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Bereits erschienen:

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eISBN 978-3-649-62731-9

eISBN 978-3-649-62754-8

eISBN 978-3-649-62917-7

www.coppenrath.de

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Inhalt

Donnerschlag

Sturmwind

Auf der Fensterbank

Drei Stiche

Dunkle Schatten

Nasskalter Wind

Auf der Flucht

Heimat

Waldmeister

Scheunengespräche

Cosima

Erasmus

Ausgeflogen

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Donnerschlag

Paulo spähte durch den spitzen Eisenzaun, der vor dem Hof entlanglief. Das Anwesen erinnerte ihn an das alte gotische Gebäude mit den fratzenhaften Wasserspeiern in jeder Ecke, in dem er vor langer, langer Zeit eine Weile gelebt hatte. Er ließ die schmalen Fenster, die rußbedeckten Backsteine und das vertrocknete Gestrüpp, das überall wild wucherte, einen Moment auf sich wirken. Dann zwängte er sich durch den Zaun und taperte auf das Grundstück.

Der steinerne Boden unter seinen Pfoten fühlte sich kalt und klamm an und Paulo durchfuhr das Gefühl von frösteliger Einsamkeit.

Er verharrte kurz in der Bewegung, sah sich um und entdeckte schließlich, dass eines der Fenster im Erdgeschoss nur angelehnt war. Leichtfüßig sprang er auf das Fensterbrett, dessen vormals heller Sandstein nun über und über mit Moos bewachsen war. Geschickt schob er den morschen Holzrahmen auf und glitt ins Innere.

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Auf leisen Pfoten taperte er durch das alte Haus. Warf einen Blick hierhinein und dorthinein. Er nahm die Gerüche wahr, die das Gemäuer in sich trug. An einigen Stellen duftete es noch intensiv nach den Geschichten, die sich hier zugetragen hatten, an anderen war nur noch ein schwacher Hauch davon auszumachen und an sehr vielen, da war überhaupt nichts mehr. Härmjäh, ein Jammer!, dachte Paulo, welch ein Jammer.

Am Ende des langen Flurs entdeckte er eine mit zahlreichen Schnörkeln und kunstvollen Ornamenten verzierte Tür, die den ehemaligen Bewohnern wohl ganz besonders lieb und wichtig gewesen war. Zwischen all dem Verwohnten und Morschen stach sie richtig heraus. Paulo war fasziniert von ihrer Schönheit. Doch als er sich durch sie hindurch in das marmorne Badezimmer schob, begriff er auch, dass es für das Haus unwiderruflich zu spät war. Viel zu lange schon hatte in der gusseisernen Wanne kein heißes Wasser mehr gedampft, hatten vor dem lodernden Kamin Handtücher oder Kleidungsstücke zum Trocknen gehangen.

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Nachdenklich und auch ein wenig bekümmert leckte Paulo sich die Pfoten. Es war eindeutig. Das Haus hatte sich aufgegeben. Zwar trug es noch so einiges an Erinnerungen in sich, doch die Mauern, der steinerne Fußboden, das marode Treppengeländer hatten längst aufgehört zu atmen, hatten ihre Stimme verloren.

Paulo wurde ganz flau zumute. Die Erkenntnis tat ihm geradezu körperlich weh. Er liebte alte Gebäude, er liebte ihre Geschichten, die vielen schönen und auch traurigen Erlebnisse, die sie zu erzählen hatten, und er sah sich selbst gern in der Rolle ihres Retters.

Als er vor einiger Zeit den Glückskleehof entdeckt hatte, da schien ihm auch dieser schon fast verloren. Doch dann war Paulo der prächtig blühende Garten aufgefallen und kurz darauf war Feline auf den Hof gekommen. Von diesem Moment an hatte Paulo gewusst, dass alles gut werden würde mit dem Glückskleehof. Feline, sein Mädchen, seine Seelenverwandte, würde den Hof glücklich wohnen.

Bei dem Gedanken an sie wurde ihm ganz warm ums Herz, und obwohl das Wetter grau und trüb war, kam es ihm vor, als würde die Sonne sich einen Weg durch die dicken Wolken bahnen.

Auf leisen Pfoten, ganz so, als wäre da doch noch ein zartes Fünkchen Hoffnung, verließ er das einst prächtige Haus wieder. Elegant sprang er auf einen der steinernen Zaunpfeiler. Von hier aus hatte er einen guten Überblick. Nach vorn bis zum Dorfrand, nach hinten über die hohen Wipfel der Bäume, so weit, bis sich die Umrisse im milchigen Einerlei des unendlichen Horizonts verloren.

Er hielt die Nase in den Wind und vernahm einen Duft, eine Fährte, eine Spur, die ihm eine Erinnerung in den Bauch zuckte. So wie das Haus. Der Brunnen. Der kalte Fußboden unter seinen Pfoten. Die Tür mit den unzähligen Ornamenten. – Eine längst vergessen geglaubte Erinnerung …

Dann hörte er das Heulen. Oder war es ein klagendes Winseln? Eine Beschwerde, die sich in den Wolken verfing und von ihnen hinfortgetragen wurde? Eine tiefe, so tiefe Verzweiflung, vielleicht sogar eine unendliche Einsamkeit?

Plötzlich fühlte Paulo sich wie elektrisiert. Sein Nackenfell stellte sich auf, der Schwanz schlug unruhig hin und her.

„Wo bist du?“, rief er. „Zeig dich!“

Stille! Die Straße war verlassen. Nur das leise Rauschen des Windes, der sich in den kargen Ästen und Büschen verfing, strömte an seinen gespitzten Ohren vorbei.

Paulo schoss von dem Pfeiler. Er folgte nun ganz seinem Jagdinstinkt, ließ sich leiten und hatte schon bald den Rand des Dorfs erreicht. Von dort aus ging es weiter über Felder, sanft ansteigende Hügel und schließlich einen geschwungenen Pfad entlang, der immer holpriger wurde. Kahle Sträucher ragten weit auf den Weg und nahmen Paulo die Sicht auf das, was ihn erwartete.

Als der Weg abknickte, zog sich Paulos Magen zu einem harten Knoten zusammen. Eine unheilvolle Vorahnung beschlich ihn – dann tapste er um die Biegung herum und erstarrte. Direkt vor ihm ragte eine Reihe aus Bäumen und Büschen auf. Sie erweckten den Eindruck, als wären sie nur dort gewachsen, um den großen Felsvorsprung einzurahmen. So wurde daraus ein geschütztes Plätzchen, weit oben über dem Tal, den Wiesen und abgeernteten Feldern bis hin zum Dorf mit seinem verlassenen Anwesen.

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Es war ein geradezu königlicher Platz. Eine Erhöhung mit Weitblick … Überblick. Der perfekte Ort, um sich zu zeigen.

Paulo knurrte leise, während seine Samtpfötchen zu Krallenpranken wurden. Er atmete tief ein. Aber die Luft hier draußen roch nun sauber, frisch und friedlich. Nichts deutete auf die drohende Gefahr hin, die Paulo so sehr in Alarmbereitschaft versetzt hatte.

Doch davon ließ Paulo sich nicht täuschen. Wenn sein Instinkt ihn nicht trog, dann würde es mit dem Frieden in dieser Gegend bald vorbei sein, das wusste er.

Er wölbte den Rücken zum Buckel, machte sich noch größer, als er ohnehin schon war, und ließ zwei-, dreimal seine messerscharfen Krallen durch die Luft schneiden.

Stille! Keine Regung um den Felsvorsprung herum. Selbst der Wind hielt nun den Atem an.

Hatte er sich getäuscht?

Paulos Blick fiel auf einen schmalen Trampelpfad. Er war so zugewachsen, dass man ihn auf den ersten Blick kaum ausmachen konnte. Doch nachdem Paulo ihn erst einmal betreten hatte, wurde ihm klar, dass er erst in letzter Zeit entstanden sein konnte. Kurz bevor der Wald sein prächtig grünes Gewand abgeworfen hatte und das daunenweiche Moos von schlaffen Blättern und verrotteten Ästen übersät worden war. Er hielt sich also noch nicht allzu lange hier auf.

Gut. Das ist wirklich gut, dachte Paulo und spürte, wie die unheilvolle Vorahnung allmählich wieder an Kraft verlor.

Doch im selben Moment veränderte sich die Atmosphäre. Der Himmel über Paulo färbte sich dunkellila bis schwarz. Im nächsten Moment verschwand die blasse Sonne hinter einer dicken Wolke und mit einem Mal herrschte fast vollständige Windstille. Paulo schüttelte sich unbehaglich, als in der Ferne ein tiefes Grollen erklang, dann war es wieder gespenstisch ruhig. Der Himmel wurde immer dunkler und unheilvoller, und dann setzte auf einmal der Wind mit einer derartigen Wucht wieder ein, dass es Paulo beinahe von den Pfoten fegte.

Im grellen Schein des ersten Blitzes, der das Firmament zerriss, zeigte er sich Paulo. Als er auf den Felsen hinaustrat, begleitet von einem gewaltigen Donnerschlag, zuckte Paulo zusammen. Dann ergriff er die Flucht.

Nein, Paulo von Panama täuschte sich tatsächlich nie. Und deshalb wusste er auch, dass er von nun an auf der Hut sein musste. Vorbei war es mit der friedlichen Zeit, in der er im Garten unter seinem Lieblingsbaum liegend seine Gedanken schweifen lassen konnte. Jetzt musste er handeln!

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Sturmwind

Feline lief mit eiligen Schritten den Gehweg entlang. Beklommen schaute sie in den Himmel, der mit jedem Augenblick dunkler wurde. Die Wolken türmten sich über ihrem Kopf und schienen immer noch weiter zu wachsen.

„Oje, da braut sich ja mächtig was zusammen“, murmelte sie und hoffte, dass sie es noch vorm Gewitter nach Hause schaffte.

Doch als Feline um die nächste Straßenecke bog, setzte der Wind auf einmal mit solch einer Wucht ein, dass sie sich am Straßenschild festhalten musste, um nicht mitgerissen zu werden. Und dann begann es zu regnen. Dicke, harte Tropfen, die mit großer Kraft auf Feline niederprasselten und da, wo sie auf den Asphalt fielen, dunkle Flecken hinterließen.

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Innerhalb von Sekunden wurde der Regenguss so heftig, dass Feline in keine Richtung mehr weiter als über eine Armlänge hinaus blicken konnte. Es war beinahe so, als stünde sie unter einem prasselnden Wasserfall.

Schräg gegenüber, auf der anderen Straßenseite, befand sich ein kleines Bushäuschen. Feline schaute kurz nach links und rechts und rannte los.

Sie hatte das Häuschen schon fast erreicht, als ein greller Blitz den Himmel zerriss. Kurz darauf folgte der Donnerschlag. Erschrocken zuckte Feline zusammen und ihr entwich ein kleiner ängstlicher Schrei.

Erbarmungslos trommelte der Regen auf Felines Rücken, bis sie endlich das Bushäuschen erreicht hatte und dort atemlos auf die schmale Holzbank sank.

Das Wasser tropfte ihr aus den langen Haaren, rann ihr übers Gesicht und ihre Kleidung war bis auf die Haut durchnässt. Ihr Puls jagte wie verrückt, während das Gewitter sich ordentlich austobte. Es knallte und krachte, es blitzte und loderte am Himmel.

Doch schon nach einer Weile ließ das Unwetter genauso plötzlich wieder nach, wie es aufgekommen war. Der Regen war vorbei. Der Donner nur noch als ein leises Grummeln in der Ferne zu hören. Feline meinte sogar, durch die dicken Wolken die Sonne hindurchblinzeln zu sehen.

„Verrücktes Wetter“, murmelte sie und erhob sich von der Bank. „Hätte ja ruhig warten können, bis ich zu Hause bin.“

Sie wrang das Wasser aus ihrem Pferdeschwanz. Dann machte sie sich auf die letzten Meter ihres Heimwegs.

Normalerweise ging sie den Weg nie allein. Ihr bester Freund Tim war stets an ihrer Seite. Zumindest bis zur Straßenecke, an der sie in unterschiedliche Richtungen weitermussten.

Dass Tim nicht mit ihr ging, lag daran, dass er krank war. Seine Mutter hatte heute Morgen am Telefon irgendwas von einer Grippe gefaselt und Feline darum gebeten, Tim bei der Klassenlehrerin zu entschuldigen.

„Kann ich ihn heute nach der Schule besuchen kommen?“

„Lieber nicht, Feline“, hatte Tims Mutter gesagt. „Sonst steckst du dich noch an. Ich melde mich, sobald es ihm besser geht, und bis dahin könnt ihr ja telefonieren.“

Leider hatte Tims Mutter recht, krank zu werden, das konnte Feline im Augenblick echt nicht gebrauchen. Auf dem Glückskleehof gab es jede Menge zu tun. Die Ponys, die sie zusammen mit Tim und Paulo aus den Fängen dieser miesen Schrotthändler gerettet hatte, waren inzwischen von der Weide in den Stall umgezogen, weil das Gras nicht mehr grün war und der Boden immer matschiger wurde.

Doch nur in der Box stehen, das sollten die vier Ponys natürlich auch nicht. Deshalb hatte Felines Papa damit begonnen, ihnen draußen einen Auslauf mit Sandboden zu bauen, in dem sie sich mehrere Stunden am Tag bei Wind und Wetter frei bewegen konnten.