ZWEI MONATE ZUVOR

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Sieben Jugendliche ausgesetzt im Nirgendwo, gefangen in einem teuflischen Spiel, aus dem es kein Entkommen gibt.
"Dieser ganze bescheuerte Event ist ein einziger riesengroßer Fehler gewesen. Wie es aussieht, wird wahrscheinlich niemand mehr lebend aus der Sache herauskommen."
Als die 17-jährige Lida Donelly zusammen mit ihrem Freund Jesper an einem sogenannten "Blind Walk", einem Event aus dem Internet, teilnimmt, rechnet sie mit nicht mehr als ein bisschen Nervenkitzel. Zusammen mit fünf anderen Jugendlichen werden Lida und Jesper mit verbundenen Augen in der Wildnis ausgesetzt, ausgestattet mit einem Kompass und ein paar wenigen Gegenständen. Doch von Anfang an ist die Stimmung in der Gruppe hochexplosiv.
Die Situation droht zu eskalieren, als die Jugendlichen nach kurzer Zeit die Leiche einer der Männer finden, die sie in den Wald gebracht haben. Lida beschleicht das unheimliche Gefühl, dass sie beobachtet werden. Schon bald wird dieser erste Verdacht zur bösen Gewissheit: Irgendjemand da draußen macht Jagd auf sie. Und der Jäger scheint es dabei vor allem auf sie, Lida, abgesehen zu haben.

ISBN eBook: 978-3-649-67070-4

© 2016 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,

Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Text: Patricia Schröder

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

www.coppenrath.de

ISBN Buch (Hardcover): 978-3-649-66783-4

Sie haben dich Tag und Nacht im Visier.

Sie kennen dich besser als jeder andere
und wissen mehr über dich als du selbst.

Sie schrecken vor nichts zurück.

EINS

»Bitte, Jazz.« Leena schlang den Arm um meine Schultern und drückte ihre Stirn gegen meine Schläfe. Ihre dunklen Locken kitzelten mich an der Wange. »Bitte, bitte, bitte!«

Wir saßen auf der breiten Steintreppe, die vom neu errichteten Shoppingkomplex direkt zum Südpark hinunterführte. Gestern hatte Leena einen dieser Flyer ergattert, die seit ein paar Tagen überall in der Stadt verteilt wurden, und heute konfrontierte sie mich mit ihren Plänen.

»Vergiss es!«, sagte ich.

»Ohne dich mach ich das aber nicht.«

»Du meinst, allein machst du es nicht.«

»Bitte.« Leena hauchte mir einen Kuss aufs Ohr. »Es ist die Chance meines Lebens. Und die bekommt man bekanntermaßen nur ein einziges Mal.«

»Du übertreibst«, sagte ich. »Wenn du wirklich Designerin werden willst, solltest du eine richtige Ausbildung ma… «

Leena unterbrach mich mit einem Kopfschütteln und wies auf den Flyer. »Das hier dauert vier, vielleicht fünf Monate. Wenn es nicht klappt …«

»Du meinst, für den sehr wahrscheinlichen Fall, dass du nicht genommen wirst …«

»Jazz!«

»Ich weiß, dass ich gerade die Spielverderberin gebe, und ich tue es auch nicht gern …«

Ich bemerkte Leenas Blick, brach ab und verdrehte leise seufzend die Augen. Ja, ich gebe zu, manchmal ging es mir selbst auf den Keks, dass ich ein so strunzvernünftiger Mensch war, aber Leena neigte nun mal dazu, sich ins Unglück zu stürzen, und ich hatte schon viel zu oft hilflos danebengestanden.

»Das Training endet spätestens irgendwann im Oktober«, sagte sie jetzt. »Notfalls kann ich mich dann immer noch irgendwo einschreiben.«

»Nicht für Modedesign«, widersprach ich. »Dort müsstest du dich eigentlich schon längst mit einer Mappe beworben haben. Und diese Hamburger Privatschule kannst du dir dann erst recht abschminken.«

»Verdammt noch mal, Jazz!«

»Stimmt doch«, beharrte ich.

»Die Schule in Hamburg ist sowieso zu teuer«, argumentierte sie. »Siebenhundert Euro im Monat! Das kann meine Mutter gar nicht aufbringen.«

Trotzdem: Für meinen Geschmack nahm Leena das wieder einmal viel zu leicht. Dabei verstand ich im Grunde sehr gut, dass sie nach allem, was sie durchgemacht hatte, ganz andere Prioritäten setzte als ich.

»Außerdem möchte ich lieber nach Australien«, sagte ich.

»Auch dafür ist es im Herbst noch nicht zu spät.«

»Ja«, stöhnte ich, »sofern ich nicht gerade Teilhaberin einer Fashion-Store-Kette geworden bin und mein Leben fortan an der Seite dieses mysteriösen Adam C. Oulay verbringen muss.«

»Sicher nicht.« Leena öffnete die Lippen zu einem breiten Lächeln. Die kleine Lücke zwischen ihren oberen Schneidezähnen, die sie selbst als Makel ansah und irgendwann einmal »korrigieren« lassen wollte, machte es für mich perfekt. »Weil ich es nämlich tun werde!« Sie tippte mir auf die Nasenspitze. »Tadam, Adam!«

Ich schüttelte unwillig den Kopf. »Träum weiter!«

Leena ließ ihren Arm von meinen Schultern gleiten.

»Das ist eben der Unterschied zwischen dir und mir«, sagte sie frustriert, angelte nach einer 50-Cent-Münze, die eine Treppenstufe weiter unten lag, und schleuderte sie in hohem Bogen in den schmalen, gewundenen Nebenarm der Flünne, der die mit glänzendem hellgrauem Granit gepflasterte Promenade vom Kiesweg auf der anderen Seite trennte. Es waren mindestens dreißig Meter bis dorthin, für das Sportass Leena Tenhagen überhaupt kein Problem. Ich dagegen hätte schon Probleme damit gehabt, die Münze überhaupt in die anvisierte Richtung zu werfen. »Was genau meinst du?«, fragte ich.

Leena und ich waren so verschieden wie Tag und Nacht. Sonne und Mond. Sommer und Winter. Man hätte Stunden damit verbringen können, die Unterschiede zwischen uns aufzuzählen.

»Du planst … und ich träume«, antwortete sie, knüllte den Flyer zusammen und kickte ihn mit der Schuhspitze in den Papierkorb, der am Ende der Treppe an einem Laternenpfahl angebracht war. »Wir werden ja sehen, wer sein Ziel schneller erreicht.«

Ich schloss die Augen und holte tief Luft. Keine Frage, mit diesem Totschlagargument hatte sie mich. Wieder einmal. Trotzdem rang ich noch einen Moment mit meiner Entscheidung.

Dann sagte ich: »Also gut! Versuchen wir's.«

»Was?« Leena wirbelte zu mir herum. Ein ungläubiger Blick aus kakaobraunen Augen. »Nein!«

»Doch«, erwiderte ich erst zögernd, dann grinsend.

»Yes!« Leena sprang auf, die Hand zur Faust geballt. Sie hüpfte auf der Stelle um die eigene Achse wie ein kleines Mädchen und die Faust schwang dazu auf und ab. »Yes! Yes! Yes! Yes!«

Ich erhob mich ebenfalls und sie flog mir um den Hals. »Oh, Jazzy, du bist die Beste von allen.«

»Ich weiß«, sagte ich und küsste sie flüchtig auf die Wange. »Trotzdem wird Adam C. Oulay mich als eine der Ersten aussortieren.«

»Klar«, gab Leena achselzuckend zurück. »Schließlich bist du völlig ungeeignet.«

»Und es interessiert mich auch nicht.«

»Außerdem willst du nach Australien.«

»Genau«, bestätigte ich. »Und du machst dann ohne mich weiter.«

Meine Worte trafen ihr Ziel besser als jeder jemals von mir geworfene Schlagball. Ich spürte Leenas Zaudern und hoffte, dass sie es sich vielleicht doch noch anders überlegte. Aber bereits einen Atemzug später entspannte sie sich, neigte den Kopf und sah mich aus leicht zusammengekniffenen Augen an.

»Ich werde dich schrecklich vermissen, Jazzy, aber irgendwann muss ich ja mal erwachsen werden.«

»Gute Idee«, sagte ich und knuffte sie halbherzig gegen den Oberarm.

Fünf Tage später, am 16. Mai, hingen die Plakate auch in den Fenstern der zukünftigen Verkaufsräume. Bis dahin war unklar gewesen, wo genau in dem brandneuen Shoppingkomplex OULAY'S nun eigentlich eröffnen würde. Der Apple-Store, ein Herrenausstatter und ein Sportshop waren die Ersten, die eingezogen waren, sofort, nachdem der riesige Kran abtransportiert und die Bauarbeiten beendet worden waren.

Flächenmäßig würde OULAY'S sehr viel größer sein als alle anderen bekannten Young-Fashion-Label-Stores und mit ihrer zugegebenermaßen einzigartigen Adam-C.- Oulay-sucht- Kampagne schwang es sich innerhalb von Stunden zum Gesprächsthema Nummer eins in unserer Stadt auf.

Alle Mädchen und jungen Frauen zwischen vierzehn und fünfundzwanzig Jahren waren wie im Fieber. Quasi über Nacht wurde Adam C. Oulay zum Sinnbild eines kollektiven neuen Männerideals, eine Mischung aus Bachelor und jugendlichem Wolfgang Joop. Man spekulierte über sein Alter, sein Aussehen, seinen Style und vor allem darüber, was dieses bedeutungsschwangere – und vielleicht sogar noch mehr … heißen sollte. Welche Werte Adam C. Oulay vertrat und ob er charakterlich okay war, interessierte offenbar niemanden. Fast hatte ich das Gefühl, als Einzige nicht von diesem Virus angesteckt zu sein. Ich hielt es sogar für möglich, dass A.C.O., wie Leena ihn mittlerweile nannte, überhaupt nicht existierte, sondern nur eine Art Kunstfigur war – extra erschaff en, um eine ganze Stadt in Hysterie zu versetzen.

»Kaya ist stinksauer, dass sie mit ihren sweet fifteen noch nicht mitmachen darf«, eröffnete Leena mir, als wir uns zwei Tage vor A.C.O.s großem 24-Stunden-Event zu unserem gemeinsamen wöchentlichen Work-out trafen. Sie tippte sich an die Schläfe. »Meine kleine Schwester hat wirklich einen Vogel. Manchmal kapier ich echt nicht, was in ihrem Kopf vorgeht.«

»Du bist auch noch nicht volljährig«, erinnerte ich sie und gab mir alle Mühe, nicht wie meine Mutter zu klingen.

Inzwischen hatte sich herumgesprochen, dass die Bewerberinnen für das A.C.O.S.T. (Leenas Abkürzung für Adam C. Oulay's Special Training) das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben mussten. Keiner konnte sagen, woher diese Information stammte – weder dem Flyer noch den Plakaten war sie zu entnehmen und es hatte auch keine Veröffentlichungen in den Medien gegeben. Im Gegenteil: Zeitungen, Radio, Fernsehen und Internet schwiegen sich beharrlich dazu aus. Vermutlich hatte A.C.O. ihnen einen Maulkorb verpasst.

»In knapp zwei Wochen bin ich's«, erwiderte Leena. »Und ich will mir jetzt einfach nicht vorstellen, dass das ein Hinderungsgrund sein könnte. Die werden ja wohl nicht gleich am Vierundzwanzigsten mit ihrem Trainingsprogramm starten.«

»Kann ich mir auch nicht vorstellen«, beruhigte ich sie und ließ mich von ihr durch die breite Glastür ins McFIT ziehen.

Leena machte eigentlich jeden Tag Sport, und wenn es sich dabei nur um eine halbe Stunde Joggen handelte. Für mich war das nichts. Ich hockte mich lieber mit einem Buch oder einer Zeitschrift in meinen Hängesessel. Meine Freundin hatte all ihre Überredungskunst aufbringen müssen, damit ich mich in Bewegung setzte und, wie sie sich ausdrückte, meinen Hintern aufs Laufband und an die Hantelbank schwang.

»Stell dir nur vor, letztens habe ich sie dabei erwischt, wie sie mit Kay gechattet hat.«

»Wer?«

»Na, Kaya, natürlich!« Leena ließ den Ärmel meiner Jeansjacke los und näherte sich mit schnellen Schritten der Tür zu den Umkleideräumen. »Und die Haare hat sie sich auch abschneiden lassen«, rief sie mir über die Schulter hinweg zu. »Sie haben jetzt die gleiche Länge wie meine. Fehlt bloß noch, dass Kaya sie sich ebenfalls dunkelbraun färbt.«

»Moment mal … Du denkst doch nicht etwa, dass sie sich deinem Ex an den Hals werfen will?«

»Doch.« Leena nickte heftig. »Genau das denke ich.«

»Also, ich glaube eher, dass du so eine Art Vorbild für deine Schwester bist … Was schließlich nicht das Allerschlechteste wäre«, fügte ich achselzuckend hinzu.

»Danke schön.« Leena lächelte ihr Zahnlückenlächeln. »Und ich hatte schon befürchtet, dass ich wegen dieser A.C.O.-Sache völlig in deiner Achtung gesunken bin.«

»Bist du ja auch«, gab ich grinsend zurück. »Das ändert allerdings nichts daran, dass ich dich ohne Ende lieb habe.«

»Dito.« Leena ergriff die Klinke, öffnete schwungvoll die Tür und ließ mich vorbeigehen. »Heute bleiben wir sechzig Minuten«, entschied sie. »Ich möchte, dass du endlich richtig fit wirst.«

Kay war, wie so oft, auch heute unser Gesprächsthema Nummer eins während des Work-outs. Diesmal ging es jedoch nicht um seine vielen Unzulänglichkeiten und die Gründe, warum Leenas und seine so hoffnungsvoll begonnene Beziehung das verflixte zweite Jahr nicht überdauert hatte, sondern um Kayas jüngst erwachtes Interesse an ihm.

»Sie fand es schon immer cool, dass sein Name Teil ihres Namens ist«, sagte meine Freundin, die ihr Laufband auf meine doppelte Geschwindigkeit eingestellt hatte und mit schnell schwingenden Armen neben mir herrannte. Im Gegensatz zu mir war sie allerdings noch kein bisschen aus der Puste.

»Na und?«, erwiderte ich schnaufend. »Er wird Kaya schon nicht anfassen. Sie ist doch viel zu jung für ihn.«

»Ich fürchte, das spielt in diesem Fall keine Rolle.«

»Wie meinst du das?«

Leena warf mir einen vielsagenden Seitenblick zu, und nachdem ich ein paar kraftraubende Schritte lang auf der Leitung gestanden hatte, kapierte ich endlich.

»Du denkst, er versucht, über sie wieder an dich ranzukommen? «

Noch ein Seitenblick. Diesmal ziemlich finster. »Er nutzt Kaya aus«, knurrte Leena. »Das ist der Punkt.«

Klar.

»Dann wirst du wohl noch mal mit ihm reden müssen«, sagte ich widerstrebend.

So etwas wollte natürlich gut überlegt und durchgeplant sein, umso überraschter war ich, als meine Freundin antwortete: »Hab ich schon.«

»Was?« Ich blieb abrupt stehen, glitt nach hinten und fiel beinahe rücklings vom Band.

»Keine Sorge, ich habe ihn nicht getroffen«, erwiderte Leena und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Inzwischen wusste sie bis ins kleinste, schonungslose Detail, was ich von Kay hielt, oder treffender gesagt, die ganze Zeit schon von ihm gehalten hatte.

Er war einer dieser Typen, die erst auf den zweiten Blick gut aussehen. Kay punktete mit der Art, wie er einem zuhörte: sein intensiver Blick aus den haselnussbraunen Augen, der leicht geöffnete Mund, seine feingliedrigen Hände, mit denen er einen während des Gesprächs immer wieder scheinbar unabsichtlich berührte.

Es hatte keine Woche gedauert und Leena war hin und weg gewesen. Okay, damals war sie gerade sechzehn geworden und noch relativ leicht zu beeindrucken gewesen. Kay, bereits volljährig, kam mitten im Schuljahr an unser Gymnasium. Von einer G-9-Privatschule geflogen – was man auch erst mal bringen muss –, landete er in unserem Englisch-LK und kurz darauf an Leenas und meinem von allen unseren Stufenkameraden respektierten Zweiertisch in der Mensa.

Wie selbstverständlich lauschte er unserer Unterhaltung, äußerte ungefragt seine Meinung und wanderte uns am Ende sogar mit seinem Tablett hinterher, als wir genervt an einen anderen Tisch flüchteten.

In der darauffolgenden Biodoppelstunde erklärte Leena mir, dass sie noch mal nachgedacht habe und zu dem Ergebnis gelangt sei, dass unser Verhalten erstens ziemlich kindisch und zweitens vollkommen daneben gewesen wäre und sie sich in der nächsten Pause bei Kay dafür entschuldigen würde. Drei Tage später waren sie zusammen und acht endlos lange Wochen bekam ich meine Freundin kaum noch zu Gesicht.

Kay klebte an Leena wie ein Heftstreifen. Er war eifersüchtig, wenn sie mit mir anstatt mit ihm für eine Klausur lernte, wurde sofort misstrauisch, wenn sie mal allein am Rhein entlangjoggen oder das Wochenende bei ihren Großeltern in Köln verbringen wollte. Dabei hätte er diese Zeit wunderbar nutzen können, um seiner Computerleidenschaft zu frönen.

So richtig flippte Kay allerdings aus, wenn Leena und ich unsere Zeichensprache gebrauchten. Er wollte einfach nicht begreifen, dass wir uns seit der fünften Klasse kannten und seit der siebten eng miteinander befreundet waren.

Die Zeichensprache hatten wir entwickelt, um während Klassenarbeiten unauffällig Informationen auszutauschen, uns gegenseitig zu warnen (zum Beispiel, wenn ein Lehrer nahte oder eine Klassenkameradin, über die wir gerade tratschten) oder uns insgeheim miteinander zu verabreden. Über die Jahre war uns diese Art der Verständigung so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass wir es oft gar nicht mehr merkten, wenn wir sie benutzten. Es passierte ganz automatisch.

Über Kay unterhielten wir uns allerdings kaum, schon gar nicht auf diese Weise. Ich mochte ihn nicht, doch Leena liebte ihn. Sie war meine beste Freundin, und ich wollte, dass sie glücklich war. An den Haaren herbeigezogen war sein Misstrauen natürlich trotzdem nicht. Möglicherweise spürte er meine Ablehnung sogar. Aber das war mir egal, solange Leena es nur nicht allzu deutlich mitkriegte.

Als die erste rauschhafte Verliebtheitsphase vorbei war, bekam ihre rosarote Brille sehr schnell Risse, und ich war mir sicher, dass meiner Freundin das Netz, das Kay um sie gesponnen hatte, bald zu eng werden würde.

Am Ende dauerte das Ganze dann allerdings doch mindestens ein Dreivierteljahr zu lange. Wir steckten mitten in den Vorbereitungen für die ersten punkterelevanten Klausuren. Pauken war angesagt, Freizeitaktivitäten wie Partys, DVD-Nächte oder Musikfestivals rückten in den Hintergrund. Es war einfach nicht die Zeit, eine Beziehung zu beenden und sich damit noch mehr Stress aufzuladen. Fand Leena. Sie wolle nicht schuld sein, wenn Kay sich den Abi-Schnitt versemmele, das habe er nicht verdient. Außerdem hätte sie absolut keine Lust, sich seine Trauermiene anzutun. Das könne sie später immer noch.

Ich war natürlich vollkommen anderer Meinung, doch ich hielt weiterhin meine Klappe und wünschte dem lieben Kay insgeheim die Pest an den Hals. Als die Plackerei dann ein Ende hatte, gab Leena ihm endlich den Laufpass, aber Kay dachte gar nicht daran, ihre Entscheidung zu akzeptieren. Er überraschte sie beim Joggen, besorgte Kinokarten für sie beide, lud sie zum Libanesen ein und war beleidigt, als sie nicht kam. Schließlich versuchte er, sie in meinem Beisein zu küssen – und da brannten bei mir die Sicherungen durch. Meine ganze monatelang aufgestaute Wut entlud sich in einem gezielten und äußerst wirkungsvollen Kinnhaken.

Es war reiner Reflex. Die Entschlossenheit jedoch und vor allem die Kraft und die Genauigkeit, mit der ich meinen Hieb platzierte, überraschte mich selbst fast noch mehr als Kay. Gewalt, in welcher Form auch immer, war überhaupt nicht mein Ding. Im Grunde war ich die Friedfertigkeit in Person, ich tat mich sogar schwer damit, eine Mücke totzuschlagen.

Nach diesem Vorfall schickte Kay noch ein paar SMS und zwei oder drei Nachrichten über WhatsApp, auf die Leena nicht reagierte, und dann war der Spuk zum Glück vorbei.

»Und?«, erkundigte ich mich jetzt. »Hat er zugegeben, dass er Kaya kontaktiert hat?«

Leena drosselte die Geschwindigkeit ihres Laufbands und schaltete es schließlich ganz aus. »Nein«, sagte sie, griff nach ihrem Handtuch und wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn. »Er behauptet, dass sie ihm geschrieben hat.«

»Klar.« Ich beendete mein Lauftraining ebenfalls und deutete das Bla-bla-bla-Zeichen an, eine sich rhythmisch öffnende und wieder schließende Merkel-Raute. »Was wirst du unternehmen, wenn er sich mit ihr trifft?«

»Ihm eine reinhauen?«, gab sie schulterzuckend zurück.

»Also, ich würde das nicht einfach so abtun«, sagte ich.

»Keine Angst, das mache ich schon nicht«, erwiderte sie. »Und jetzt komm, nehmen wir uns erst mal den Sandsack vor!«

An diesem Abend war ich nach dem Work-out völlig erledigt. Unter Leenas Anfeuerungsrufen hatte ich eine geschlagene Viertelstunde auf den schweren Ledersack eingeprügelt. Danach fühlte ich mich zwar total entspannt, meine Arme waren allerdings schwer wie Blei und mein ganzer Körper schien unter Muskelschwund zu leiden. Ich konnte mich kaum noch bewegen. Trotzdem bestand Leena darauf, die kompletten sechzig Minuten durchzuziehen.

Ich versuchte gar nicht erst, mich zu wehren. Wenn es um sportliche Aktivitäten ging, gab meine Freundin den Ton an. Und nicht nur hier. (Stichwort: A.C.O.S.T.)

»Hallo, Jazz«, begrüßte Pops mich. Er war gerade mit zwei gefüllten Rotweingläsern von der Küche in Richtung Wohnzimmer unterwegs, als ich in den Flur trat. »Du siehst aber müde aus. Geht es dir gut?«

»Ja, ja«, sagte ich, drückte die Tür hinter mir zu und streifte meine Jacke ab. »Leena hat es heute nur ein wenig übertrieben. «

»So, so.« Pops zwinkerte mir zu.

Ich hatte nicht nur seine grünen Augen geerbt, sondern auch die geschwungenen dunklen Brauen und die, wie ich fand, etwas zu voluminöse Oberlippe. Das störrische dunkelblonde Haar jedoch, das herzförmige Gesicht und die beiden winzigen Grübchen in der linken Wange stammten von meiner Mutter.

»Möchtest du auch einen Schluck Wein?«, fragte Pops.

»Klar doch.« Ich entledigte mich meiner Chucks, nahm ihm die Gläser ab und huschte ins Wohnzimmer.

Mam saß mit angezogenen Knien auf dem Sofa und lächelte mir entgegen. Aus den Boxen erklangen sanfte Trompetenklänge. Miles Davis, Kind of Blue. Logisch besaß Pops auch alle anderen Aufnahmen von ihm, aber So What war nun mal Mams und sein Song.

Er lief, als sie sich vor gut zwanzig Jahren in einer Jazzkneipe kennenlernten, dann zwei Jahre später auf ihrer Hochzeit und nach noch einmal 9 Monaten während meiner Geburt. Nicht absichtlich aufgelegt, sondern zufällig.

Meine Mutter wollte eigentlich, dass ich Theresa Pauline heiße, und nach allem, was ich weiß, ist Pops mit diesem Namen auch einverstanden gewesen. Bis ich auf der Welt war.

Er wiegte mich zum Takt der Musik in seinem Arm, drehte sich tanzend im Kreis und wischte mir mit dem weichen Handtuch, in das die Hebamme mich gehüllt hatte, vorsichtig die Käseschmiere aus dem Gesicht.

»Hallo, Jazz«, flüsterte er. »Hörst du diese Musik?«

Später, wenn Mam mir davon erzählte, wurde mir jedes Mal ganz kribbelig ums Herz. Manchmal glaubte ich sogar, mich an den warmen Klang seiner Stimme erinnern zu können.

»Jazz. Jazz. Jazz.«

Wie die dunklen, rauen Töne eines Saxofons.

Er hat meiner Mutter nie verraten, dass er mit mir sprach, wenn sie schlief. Seine Wange, sein Ohr, seine Lippen an ihren Bauch geschmiegt. Und dass er mich schon immer Jazz genannt hatte. Das ist Pops' und mein Geheimnis bis heute.

»Meinetwegen lass Theresa Pauline eintragen«, sagte er damals. »Ich prophezeie dir allerdings, dass sie niemals auf diesen Namen hören wird.«

Sie stritten drei Tage, dann gab meine Mutter nach.

»Hallo, Jazz«, begrüßte Mam mich jetzt.

Wenn sie meinen Namen aussprach, klang es nach Frühling, Prosecco und Blumenduft.

Ich stellte die Weingläser auf den Tisch und gab ihr einen Kuss.

»Hallo, Mam.«

Sie klopfte neben sich aufs Sofa, und ich ließ mich dorthin fallen, obwohl dieser Platz eigentlich Pops vorbehalten war.

»Die Work & Travel-Unterlagen waren heute in der Post. Ich habe sie auf deinen Schreibtisch gelegt.« Meine Mutter schlang ihren Arm um mich und ich schmiegte mich in ihre Halsbeuge. Sie fühlte sich warm und weich an und duftete verführerisch nach Secrets de Hammam. »Hast du dir eigentlich schon überlegt, wann du loswillst?«, erkundigte sie sich. »Gleich im Sommer oder …?«

»Mhmh.« Ich schüttelte den Kopf. »Nicht vor November.«

Mam strich mir eine Strähne aus der Stirn und legte sie mir hinters Ohr. »So spät?«

Natürlich war sie erstaunt. Die meisten aus meinem Jahrgang konnten es kaum erwarten, als Au-pair, Work & Traveller oder im Rahmen eines Sozialprojekts ins Ausland zu gehen. Einige verzichteten sogar auf die Abi-Feier und ließen sich ihr Zeugnis zuschicken. Mein Plan war ursprünglich gewesen, im Juli oder August zu starten.

»Ach, weißt du«, sagte ich. »Ich habe mir überlegt, dass es eigentlich ganz schön wäre, wenn ich den Sommer über hierbliebe. Außerdem ist ein Dreivierteljahr Australien doch vollkommen ausreichend.«

Mam musterte mich ziemlich skeptisch. »Machst du das wegen Leena?«

»Quatsch«, sagte ich.

Keine Ahnung, ob sie von der OULAY'S Neueröffnung wusste und dem Wirbel, der darum veranstaltet wurde. Meine Mutter interessierte sich nicht sonderlich für Klamotten. Seit ein paar Jahren hatte sie ihre kleine Stammboutique in der Altstadt, die sie zwei- bis dreimal im Jahr besuchte, um ihren Kleiderschrank aufzufrischen. Vielleicht hatte sie vom A.C.O.S.T. gehört, aber ganz sicher wäre ihr niemals in den Sinn gekommen, dass ich daran teilnehmen könnte, und ich hatte auch nicht vor, ihr früher als unbedingt nötig davon zu erzählen.

»Leena kommt bestens ohne mich zurecht«, bekräftigte ich.

Mam lächelte. »Und du ohne sie?«

Ich richtete mich auf.

»Was willst du denn damit andeuten?«

Meine Mutter zog ihren Arm zurück und griff nach ihrem Weinglas.

»Nichts weiter«, sagte sie, machte eine beschwichtigende Geste und setzte das Glas an die Lippen. Dann fiel ihr offenbar ein, dass Pops noch fehlte, und sie ließ es wieder sinken. »Ich gebe zu, dass ich ein wenig gehofft hatte, ihr würdet zusammen reisen. Ein junges Mädchen allein …«

»Australien ist kein unsicheres Land«, fiel ich ihr ins Wort. »Abgesehen davon kann ich mich jederzeit an die Organisation wenden, wenn ich nicht klarkomme.«

Ich verstand durchaus, dass sie sich um mich sorgte. Es rührte mich, manchmal nervte es mich allerdings auch und ganz sicher würde ich mich davon nicht beeinflussen lassen. Dass ich nach dem Abi ein Auslandsjahr einlegen wollte, stand schließlich schon lange fest. Seit zwei Jahren jobbte ich in den Sommerferien, um mir das Geld für den Flug zu verdienen.

»Aber zu zweit wäre es doch viel schöner, oder nicht?«, wandte meine Mutter ein.

»Ja … schon möglich«, gab ich schulterzuckend zurück.

»Also …?« Ihr Blick schien mich zu durchbohren.

»Also was?«, fragte ich ungeduldig.

In diesem Moment kam mein Vater mit zwei Weinflaschen und einem dritten Glas herein. Ich stand sofort auf und wechselte in einen der beiden Sessel, damit er sich neben Mam setzen konnte.

Die letzten Töne von Flamenco Sketches verklangen.

Pops startete die CD von vorn. So What war das erste Stück.

»Dicke Luft?«, fragte er und sah zuerst mich an und dann Mam.

»Ihr wäre es lieber, wenn ich mit Leena zusammen nach Australien fliegen würde«, erwiderte ich, ehe meine Mutter zu einer Antwort ansetzen konnte.

Sie hob sofort abwehrend die Hände. »So war das nicht gemeint.«

Pops zwinkerte mir zu. »Es stimmt aber.«

Er füllte das dritte Glas und reichte es mir.

Mam richtete warnend ihren Zeigefinger auf ihn.

»Untersteh dich!«, meinte sie schmunzelnd. »Du wirst jetzt bitte keine Interna preisgeben!«

»Würde mir doch niemals einfallen«, gab Pops ebenfalls schmunzelnd zurück. Er sank dicht neben meiner Mutter aufs Sofa und ließ seine Finger zärtlich in ihr kurzes Haar gleiten. »Allerdings hätte auch ich gedacht, dass Leena und du vor eurem Studium noch etwas Besonderes zusammen unternehmen würdet«, setzte er an mich gewandt hinzu.

»Vielleicht tun wir das ja«, sagte ich.

»Hört, hört!«, merkte Mam sogleich auf. »Das ist also der Grund, weshalb du erst im Herbst wegwillst. Und?«, wollte sie wissen. »Gibt es schon Pläne?«

Ich nickte und antwortete mit einem gedehnten: »Ja … spruchreif sind sie allerdings noch nicht. Und deshalb wird jetzt auch noch nichts verraten«, ergänzte ich hastig.

»Oh.« Enttäuschung breitete sich auf Mams Gesicht aus. »Das ist aber schade.«

»Finde ich nicht«, erwiderte ich lächelnd. Ich warf ihr einen Kussmund zu und hob mein Glas.

Pops prostete mir zu.

»Was auch immer du tust … meinen Segen hast du.«