetzt richtig wütend zu sein. »Siegen oder Sterben. Das ganze hirnlose Pathos. Die ganze lächerliche Unzulänglichkeit und die Großmäuligkeit, mit der alles übertüncht wird. Diese ganzen Ignoranten, die früher Schnoddrigkeit mit Schneid verwechselt haben und heute Halsstarrigkeit mit Entschlossenheit und jederzeit Arschkriecherei mit Disziplin. Siegen oder Sterben. Ist alles in diesem Satz enthalten, so wie er da steht.«

Auf der Straße war inzwischen ein Trupp älterer Männer erschienen, die eine Kette bildeten und einen der Möbelwagen mit Schutt zu beladen begannen. Die Straße hallte wider vom hohlen Poltern der Brocken auf dem Holzboden der Ladefläche. Es dröhnte, als zwei Mann einen Heizkörper hineinwarfen. Eine Panzersperre auf Rädern, die keinen Panzer länger als eine Minute aufhalten würde.

Sie schwiegen eine Weile. Leo dachte an seine Eltern und hatte einen Kloß im Hals.

Wilhelm blickte ihn an. Plötzlich schien ihm etwas einzufallen.

»Es stehen aber auch noch andere Sachen an der Wand«, sagte er. »Ich hab's gesehen, gestern in der Kantstraße. Sie waren gerade dabei, es in aller Hast zu übertünchen.«

»Was stand da?«

»Nein.«

»Wie, nein?«

»Nein. Nur das eine Wort. Und weißt du, was das Grandiose dabei ist?«

Leo ahnte, worauf Wilhelm hinauswollte, aber er ließ ihn weiterreden. Wilhelm konnte die Dinge besser auf den Punkt bringen.

»Dieses Nein ist für sie viel schlimmer als ›Nieder mit Hitler!‹ oder ›Die Kommune lebt!‹. Das sind Parolen. Dieses Nein ist eine Haltung.«

Leo verstand. »Und eine Einladung zum Selberdenken«, sagte er.

Wilhelm nickte. »Falls dazu noch jemand fähig ist hierzulande.«

»Vielleicht lernen sie's wieder.«

»Ich glaube eher, sie konnten es noch nie.«

»Dann wird es jetzt Zeit dafür.«

Wilhelm blickte ihn mit einer Mischung aus Verständnislosigkeit und Rührung an. »Unglaublich, dass so etwas ausgerechnet von dir kommt.« Er machte eine Pause und schluckte. Unten dröhnten die Trümmer im Sekundentakt auf der Ladefläche des Möbelwagens.

Wilhelm holte Luft. »Wenn du das kannst, dann muss ich es wohl auch glauben.«

»Werd nicht pathetisch.«

»Im Ernst. Ich würde dich ja sonst beleidigen.«

Leo wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment jaulte die erste Sirene los. Eine zweite fiel ein, dann eine dritte.

Wilhelm seufzte auf. »Unsere Befreier kommen. Ab in den Keller.«

Ohne übermäßige Eile packten sie ein paar Sachen in einen bereitstehenden Koffer. Der ständige Wechsel zwischen Luftschutzkeller und Wohnung – wenn man noch eine hatte – war den Berlinern vertraut wie ein religiöses Ritual, das man als Kind gelernt hat und von dem man als Erwachsener nicht lassen kann. Die Sirenen waren die Glocken, der Keller war die Kirche. Wenn es losging, wurde gebetet, und wenn es vorbei war, ging man zurück.

Dennoch war es bei Wilhelm etwas anders. Im Keller war fast nie jemand. Das Haus war schwer zerstört, aber während Bomben und Brandsätze sich üblicherweise von oben durch die Stockwerke fraßen, waren hier das Dach und Wilhelms Wohnung völlig unversehrt, während der untere Teil des Hauses ausgebrannt war, nachdem ein paar Bomben das Dach über der Nachbarwohnung durchschlagen hatten und weiter unten im Haus explodiert waren. Das anschließende Feuer hatte die ersten vier Stockwerke verwüstet, aber dann hatte die Feuerwehr die Brände unter Kontrolle bekommen und Wilhelms Wohnung war, abgesehen von den zerborstenen Scheiben, den versengten Tapeten und den vom Löschwasser ruinierten Teppichen, wie durch ein Wunder unbeschädigt geblieben. Seitdem lebte Wilhelm praktisch allein in dem großen Haus und kurz darauf hatte er Leo zu sich geholt.

Es war Leo ein Rätsel, warum Wilhelm die riesige Etage bewohnen konnte, ohne dass man ihm eine oder zwei ausgebombte Familien einquartierte. Mindestens genauso merkwürdig war, dass man Wilhelm noch nicht eingezogen hatte. Überhaupt war vieles an Wilhelm rätselhaft. Und so gern er auch schwadronierte: Über diese Dinge sprach Wilhelm nie. Wenn Leo ihn fragte, lächelte er nur das dünne, amüsierte Lächeln, mit dem ein Schauspieler die Affäre mit seiner zauberhaften Filmpartnerin nicht bestätigt und nicht dementiert.

Wilhelm schnallte den Koffer zu und gab Leo einen Klaps auf die Schulter. Sie verließen die Wohnung und traten ins Treppenhaus.

Auf dem Treppenabsatz im vierten Stock blieb Wilhelm plötzlich stehen, drehte sich zu Leo um und hielt sich einen Finger vor den Mund. Leo erstarrte und blieb wie angewachsen stehen, während Wilhelm zum dritten und dann zum zweiten Stock hinunterschlich. Zwischen den Metallstäben sah Leo, wie sein Freund über das Geländer nach unten spähte. Irgendwo hallten Schritte, aber Leo war der Blick durch die Treppe versperrt. Wilhelm schien dagegen umso mehr zu sehen. Er schaute nach oben, als hätte er Leos Blick im Nacken gespürt, und machte ein wedelndes Zeichen mit der Hand. Leo schlug das Herz bis zum Hals, dann begriff er und schlich zurück in den fünften Stock. In diesem Augenblick setzte die Sirene wieder ein und schluckte seine Schritte.

Ein paar Augenblicke später war Wilhelm bei ihm.

»Was ist los?«, flüsterte Leo trotz der Sirene. »Der Luftschutzwart?«

»Von wegen«, gab Wilhelm leise zurück. »Zwei von der SS. General Heldenklau braucht noch Leute. Die durchkämmen das Haus.«

»Zum Dachboden?«

»Was sonst? Beeil dich, sie sind noch im Keller.«

Der Dachboden war die letzte Zuflucht. Vom obersten Absatz aus hatte eine Holztreppe nach oben geführt, die Wilhelm entfernt und durch eine Strickleiter ersetzt hatte, nachdem Leo zu ihm gekommen war. Wenn die Strickleiter oben und die Luke geschlossen war, sah es fast so aus, als gäbe es keinen Aufgang. Natürlich konnte man die Luke erkennen, wenn man genau hinsah, und sicherlich mussten ungebetene Besucher irgendwann darauf kommen, dass der Weg zum Dachboden nur über diesen Treppenabsatz führen konnte. Aber man gewann Zeit, um die Strickleiter verschwinden zu lassen und die Rückwand von der großen Kiste abzuziehen, die ganz hinten in der Ecke unter der Dachschräge stand. Die Kiste hatte einen doppelten Boden. Der obere Teil war mit Löschsand gefüllt, der untere Teil barg einen Hohlraum, in den man von hinten hineinkriechen konnte. Wenn man dann von innen die Rückwand wieder davorzog, war man praktisch unsichtbar, denn wer den Deckel der Kiste öffnete, sah nichts als Sand.

Leo folgte Wilhelm nach oben. Sie zogen die Leiter ein und warteten, bis die Sirene wieder aussetzte. Unten im Haus war Türenschlagen zu hören, eine Stimme rief etwas wie zur Bestätigung, dann folgten wieder Schritte auf der Treppe.

»Klappe zu und zum Unterstand. Das ist sicherer«, sagte Wilhelm knapp und schloss die Luke. Leo sah, dass er angespannt war, auch wenn er es sich nicht anmerken lassen wollte.

Sie gingen zu dem Unterstand für den Luftschutzwart, der wie ein winziges Häuschen mit einem Dach aus Stahlplatten unter den Dachfirst gezimmert war. Ein schwacher Schutz, aber besser als gar keiner.

Wilhelm hockte sich hinter Leo auf einen Balken und blickte durch die schmale Öffnung im First nach draußen. »Keine Sorge«, sagte er direkt neben Leos Ohr. »Sie kommen schon nicht hierher.«

Leo fragte sich, ob Wilhelm die meinte, die das Haus bombardieren wollten, oder die, die es gerade durchsuchten.

Die Sirene verstummte.

Und dann kamen die Flugzeuge.

image

Einen Augenblick war alles still. Dann kroch das Brummen der viermotorigen Maschinen heran, unterbrochen vom erneuten Aufjaulen der Sirenen. Es waren viele, vielleicht fünfzig oder noch mehr. Ab und zu blitzte etwas in der schon tief stehenden Sonne auf. Kurz darauf begann in der Ferne die Flak verhalten zu donnern. Ein paar Sekunden lang passierte gar nichts. Dann blubberten die explodierenden Flakgranaten lautlos und in schneller Folge als winzige Wölkchen unterhalb der Flotte auf wie hastig und gedankenlos hingetupft.

Der Bomberstrom fraß sich unbeirrbar durch den Himmel auf sie zu. Begleitjäger an den Flanken der vierstöckig gestaffelten Kolonne tauchten ab, stürzten sich in die Tiefe, fingen sich, flogen Schleifen und schlossen von hinten auf. Als die Sirenen wieder aussetzten, war das Brummen der Angreifer zu einem Dröhnen angeschwollen, das den ganzen Dachboden in Vibrationen versetzte. Die Konturen der Maschinen wuchsen langsam aus dem violetten Himmel. Die gläsernen Kanzeln der Bordschützen wurden zwischen dem Flirren der Rotoren erkennbar. Auch die Wolken der explodierenden Flakgranaten arbeiteten sich dichter heran. Hier und da zuckte es zwischen den Flugzeugen auf, aber getroffen wurde keins von ihnen. Hinter dem ersten Bomberschwarm tauchte ein zweiter auf.

Leo starrte gebannt auf die Flugzeuge. Er kannte solche Angriffe nur aus dem Keller als eine Abfolge von Jaulen, Dröhnen, Hämmern, Rauschen und Beben. Dort unten schien dieses Inferno aus der Erde selbst zu kommen, als Geräuschkulisse zum Aufflackern bleicher Gesichter und ineinandergekrallter Hände. Und während ihn und alle anderen in den Katakomben immer das Gefühl des völligen Ausgeliefertseins beherrscht hatte, stellte er nun verwundert fest, dass er Auge in Auge mit dem Hornissenschwarm der Bomber viel ruhiger war als jemals zuvor. Das Verstecken hatte ein Ende. Fast kam es ihm vor, als flöge er auf die Maschinen zu und nicht umgekehrt, als könnte er zum ersten Mal seit Jahren selbst bestimmen, wem er gegenübertreten durfte. Kein Wegducken mehr. Kein Misstrauen, das nach Papieren verlangte.

Als die Flak vom Zoobunker aus zu wummern anfing, begann Leo zu schreien. Das Dröhnen war noch lauter geworden, alles bebte. Der zweite Schwarm schwenkte jetzt ab. Eine Maschine nach der anderen kippte aus dem Zug, sackte nach rechts weg und ging nach wenigen Augenblicken wieder auf Kurs. Sofort fand die Formation wieder zusammen. Erneut blitzten Sonnenreflexe auf.

»Die ziehen an uns vorbei«, rief Wilhelm ihm ins Ohr und schüttelte Leos Schultern. »Die wollen zum Regierungsviertel!«

»Geburtstagsfeuerwerk für den Führer!«, schrie Leo zurück und lachte wie irre.

Wie auf ein Zeichen klinkten die Bomber der ersten Welle vor ihnen die Ladung aus. Schwarze Punkte erschienen wie Kaulquappenschwärme hinter den Flugzeugen vor dem Abendhimmel, dann schwebten die Maschinen über sie hinweg und verschwanden aus dem Blickfeld. Das Dröhnen der Motoren war jetzt überall. Die Bomben fielen und fielen, lösten sich aus Knäueln, bildeten lose Ketten, Zugvögel im Landeanflug.

Leo krallte sich an dem Balken fest, auf dem er saß. Ein Splitter bohrte sich unter einen Fingernagel, er spürte es wie durch eine dicke Watteschicht. Etwas zischte mehrstimmig durch die Luft. Um sie herum begann es, ohrenbetäubend und scharf zu krachen. Plötzlich häckselte sich eine Kette von aufeinanderfolgenden Detonationen durch die ausgebrannten Nachbarhäuser, Schuttfontänen wurden in die Höhe gerissen und große und kleine Bruchstücke von Mauern spritzten in alle Richtungen. Die Explosionen fraßen sich unaufhaltsam auf sie zu, und dann schien die Zeit sich zu verlangsamen, ohne dass Leo mit seinen Gedanken folgen konnte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sägte eine zweite Bombenkette durch die Häuserzeile, weiter hinten sackte eine Fassade weg, fast zögerlich ging sie in die Knie. Dann rauschte es direkt vor ihnen, als würde eine Ladung Kies auf sie hinuntergekippt. Die folgende Detonation war so laut, dass Leo meinte, der Sprengsatz sei mitten in seinem Kopf gezündet worden. Der Rest lief ab wie ein Stummfilm, nur viel langsamer.

Von einem Augenblick auf den anderen war es totenstill, obwohl links und rechts immer noch die tannenzapfenartigen Schatten vor dem flimmernden Himmel ohne Eile zur Erde trudelten. Wieder rauschte etwas heran. Wilhelm zog von hinten seinen Kopf nach unten, und das Letzte, was Leo sah, war ein Balken aus dem zerstörten Dach des Nachbarhauses, der vor seiner Nase hochgewirbelt wurde und eine Drehung in der Luft vollführte, viel zu elegant für die brutale Kraft, die ihn herumschleuderte, wie die Fackel eines Jongleurs, den Leo irgendwann im Tiergarten gesehen hatte.

Der Balken sauste auf ihn zu, übermütig und kapriziös, eine Aufforderung, ihn zu fangen, eine Einladung zu einem Spiel, das man mit Jungen wie Leo eigentlich nicht spielte. Ein winziger Augenblick, in dem alle Demütigungen vergessen waren. Der Jongleur lächelte. Fang oder lass es. Der Stern auf deiner Jacke interessiert mich nicht.

Holz splitterte, Dachziegel flogen. Wilhelms Hände rissen Leo zu Boden. Und als die Fackel des Jongleurs ihn mitten im Gesicht traf, wusste Leo, dass er nicht gemeint war.

image

Einer der vier Soldaten, die das kleine Gehöft gesichert hatten, erschien in der Tür des Bauernhauses. »Keiner da!«, rief er. Dann ließ er sich auf eine Bank vor dem Haus fallen, legte seine Maschinenpistole quer über seine Knie, fummelte eine schlampig gedrehte Zigarette aus der Brusttasche und steckte sie an.

»Sah auch nicht danach aus«, brummte Oberst Igor Sirinow und sprang aus dem Jeep. Er blickte sich um: ein deutscher Bauernhof mit Wohnhaus, Stallungen und Scheune. Ungewöhnlich war höchstens, dass es kein Dorf gab. Das Gehöft lag mitten in der Landschaft aus Kornfeldern, in die hier und da kleine Wäldchen wie Inseln gestreut waren. Die vier Panzer, die in einer losen Reihe auf dem Hof zum Stehen gekommen waren, hatten die Motoren abgestellt. Die aufgemalten roten Sterne auf den Fahrzeugen glänzten matt in der Abendsonne. Für einen kurzen Augenblick war es still. In einer kleinen Birkenschonung hinter der Scheune keckerte ein Eichelhäher. Alles wirkte unendlich friedlich, ein perfekter Frühlingsabend.

Sirinows Adjutant, Leutnant Wassilij Tarassow, war ausgestiegen und trat neben den Oberst. Er sah aus wie ein Zwölfjähriger, ein richtiges Milchgesicht. »Wie sauber das alles ist«, sagte er. »Warum überfällt man seine Nachbarn, wenn es einem so gut geht?«

»Vielleicht, weil es einem zu gut geht.«

»Das ist absurd.«

»Dieses ganze Land hier ist absurd.«

Aus den Luken der Panzer kletterten jetzt weitere Soldaten mit gepolsterten Hauben. Im Tor des großen Stallgebäudes erschien ein rotgesichtiger Feldwebel. »Nicht mal ein Huhn haben sie hiergelassen, Genosse Oberst!«, rief er.

»Wen wundert's«, sagte Sirinow mehr zu sich selbst. Er stapfte auf das Bauernhaus zu und Tarassow folgte ihm.

In der lang gestreckten Diele war es dunkel und kühl. Sirinow schaute sich etwas unschlüssig um, dann öffnete er wahllos eine Tür. Ein Wohnzimmer mit grünem Teppich, Sofagarnitur und einem leer geräumten Vitrinenschrank empfing sie. »Da hast du noch so eine Absurdität«, sagte Sirinow über die Schulter zu Tarassow. »Bei uns brennen sie auf dem Rückzug alles ab und ihre eigenen Häuser hinterlassen sie uns besenrein.«

Er ließ sich in einen der Sessel fallen und fühlte sich plötzlich todmüde. »Schau mal nach, ob du hier Kaffee auftreiben kannst«, sagte er.

Tarassow nickte und verschwand.

Draußen fuhren zwei Lastwagen vor und parkten neben den Panzern. Überall auf dem Hof wimmelte es jetzt von Leuten. Sirinow sah sich im Raum um. Eine offene Tür führte in ein ebenso aufgeräumtes Esszimmer. Daneben stand ein Bord mit einem Grammophon, darunter ein paar Schallplatten. Sirinows Neugier war stärker als die Müdigkeit. Ächzend stand er wieder auf und blätterte durch die Platten. Die Bewohner des Hauses waren offenbar Freunde des erlesenen Genusses. Ungewöhnlich für ein Bauernhaus, dachte Sirinow, dann fischte er Beethovens drittes Klavierkonzert aus der Schatulle, legte es auf, schaltete das Grammophon ein und setzte sich wieder.

Es knackte ein paar Mal. Der Oberst schloss die Augen. Als die ersten Töne des Klaviers durch den Raum tänzelten, begann die Anspannung des Tages von Sirinow abzufallen. Die Holzbläser folgten schüchtern, nahmen das Thema kurz auf und gaben wieder an das Klavier ab, das übermütig mit der Melodie spielte und dann ein Portal aufriss, durch das das ganze Orchester in prahlender Feierlichkeit hereinplatzte. Die Streicher wurden mit einem Wink zum Thema gebracht. Das Klavier trabte kurz mit, ließ die Streicher dann stehen und fegte eine Weile virtuos allein über die Bühne.

Sirinow war so versunken in die Musik, dass er gar nicht hörte, wie Tarassow den Raum wieder betrat. Als sein Adjutant ihn am Arm berührte, schreckte er hoch.

»Was gibt's?«, fragte er unwirsch.

»Wir haben gerade eine Meldung reinbekommen, die Sie interessieren wird, Genosse Oberst«, sagte Tarassow.

Sirinow zog eine Augenbraue hoch. Der Leutnant neigte sich zu ihm herab, als fürchtete er unerwünschte Lauscher. Im Hintergrund trieb das Klavier die Streicher vor sich her.

»Sommerbier hat heute Nacht in Weimar aufladen lassen«, sagte Tarassow. »Unser Mann vor Ort hat alles beobachtet. Es besteht kein Zweifel. Achtundzwanzig Kisten.«

Sirinow war wie elektrisiert. »Verdammt!«, zischte er. »Was hat er denn vor? Will er alles in die Alpenfestung bringen?« Er trommelte mit den Fingern auf der Sessellehne, dann blickte er Tarassow direkt in die blauen Kinderaugen. »Oder ein Kuhhandel mit den Amerikanern?«

Der Leutnant lächelte dünn. »Keins von beidem. Sommerbier und ein Begleiter, den unser Mann nicht kannte, sind noch in der Nacht in Richtung Berlin aufgebrochen. Sie handeln ganz offensichtlich auf eigene Faust. Aber bis das in Weimar oder sonst wo jemand gemerkt hat, dürften sie vom Erdboden verschwunden sein. Die Situation ist ja nicht gerade übersichtlich.«

»Da fahren sie uns doch direkt in die Arme!«

»Dazu ist Sommerbier viel zu schlau. Er scheint genau zu wissen, was er tut. Aber dass wir hinter ihm her sind, das weiß er nicht. Unser Mann bleibt dran.«

Sirinow wandte sich wieder der Musik zu. »Ich will sofort Meldung, wenn Sie neue Informationen haben.«

Tarassow nickte. Im Esszimmer nebenan wurde eine Tür aufgerissen und ein paar Soldaten mit einer Wodkaflasche stolperten ins Blickfeld.

»Und mach die Tür zu. Ich will das hier hören.«

Tarassow schloss die sperrangelweit offen stehende Tür, dann stockte er. Hinter der Tür hing ein Hitlerbild an der Wand.

Sirinow starrte einen Augenblick ungläubig auf das Porträt. »Siehst du?«, sagte er. »Schon wieder so eine Absurdität. Hitler und Beethoven in einem Haus.«

Sein Adjutant schaute nachdenklich auf das Bild des Diktators mit den stechenden Augen, dann drehte er sich zum Oberst um. »Hat der nicht heute sogar Geburtstag?«

Sirinow nickte. »Glückwunsch auch von uns. Und jetzt schaff ihn mir aus den Augen.«

image

Als Leo wieder zu sich kam, war es totenstill auf dem Dachboden. In seinen Ohren piepste und rauschte es, weit entfernt hörte er Motorengeräusche, ansonsten regte sich nichts. Leo lag auf der Seite. Alles tat weh, sein ganzer Körper war ein einziger anhaltender Schmerz, der ihn durchstrahlte, als stünden seine Knochen unter Strom.

Leo öffnete die Augen, und als Erstes fiel ihm auf, dass es ungewöhnlich hell war. Eine Sekunde später begriff er, warum: Eine Bombe hatte direkt neben dem Giebel das Dach aufgerissen und dabei auch gleich einen Krater in den Boden gesprengt. Wo vorher die Sandkiste gestanden hatte, klaffte jetzt ein Loch, durch das man oben den Abendhimmel und unten die Tapete von Wilhelms Wohnzimmer sehen konnte. Zersplittertes Gebälk spreizte sich in alle Richtungen, zerborstene Dachlatten und Ziegel lagen herum. Es schien, als hätte ein hungriger Riese eine Ecke aus dem Haus herausgebissen.

Leo rappelte sich hoch und blickte an sich herunter. Zwischen seinen Zähnen knirschte Sand. Seine Kleider und Hände waren mit einer grauen Staubschicht bedeckt, aber außer dem dumpfen Schmerz, aus dem sein ganzer Körper zu bestehen schien, fehlte ihm anscheinend nichts.

Doch wo war Wilhelm? Der Unterstand mit dem Stahldach, aus dem die Druckwelle der Explosion sie offenbar herausgeschleudert hatte, war bis auf ein paar halb geborstene Stützbalken ganz geblieben. Leo erinnerte sich, dass Wilhelm ihn zu Boden gerissen hatte. Und dann? Leo schaute auf das Loch und erschrak. War Wilhelm nach unten gefallen?

Vorsichtig näherte er sich dem Krater im Boden und spähte hinunter. Es war merkwürdig, das Wohnzimmer so aus der Vogelperspektive zu betrachten – oder besser gesagt das, was von dem Zimmer übrig geblieben war. Wilhelms gelbe Polstersessel waren unter einem Haufen von Schutt kaum noch zu erahnen. Zwischen Ziegeln und Holz lag der Löschsand aus der Kiste verstreut. Der Couchtisch war durch die Wucht der Explosion in zwei Teile geborsten, die Glastüren der hohen Büchervitrinen zersplittert und teilweise aus den Angeln gerissen. Aber das Schlimmste war, dass mit dem Dach nicht nur die Zimmerdecke, sondern auch ein Teil der Fassade weggesprengt worden war. Wo sich früher ein Fenster befunden hatte, gähnte nun eine riesige Öffnung.

Leo ging auf die Knie und kroch bis zum Rand des Kraters. Von Wilhelm war nichts zu sehen. Trotz des anhaltenden Piepsens in seinen Ohren konnte Leo hören, dass die Standuhr noch immer leise und unermüdlich vor sich hin tickte.

»Wilhelm?«, rief Leo zaghaft in das Loch hinein. Nichts. Leo rief noch einmal, ein bisschen lauter. Wieder keine Antwort. Verzweiflung brandete in ihm auf, so stark, dass ihm übel wurde. Er kroch zurück in sichere Entfernung von dem schrecklichen Loch. Konnte es sein, dass es Wilhelm auf die Straße gerissen hatte? Nein, das war unmöglich. Leo blickte sich um und erstarrte.

Die Luke zum Dachboden stand offen.

Wilhelm musste nach unten gestiegen sein – oder jemand hatte ihn geholt. Leo spürte, wie er eine Gänsehaut bekam. Befand sich noch jemand im Haus? Oder war Wilhelm einfach nur nach unten gegangen, um in der Wohnung nach dem Rechten zu sehen? Aber warum hatte er ihn nicht mitgenommen? Und warum antwortete er nicht auf sein Rufen?

Leo beschloss, in der Wohnung nachzuschauen. Er schlich zur Luke, von der die Strickleiter herunterhing. Das untere Ende baumelte leicht hin und her. War das der Wind? Oder hatte sie jemand benutzt, kurz bevor Leo wieder zu Bewusstsein gekommen war?

Mit zitternden Knien stieg Leo hinab. Mit jeder Sprosse zuckten neue Schmerzen durch seine Gelenke. Alles drehte sich, aber er schaffte es auf den Treppenabsatz.

Die Wohnungstür stand offen. Der Flur dahinter hatte nichts abbekommen, alles sah aus wie immer. Mit wachsender Verzweiflung riss Leo eine Tür nach der anderen auf. In der Küche stand das Geschirr vom Mittagessen noch auf dem Abtropfgitter. Das Gästezimmer mit dem ungemachten Bett lag so da, wie Leo es am Morgen verlassen hatte. Auf dem Schreibtisch in Wilhelms Arbeitszimmer stapelten sich ein paar Mappen mit Papieren, daneben ein Tischkalender mit dem Datum von heute. Wilhelms Schlafraum war sauber wie ein Hotelzimmer, das neue Gäste erwartete. Kein Hinweis auf sein Verbleiben. Selbst im Badezimmer und in der Abstellkammer schaute Leo nach. Nichts.

Schließlich betrat er die großzügige Zimmerflucht auf der anderen Seite des Korridors. Das Esszimmer war glimpflich davongekommen, die Druckwelle hatte ihre Kräfte offenbar damit verbraucht, die doppelte Schiebetür aus den Angeln zu reißen und mitten in den Raum zu schleudern. Staub und Sand waren hereingewirbelt worden und bildeten eine dünne graue Schicht auf dem Esstisch, ansonsten war alles wie immer. Durch den breiten Durchbruch erblickte Leo das Chaos im Wohnzimmer, das er schon vom Dachboden aus gesehen hatte. Das Loch in der Wand hatte an seiner breitesten Stelle nur einen hüfthohen Mauerrest gelassen, das ganze Zimmer wirkte dadurch wie ein Balkon. Leo blickte eine Weile auf das Durcheinander und fühlte sich auf einmal unendlich müde und verzweifelt. Wo konnte Wilhelm nur sein? Warum war er verschwunden, ohne eine Nachricht zu hinterlassen? Oder gab es einen Hinweis, den er gerade übersah?

Leo kämpfte gegen die Niedergeschlagenheit und gegen die Versuchung an, sich auf den erstbesten Stuhl fallen zu lassen und einfach einzuschlafen. Die Uhr im Wohnzimmer tickte, und plötzlich bemerkte Leo, dass das Piepsen in seinen Ohren nachgelassen hatte. Immerhin. Nachdenklich ging er zurück in den Flur, blieb eine Weile unschlüssig stehen, trat dann in Wilhelms Arbeitszimmer und schaltete das Licht ein. Tausende von Buchrücken. Einen kurzen Augenblick fühlte Leo sich irgendwie getröstet. Diese Bücher hatten etwas Beruhigendes an sich.

Wilhelm hatte das Bücherregal auf der rechten Seite des Raumes einpassen lassen, sodass es die ganze Wand ausfüllte. Auf der linken Seite standen eine Vitrine, ein riesiger Ledersessel mit Leselampe und ein kleiner Couchtisch. Die Ecke dahinter wurde von einer eleganten Chaiselongue ausgefüllt. Unter dem Fenster an der Stirnseite stand Wilhelms Schreibtisch, wuchtig und mit grünem Leder bespannt wie der Arbeitsplatz eines Generaldirektors.

Leo trat näher. Außer dem Kalender und ein paar Stiften lag nur ein Aktenstapel auf dem Tisch. Keine Nachricht. Leo blickte sich um, dann nahm er die oberste Mappe vom Stapel und schlug sie auf. Eine maschinengeschriebene Abhandlung von Wilhelm über den Maler Piero della Francesca mit dem etwas gestelzten Titel Der unberechenbare Fluchtpunkt. Leo kannte den Text. Er war vor Jahren schon erschienen. Warum beschäftigte sich Wilhelm überhaupt wieder damit?

Leo legte die Mappe an die Seite und öffnete die nächste.

Als er den Seitenkopf des ersten Deckblattes sah, stockte ihm der Atem.

Der Adler mit dem Hakenkreuz. GEHEIME STAATSPOLIZEI.

image

Das Plätschern des Wassers setzte aus. Weiter vorn hatte eine ältere Dame ihren Eimer halb gefüllt, hob ihn hoch und ging, nein, schritt in Richtung Eichenallee davon. Sie trug Hut und Mantel und wirkte fast schon demonstrativ elegant, als seien der feine Stoff und die würdevolle Haltung ihre ganz eigene Art und Weise, gegen alles zu protestieren, was sie umgab. Im Hintergrund schwoll das Wummern der Artillerie an und ab. Bisweilen krachte es etwas schärfer, wenn ein paar Straßen weiter ein verirrtes Geschoss einschlug.

Friedrich ging zwei Schritte vor und stellte seine beiden Wassereimer ab. Hinter ihm rückte die Schlange auf. Er spürte die Blicke der Frauen im Rücken und wusste, was sie dachten. Jungen in seinem Alter traf man in Berlin schon seit Wochen nicht mehr ohne Uniform an, und neuerdings auch nicht mehr ohne Waffe.

Seine Mutter hatte ihm verboten, das Haus zu verlassen, weil die Kettenhunde der Feldgendarmerie überall auf Streife waren und jeden Passanten einkassierten, der aussah, als könnte er noch ein Gewehr halten. Aber schließlich hatte das Herumsitzen ihn fast wahnsinnig gemacht, und er war einfach hinausgegangen, während seine Mutter beim Metzger war. Dort war die Schlange noch länger als hier an der Wasserpumpe. Wenn er Glück hatte, war er vor ihr zurück, und sie merkte gar nichts. Falls doch, gab es Ärger. Und eigentlich hatte sie ja recht. Aber der Drang, irgendetwas Sinnvolles zu tun, war einfach zu groß gewesen. Und jetzt stand er also hier unter den Bäumen am Rand des Branitzer Platzes in der Wasserschlange.

Friedrich befühlte seine Brusttasche. Es knisterte. Meine Lebensversicherung, dachte er. Ein Attest. Es bescheinigte Friedrich Häck, dass er seit einem Bombenangriff im vergangenen Sommer taub war. Eigentlich eine sichere Sache – wer konnte schon nachweisen, ob jemand hören konnte oder nicht. Friedrich hatte diese Rolle auf der Straße längst verinnerlicht. Er drehte sich nicht um, wenn jemand rief. Und wenn Fremde ihn ansprachen, lächelte er nur und zuckte mit den Schultern. Doch je aussichtsloser die Kriegslage wurde, desto gefährlicher war es, überhaupt nach draußen zu gehen. Die fragen nicht nach deinem Attest, sagte die Mutter immer wieder. Die stellen dich einfach als Deserteur an die Wand.

Wieder war vor ihm eine Frau fertig, ließ den Pumpenschwengel los und trollte sich, den Henkel des randvollen Blecheimers mit beiden Händen umklammernd. Das Wasser schwappte ihr auf die Schuhe. Sie achtete nicht darauf. Friedrich wurde von hinten angerempelt und rückte vor, ohne sich umzudrehen. Eine Wartende war noch vor ihm.

Auf dem Rasen des Branitzer Platzes, keine zwanzig Meter entfernt, wurden Volkssturmmänner ausgebildet: Ein Unteroffizier, kaum älter als Friedrich, erklärte die Bedienung einer Panzerfaust und zwei Dutzend Rentner hörten teilnahmslos zu. Unrasierte, eingefallene Gesichter. Kaum Uniformen, stattdessen löcherige Hosen, die um abgemagerte Beine schlabberten. Keine Stahlhelme, dafür hier und da ein Hut, der irgendwann einmal schick gewesen war. Einer trug ein Gewehr an einem Bindfaden über der Schulter. Ein anderer stützte sich auf eine Krücke.

Der Unteroffizier hörte jetzt auf zu reden und legte einem der alten Männer die Panzerfaust auf die Schulter. Der schien überhaupt nichts verstanden zu haben, fummelte mit zitternden Fingern an der Zielvorrichtung herum, bis der Ausbilder die Augen verdrehte, die Waffe wieder an sich nahm und mit seinen Erklärungen von vorn anfing.

Die Frau vor Friedrich war jetzt fertig und wieder ging ein träger Ruck durch die Schlange. Friedrich trat auf das kleine Podest und begann zu pumpen. Aus den Augenwinkeln sah er, dass der Ausbilder innehielt und zu ihm herüberschaute; die Volkssturmmänner folgten seinem Blick. Friedrichs Herz schlug schneller. Ruhig bleiben, sagte er sich, pumpte weiter und wechselte die Eimer.

Plötzlich näherte sich das scharfe Jaulen eines Jagdflugzeugs. Die Männer zogen die Köpfe ein und auch die Wasserschlange geriet in Unruhe. Friedrich zwang sich, völlig ungerührt weiterzupumpen. Als ein Schatten über ihn hinweghuschte, blickte er doch auf, einen kurzen Augenblick lang war das Jaulen ohrenbetäubend. Friedrich sah die Tragflächen mit den roten Sternen, dann verschwand die Maschine in einem weiten Bogen in Richtung Berlin-Mitte.

»Die Russen stehen schon in Hohenschönhausen«, sagte eine Frau hinter Friedrich.

Eine andere Stimme meldete sich von weiter hinten: »Sie meinen, wir werfen sie gerade aus Hohenschönhausen wieder raus. Etwas Optimismus, wenn ich bitten darf. Hohenschönhausen wird unser Stalingrad.«

»Genau«, sagte eine dritte Stimme. »Und nächste Woche marschiert der Volkssturm in Moskau ein.«

Verhaltenes Gelächter folgte. Friedrich konnte kaum glauben, was er hörte. Allein der Ton solcher Bemerkungen konnte lebensgefährlich sein, das wusste jeder. Friedrich schielte zur Gruppe der Volkssturmmänner hinüber. Der Unteroffizier hatte offenbar nichts gehört und hielt einem anderen seiner gebrechlichen Schüler die Panzerfaust hin.

Die Frau hinter Friedrich meldete sich wieder zu Wort; diesmal versuchte sie, frivol zu klingen: »'n paar schmucke Jungens ham se noch übersehen, wie's scheint.«

Friedrich spürte, dass er gemeint war. Weiterpumpen, sagte er sich. Der zweite Eimer war fast voll. Die Frau aber ließ nicht locker. Sie war aufgerückt und stand jetzt dicht hinter ihm. Friedrich roch eine leichte Alkoholfahne.

»Will ja keenen scharf ankieken!«

»Nun lassen Sie den doch. Wär doch schade drum.« Eine vierte Stimme.

»Vielleicht ist der Herr Papa einer von den ganz Wichtigen«, raunte es hinter Friedrich.

»Vielleicht ist der Junge auch einfach nur taub«, sagte die vierte Stimme fast ärgerlich. »Und jetzt lassen Sie ihn endlich in Ruhe.«

Friedrich nahm seine Eimer und machte sich auf den Heimweg, ohne sich noch einmal umzublicken. Wenn ihr wüsstet, dachte er.

In der Ebereschenallee waren fast alle Häuser intakt – zumeist mehr oder weniger prachtvolle Villen hinter hohen Hecken, in denen seit den Zeiten des Kaiserreichs Künstler, Schauspieler, Architekten und Ärzte wohnten. Und neuerdings die Parteibonzen, dachte Friedrich.

Er stellte die Wassereimer kurz ab und öffnete das Gartentor. Zwei alte Kastanien säumten rechts und links die kleine Freitreppe zum Hauseingang. Aus einem offenen Fenster war Klavierspiel zu hören. Marlene, seine Schwester, übte an einer Étude, irgendwas Romantisches, Chopin vielleicht. Für einen kurzen Augenblick fühlte Friedrich sich in eine Zeit versetzt, an die er sich kaum noch erinnerte: Frieden. Er war zehn Jahre alt gewesen, als der Krieg begonnen hatte. Inzwischen war die ganze Stadt von den Bombern der Alliierten umgepflügt worden, Millionen von Menschen waren gestorben, ein paar Stadtbezirke weiter tobten fürchterliche Straßenkämpfe und in wenigen Tagen würden die russischen Sieger eine riesige Vergeltungsorgie feiern. Doch in der Ebereschenallee plätscherte sanfte Musik durch den Garten, die Bäume blühten, und alles war wie immer, wenn man vom leichten Rauchgestank und vom gedämpften Grollen der Artillerie absah.

Friedrich stieg die Treppe hoch und öffnete die Tür mit dem Ellbogen. Als er sah, dass der Mantel seiner Mutter an der Garderobe hing, erschrak er. Also war mit Ärger zu rechnen. Er stellte die Eimer leise ab, durchquerte die Eingangshalle der Villa und trat ins Wohnzimmer.

Seine Mutter saß am Tisch mit dem Rücken zur Glasfront, die den Blick auf den blühenden Garten freigab. Durch das Gegenlicht war ihr Gesicht schwer zu erkennen. Sie trug ein eng anliegendes blaues Kleid und die blonden Haare sahen aus wie frisch frisiert. Das Wohnzimmer war aufgeräumt wie immer. Die dunkelblaue Biedermeiergarnitur, die dicken Teppiche, die Vitrine mit dem Porzellan. Stiche in Glasrahmen, Bücherregale, Stuck an der Decke.

Friedrich trat näher. Kein Donnerwetter. Sie blickte von einem Papier auf, das sie in der Hand hielt. Ihre Augen waren seltsam leer.

»Dein Vater ist tot«, sagte sie ohne spürbare Regung in der Stimme.

Friedrich starrte sie an. Er war erschrocken, aber weniger über die Nachricht selbst als darüber, dass sie ihn so wenig berührte. Seine Eltern hatten sich vor über zehn Jahren getrennt, das heißt, eigentlich hatten sie sich nicht getrennt. Friedrichs Vater war nach Marlenes Geburt einfach immer seltener zu Hause gewesen und schließlich gar nicht mehr gekommen. Seine Mutter hatte nur selten darüber gesprochen, und wenn Friedrich gefragt hatte, waren die Antworten knapp ausgefallen. Aus den wenigen Bruchstücken, die er von den Gesprächen zwischen seiner Mutter und einigen engen Freunden und Verwandten aufgeschnappt hatte, ergab sich ein unscharfes Bild von seinem Vater. Seine Partei und seine neuen Freunde: laute und großmäulige Emporkömmlinge oder dünnlippige Karrierejuristen in maßgeschneiderten Uniformen. Korruptionsgerüchte. Frauengeschichten. Viel Unappetitliches, doch das Schlimmste, jedenfalls für Mutter, war die Sache mit Marlene. Seine ungeliebte Tochter.

Aus dem oberen Stockwerk war ganz leise das Klavierspiel zu hören.

»Weiß sie es schon?«, fragte Friedrich schließlich und deutete mit dem Kopf vage nach oben.