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ISBN 978-3-649-62736-4

© 2017 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,

Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Text: Antje Szillat

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Coverfoto: Anna Neumann

Covermotiv: Unter Verwendung von Motiven

von Shutterstock, © Chiociolla, 293831192

Innenseiten: Rustic wood planks: fotolia, © John Smith, 121864672;

Pins: fotolia, © realstockvector, 97681217,

Polaroid-Bilder und Papier: © Kathrin Schüler

Lektorat: Susan Niessen

Satz: Sabine Conrad, Bad Nauheim

www.coppenrath.de

Das Buch erscheint unter der ISBN 978-3-649-62208-6

Antje Szillat

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Aufbruch ins Glück

Mit einem Vorwort von Nicole Uphoff

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Viele junge Reiter und Reiterinnen haben, so wie Tessa, den Wunsch, ihr Pferd bei einem Turnier vorzustellen und ihr Können zu zeigen. Ob dies gelingt, hängt natürlich von den Fähigkeiten des Reiters und der Ausbildung des Pferdes ab, aber zu einem großen Teil eben auch vom Zusammenspiel von Pferd und Reiter. Beide sind Teil eines Teams, müssen einander vertrauen und respektieren, aber es ist die Aufgabe des Reiters, sein Pferd dazu zu bringen, sein Bestes zu geben! Und das geht eben nur, wenn er sein Pferd richtig versteht.

Mein ehemaliger Trainer Dr. Schulten-Bäumer hat mir beigebracht, dass das Pferd nie schuld ist, wenn etwas nicht gelingt, sondern immer nur der Reiter. Das stimmt natürlich nicht ganz, aber es hilft, sich erst einmal zu fragen, was man selber vielleicht falsch gemacht hat und warum das Pferd so und nicht anders reagiert.

Wo dieses Verständnis für das Pferd fehlt, wird es nie echte Harmonie geben. Das ist mir ganz wichtig und genau das versuche ich meinen Schülern zu vermitteln.

Eine gute und solide Ausgangsbasis ist entscheidend für die weitere Laufbahn, deshalb habe ich mir für meine Förderlehrgänge ganz bewusst die Klasse U 16 ausgesucht (L-Dressur und Dressurreiter-L), weil es für diese Klasse noch keine Förderung gab. Es ist mir dabei sehr wichtig, meine persönliche Philosophie über die Ausbildung des Pferdes und die Einstellung dazu weiterzugeben. Deshalb spreche ich auch mit den Trainern und Eltern und versuche, sie in den Prozess einzubinden.

Wenn diese Grundlage geschaffen ist, dann sind Pferd und Reiter auf einem guten Weg, ein Traumpaar zu werden, so wie Tessa und Ronja. Aber natürlich heißt es trotzdem noch: üben, üben, üben!

Eure

Nicole Uphoff

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Inhalt

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 1

»Aber nicht wieder so viel Geld ausgeben!«, ermahnte mein Vater uns, kurz bevor ich die Autotür zuzog. Er stand in der geöffneten Haustür und sah nicht gerade begeistert aus.

»Oh weh.« Meine Mutter tat mitleidig, während sie den Motor startete. »Papa hat mal wieder Angst um unseren Kontostand.«

»Ja, er sieht richtig blass aus. Dabei wollen wir doch nur gucken, nichts kaufen«, behauptete ich und musste dann über meine eigenen Worte lachen. Als ob wir zur Pferd & Jagd fahren und mit leeren Händen zurückkommen würden. Nein, das hatte es noch nie gegeben und so würde es bestimmt auch heute nicht sein.

»Wir halten uns zumindest zurück«, beschloss meine Mutter und lenkte ihr Auto rückwärts aus unserer Einfahrt.

Zehn Minuten später fuhren wir bei meiner besten Freundin Anni vor. Mit hochroten Wangen plumpste sie auf den Rücksitz.

»Ahhh, ich habe doch tatsächlich von meiner Oma gestern Nachmittag noch 50 Euro bekommen. Mit den 50, die ich noch von meinem Geburtstagsgeld habe, kann ich mir garantiert neue Chaps kaufen und habe locker noch was zum Verprassen über.«

»Du hast Geld von deiner Oma bekommen?«, staunte ich. »Für die Pferdemesse?«

Annis Oma war zwar wahnsinnig nett, fand es aber überhaupt nicht gut, dass ihre Enkelin ritt. Viel lieber hätte sie es gesehen, wenn Anni ein etwas ungefährlicheres Hobby gehabt hätte. Ballett oder Blockflötespielen zum Beispiel.

Anni verzog das Gesicht. »Nee, meine Oma gibt doch kein Geld für Pferdezeugs aus. Ich soll mir davon ein Paar Schuhe kaufen.«

»Schuhe?«, riefen meine Mutter und ich fast gleichzeitig.

Anni grinste. »Ich kaufe ja so etwas Ähnliches wie Schuhe. Chaps sind immerhin Schäfte. Für den Rest, erkläre ich ihr dann später, hat es halt nicht gereicht.«

Meine Mutter lachte und ich zeigte Anni einen Vogel. »Oh, Anni, du bist echt der Härtefall.«

Bis zum Messegelände, auf dem sich die Hallen befanden, in denen einmal im Jahr die Fachmesse Pferd & Jagd veranstaltet wurde, waren es nur etwas über zwölf Kilometer. Dennoch brauchten wir eine halbe Ewigkeit, bevor wir endlich Pferdemesseluft einatmen konnten. Zunächst fanden wir keinen Parkplatz und dann standen wir eine geschlagene halbe Stunde an den Kassen an.

»Wer hatte noch die Idee, ausgerechnet am Samstagvormittag zur Messe zu fahren?«, murmelte meine Mutter leicht genervt und schenkte mir einen bedeutungsvollen Blick. »Und wer hat gesagt, Samstagvormittag ist es dort viel zu voll?«

Ich zuckte unschuldig mit den Schultern.

»Sonntags ist es bestimmt noch schlimmer«, behauptete ich. Schließlich boten am letzten Messetag viele Aussteller ihre Waren deutlich billiger an, da lag das ja wohl auf der Hand.

Kurz darauf hatten wir es endlich geschafft und betraten die erste Halle, in der sich auch die Showarena befand.

»Lass uns gleich mal gucken, was da heute so auf dem Programm steht«, schlug Anni vor und zerrte mich rüber zu den hohen weißen Wänden, die die Showarena umgaben. Dort hing das Tagesprogramm aus.

»Um 13 Uhr ist die Führzügelklasse«, las Anni laut vor, obwohl ich direkt neben ihr stand und selbst lesen konnte. Doch meine Freundin war so überdreht, dass ich sie einfach machen ließ. »Das ist immer total süß. Die verkleiden sich wirklich richtig aufwendig und hübschen die Pferde absolut grandios auf. Und guck mal, Tessa, gleich im Anschluss moderiert Nicole Uphoff ein Livetraining mit einigen ihrer Reitschüler. Das muss ich unbedingt sehen! Ich finde die total klasse! Kennst du Rembrandt? Was für eine Frage, natürlich, jeder kennt ihn – oder nein, kannte. Der lebt ja nicht mehr. Auf jeden Fall …«

Anni redete und redete und redete, und ich hatte keine Chance, irgendwie dazwischenzukommen. Ich konnte nur nicken und hoffen, dass sie bald ihre Traumchaps finden würde und dann endlich einen Gang runterschaltete.

»Anni, hol mal zwischendurch Luft«, neckte meine Mutter sie und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Sonst hyperventilierst du mir hier noch.«

Abrupt verstummte Anni und sah mit großen Augen zwischen meiner Mutter und mir hin und her. »Ich rede schon wieder zu viel, stimmt’s?«, murmelte sie geknickt.

Kurz darauf trennten sich unsere Wege. Meine Mutter musste zurück zum Haupteingang, wo sie sich mit ihrer Freundin Frauke aus Hamburg traf, die ebenfalls ein großer Pferdefan war. Gemeinsam wollten sie durch die Messehallen bummeln, so wie ich mit Anni.

Ich fand’s perfekt. Denn so konnte ich frei über mein Geld verfügen, das ich schon seit Monaten für den Messebesuch zusammengespart hatte. Wenn meine Mutter dabei war, musste ich immer erst mit ihr darüber diskutieren, ob ich das Halfter, die Bandagen, die Schabracke oder die Gerte wirklich brauchte, wo ich doch von allem schon mehr als genug hatte. Aber ganz ehrlich: Konnte man von Pferdesachen jemals genug haben?

»Wollen wir uns dann so gegen 16 Uhr wieder hier an der Arena treffen?«, schlug meine Mutter vor.

Anni und ich nickten.

»Okay«, sagte ich und hob die Hand zum Abschied.

Meine Mutter wandte sich zum Gehen. Doch dann musste sie unbedingt noch etwas loswerden.

»Und, Tessa, denk daran, gib dein Geld nicht für unnützes Zeugs aus. Wir haben mehr als genug Schabracken, Halfter, Bandagen und Gerten im Stallschrank liegen.«

»Mach ich nicht, Mama«, versprach ich und verkniff mir ein Grinsen.

Dann war sie endlich weg und ich atmete erleichtert auf. »Natürlich brauche ich für Ronja eine neue Schabracke. Und Carlos hat gestern sein grünes Halfter kaputt gemacht.«

Voller Inbrunst stimmte mir meine Freundin zu. »Nee, Tessa, da bin ich ganz und gar bei dir. Ohne ein grünes Halfter kann der Arme nicht auskommen!«

»So ist es!«, nickte ich. »Carlos wird mir beleidigt sein dickes Hinterteil zudrehen, wenn ich heute Abend ohne ein grünes Halfter im Stall auftauche.«

»Und, Tessa, diese dunkelblaue Schabracke, die du auch in Rot hast, ist die nicht schon reichlich abgenutzt?«

Erneut nickte ich. »Jetzt, wo du es sagst, stimmt. Also muss ich auch ganz dringend nach einer neuen dunkelblauen Schabracke für Ronja gucken.«

Lachend hakten wir uns unter und schlenderten voll freudigem Tatendrang rüber in die erste Halle, in der wir von Pferdekram nur so überflutet wurden.

»Wie im Paradies«, hauchte ich. »Nein, noch viel, viel herrlicher.«

Wir kämpften uns durch die engen Gänge, die trotz des noch frühen Samstagvormittags rappeldickevoll waren. Aber davon ließen wir uns die gute Laune nicht verderben. Das Geschubse und Geschiebe gehörte irgendwie dazu. Und außerdem waren wir hier ja mehr oder weniger unter uns – alles nur Pferdeverrückte. Herrlich!

Anni wollte gleich am ersten Stand einen großen Eimer Pferdeleckerlis kaufen. Man konnte sie sich selbst zusammenstellen und der Preis war auch echt gut. Nur leider war der Eimer auch echt schwer, und wir hatten vor, mehrere Stunden auf der Messe zu bleiben.

»Warum kaufst du die Leckerlis nicht, kurz bevor wir nach Hause fahren?«, fragte ich sie.

Doch Anni schüttelte entschlossen den Kopf. »Nee, dann sind die vielleicht ausverkauft oder das Angebot gilt nicht mehr. Was ich habe, das habe ich!«, meinte sie – obwohl sie genau wusste, dass ihre Erklärung Blödsinn war. Aber nun ja, ich musste den Eimer ja nicht die ganze Zeit schleppen.

Eine knappe halbe Stunde später verließen wir schweißgebadet die Halle 5. Anni meinte, dass der »Fliegende Holländer« seinen Stand in der 12 hätte und sie dort garantiert die günstigsten und besten Chaps der ganzen Messe finden würde. Weil uns so kochend heiß war, beschlossen wir, nicht von Halle zu Halle zu gehen, sondern außen daran vorbei.

Obwohl es Anfang Dezember war und ein unangenehmer nasskalter Wind blies, tat die frische Luft einfach nur gut.

»Boah«, keuchte Anni. »Warum habe ich bloß diesen Leckerli-Eimer gekauft? Der wird von Sekunde zu Sekunde schwerer.« Sie schenkte mir einen treuherzigen Blick. »Kannst du ihn vielleicht ein bisschen tragen?«

»Nein!« Jetzt schüttelte ich entschlossen den Kopf. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst ihn später kaufen. Aber du wolltest ja nicht hören.«

»Bitte, Tessa«, flehte sie mich an. »Nur bis zur Halle 12. Dann nehme ich ihn dir wieder ab. Versprochen!«

Ich seufzte tief. Natürlich ließ ich mich wieder breitschlagen.

»Ahhh, ich fühle mich wie ein neuer Mensch«, zwitscherte Anni und trabte beschwingt los.

Doch weit kamen wir nicht, da blieb sie plötzlich wie angewurzelt stehen.

»Tessa«, zischte sie mir aufgeregt zu. »Da ist sie.«

Ich blickte mich verständnislos um. »Wer?«

Anni krallte ihre Finger in meinen Unterarm. »Nicole Uphoff. Da vorne. Guck doch mal richtig hin!«

Eine hochgewachsene schlanke Frau mit Pferdeschwanz und in Jeans und dunkler Steppjacke kam mit eiligen Schritten auf uns zu. Jetzt, wo sie uns fast erreicht hatte, erkannte auch ich sie.

»Tatsächlich, das ist Nicole Uphoff«, wisperte ich.

»Los, sprich sie an!«, verlangte Anni aufgeregt.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Niemals! Ich weiß nicht mal, was ich sagen soll.«

»Frag sie nach einem Autogramm. Los, Tessa, trau dich!«

»Und warum traust du dich nicht?«

Statt mir zu antworten, verpasste Anni mir einen Schubs. Und zwar genau in dem Moment, als Nicole Uphoff direkt an uns vorbeiging. Ich stolperte vorwärts und streifte sie dabei. Aber das war noch nicht das Peinlichste! Der Leckerli-Eimer in meiner Hand knallte mit voller Wucht direkt gegen ihr rechtes Knie.

»Aua«, rief sie und sah mich irritiert an.

»Oh … Entschuldigung«, stammelte ich. Blut stieg mir ins Gesicht. Ich hätte Anni umbringen können.

»Ich-ich bin gestolpert. Über meine eigenen Fü-Füße …«, stotterte ich und wünschte mir nichts sehnlicher als ein Loch, in das ich sehr, sehr tief versinken konnte.

Nicole Uphoff rieb sich das Knie. »Schon gut. Ist ja nichts passiert«, erklärte sie großzügig und machte Anstalten weiterzugehen.

Doch Anni hatte schon wieder andere Pläne.

»Frau Uphoff«, rief sie mit niedlicher Stimme. »Es ist nämlich so, dass meine Freundin Tessa ein großer Fan von Ihnen ist. Aber sie traut sich nicht, Sie nach einem Autogramm zu fragen.«

Nicole Uphoff lachte. »Na, das hättest du doch gleich sagen können, Tessa. Ich hätte dir auch freiwillig ein Autogramm gegeben, ohne dass du mir vorher das Knie blau schlägst.«

Oh mein Gott, war das peinlich.

»Ich habe leider keine Autogrammkarten dabei. Sie sind in meiner Tasche und die liegt bei meinen anderen Sachen hinten bei der Showarena.«

»Echt schade«, murmelte Anni enttäuscht und gab mir einen unauffälligen Knuff in den Rücken.

Automatisch wiederholte ich ihre Worte: »Ja, echt schade.«

Einen Moment lang sah uns Nicole Uphoff nachdenklich an, bevor sie lächelnd vorschlug: »Kommt doch nach dem Livetraining einfach hinter die Showarena. Dann gebe ich euch gerne ein Autogramm. Okay?«

Anni strahlte.

KAPITEL 2

Pünktlich um 13 Uhr betraten Anni und ich schwer bepackt die Zuschauertribüne. Anni drängte sich bis ganz nach unten durch und schaffte es tatsächlich, zwei Plätze direkt am Rande der Showarena für uns zu ergattern.

Allerdings saß man hier vorne so beengt, dass ich Mühe hatte, meine Einkaufstüten unter dem Sitz zu verstauen. Im Gegensatz zu Anni, die noch immer nichts außer dem Leckerli-Eimer gekauft hatte, war ich komplett pleite – aber super-super glücklich.

Ein Halfter für Carlos samt Führstrick, eins für Ronja, zwei Schabracken und ein Dreierpack Reitkniestrümpfe von meiner Lieblingsmarke.

»Echt doof, dass der Holländer die Chaps nur in Braun dahatte«, ärgerte Anni sich. »Wenn’s richtig dumm läuft, dann fahre ich tatsächlich nur mit einem Eimer Leckerlis nach Hause.« Sie sah mich mit großen Augen an. »Das geht nicht! Echt nicht!«

»Wir gehen einfach später noch mal in Halle 5 und gucken ganz in Ruhe. Bestimmt findest du deine Traumchaps noch«, versuchte ich sie aufzubauen.

Da ertönte die Stimme des Moderators aus den Lautsprechern, die rund um die Arena aufgestellt waren.

»So, mein sehr verehrtes Publikum, weiter geht es im Programm mit einem meiner persönlichen Highlights des Showprogramms, dem Kostüm-Führzügelwettbewerb.«

Während der Moderator etwas zu den Bedingungen und Regeln dieser Prüfung erläuterte, ritten nach und nach die jungen Teilnehmer auf ihren Ponys oder Pferden, begleitet von ihren Führern, in die Arena. Alle waren aufwendig und fantasievoll geschmückt. Am besten gefiel mir ein kleines Mädchen in einem wunderschönen Feenkostüm auf ihrem wirklich zuckersüßen Schimmelpony-Einhorn.

»Oh, mein Gott«, rief ich entzückt. »Sind die süß!«

Anni fand Jack Sparrow und seinen imposanten Rappen im wilden Piratenoutfit allerdings noch besser. »Guck dir mal das tolle Kostüm an und wie genial der Rappe zurechtgemacht wurde. Das hat ja wohl mal richtig Arbeit gemacht.«

»Ronja würde durchdrehen, wenn ich ihr so viel Gebammsel umhängen würde«, sagte ich.

Anni stupste mich grinsend an. »Ronja würdest du auch ohne Kostümierung nicht einmal in die Nähe dieser Arena kriegen«, prophezeite sie mir. »Die würde schon am Eingang, beim Anblick der vielen Menschen, eine Panikattacke bekommen und im gestreckten Galopp die Flucht ergreifen.«

Ich nickte, denn leider hatte Anni recht. Natürlich wollte ich nicht an einem Kostüm-Führzügel-Wettbewerb teilnehmen. Darüber war ich weit hinaus. Doch in so einer unfassbar beeindruckenden Halle zu reiten – wow, das wäre schon ein Knaller. Allerdings nicht für meine sehr sensible Hannoveraner Stute Ronja, die ohnehin schon recht schreckhaft war. So eine imposante Umgebung, an jeder Ecke prächtiger Blumenschmuck, tausend Lautsprecher und noch mehr Publikum, nein, das würde Ronja fix und fertig machen.

Mein Pony Carlos hingegen war wesentlich cooler. Ihn würde der Trubel hier reichlich wenig interessieren. Doch Carlos hatte sich vor knapp einem Jahr bei einem Reitunfall so schwer verletzt, dass er seitdem quasi unreitbar war.

Noch immer tat mir das Ganze schrecklich leid. Doch ich war dankbar und erleichtert darüber, dass ich ihn behalten durfte und es ihm inzwischen wieder so gut ging, dass er seinen vorzeitigen Ruhestand mit zwei anderen Rentnerpferden im neuen Offenstall auf dem Wichmann Hof genießen konnte.

Ja, Carlos ging es gut, und Ronja, die vor nicht allzu langer Zeit aus ganz anderen Gründen noch quasi unreitbar gewesen war, hatte inzwischen auch schon große Fortschritte gemacht.

Als ich Ronja das erste Mal gesehen hatte, war sie ängstlich und schreckhaft und traute den Menschen nicht über den Weg. Ihr musste Schlimmes zugestoßen sein, bevor sie zu Marianne gekommen war, die sie dann wiederum an uns verkauft hatte. Leider ließ sich kaum noch nachvollziehen, durch wie viele Hände Ronja zuvor gegangen und was genau dabei mit ihr geschehen war.

Aber eigentlich wollte ich es auch gar nicht so genau wissen. Ich wollte nach vorne schauen und dafür sorgen, dass Ronja ihre panische Angst ablegte, wieder Vertrauen fasste, und ja, das war mir inzwischen tatsächlich schon recht gut gelungen.

Allerdings war ihr Nervenkostüm noch immer so dünn, dass ich Anni nur zustimmen konnte: Ronja würde durchdrehen, wenn ich mit ihr in so eine Halle einreiten wollte.

Gewinner des Führzügel-Wettbewerbs wurden schließlich ein blonder Junge auf einem großen Fuchs und seine Führerin, die allesamt aus dem Märchen Aladin und die Wunderlampe entsprungen waren. Der Sattel war so dekoriert, dass es aussah, als säße der Junge auf einem fliegenden Teppich.

»Okay, der Junge ist wirklich schon reiterlich echt gut, und wie die das mit dem fliegenden Teppich-Sattel hinbekommen haben, ist der Hammer. Trotzdem haben mir die Fee und ihr Einhorn am besten gefallen«, sagte ich zu Anni, nachdem die Teilnehmer, mit Schleifen und Ehrenpreisen ausgestattet und vom tosenden Applaus der Zuschauer begleitet, die Arena verlassen hatten.

»Jack Sparrow hätte gewinnen müssen«, fand Anni noch immer. »Alibaba war zwar toll zurechtgemacht, aber mir gefiel der Junge reiterlich überhaupt nicht gut. Der hat sich beim Leichttraben total an den Zügeln festgehalten. Aber na ja, typisch Richter, die werten ja eigentlich nie gerecht.«

Neben uns wollten einige Leute nun die Zuschauertribüne verlassen. Was zur Folge hatte, dass die komplette Reihe aufstehen musste, um sie durchzulassen.

Als wir endlich wieder saßen und die Unruhe auf den Rängen durchs Weggehen und Hinzukommen nachgelassen hatte, betrat der Moderator erneut die Arena.

»Von einem Highlight zum nächsten und das hier, verehrtes Publikum, ist sogar goldbehangen, denn niemand Geringeres als die mehrfache Olympiasiegerin und Weltmeisterin im Dressurreiten, Nicole Uphoff, wird in wenigen Augenblicken unter den fachkundigen Augen des Publikums ein Livetraining mit den Gewinnerinnen des Nicole-Uphoff-Fördercups durchführen. Lassen Sie uns Nicole mit einem herzlichen Applaus begrüßen und ihr gleichzeitig unseren Respekt und Dank dafür aussprechen, dass sie sich so engagiert und sich starkmacht für den reiterlichen Nachwuchs.«

Die Leute applaudierten wie verrückt, als Nicole Uphoff die Halle betrat. Genauso lässig und sympathisch, wie sie mir vorhin bei unserem unfreiwilligen Zusammenstoß vorgekommen war, wirkte sie nun auch in der großen Arena auf mich.

Der Moderator wechselte ein paar Worte mit ihr, fragte sie nach den Bedingungen des Fördercups, wer daran teilnehmen durfte und worauf die Gewinner sich freuen konnten, und übergab schließlich das Mikrofon an Nicole Uphoff.

Sie bedankte sich beim Publikum für die herzliche Begrüßung und kündigte an, dass nun drei junge Damen mit ihren Pferden in die Arena einreiten würden, die im Sommer in Verden beim großen Finale der Jugend-Nachwuchsförderung gesiegt hatten. Seit knapp 5 Monaten waren sie im Nicole-Uphoff-Förderteam.

»Ich würde mir in die Hose pinkeln vor Aufregung, wenn ich in dieser Halle vor all den Zuschauern reiten müsste«, raunte Anni mir zu.

Ich nickte. »Ich auch … aber der Hammer wäre es schon.«

Im nächsten Moment trabten die drei Reiterinnen in die Halle und mir blieb fast die Luft weg.

»Boah, wie genial die alle reiten! Und was für Pferde die haben! Guck dir mal den Rappen vorne an, wie der läuft, ach was, schwebt. Was für ein Schwung! Unglaublich.«

Ich war völlig aus dem Häuschen.

»Tessa, jetzt mal im Ernst«, sagte Anni und ihre Stimme klang nicht annähernd so begeistert wie meine. »Der Rappe ist viel zu eng und das Mädel kenne ich übrigens. Sarah Ganthmann heißt die. Ihre Eltern haben Kohle bis zum Abwinken. Ich schwöre dir, die hat zu Hause noch drei von diesem Kaliber im Stall stehen. Wenn einer nicht läuft, dann nimmt sie halt den nächsten.«

Ich sah sie verwundert an. »Warum bist du denn so gehässig?«

Doch Anni schüttelte den Kopf. »Nicht gehässig, Tessa, neidisch.«

»Ups!«, fiel mir dazu nur ein.

»Das Leben ist einfach ungerecht. Ich muss mich im Keller ausziehen, wenn ich aus dem Stall von meinem Pflegepferd komme, weil keiner in meiner Familie Pferdegeruch herrlich findet, und diese Superzicke Sarah bekommt von ihren Eltern alles in den Hintern geschoben und weiß es nicht einmal zu schätzen, so mies, wie die immer zu ihren Pferden ist.«