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Das Hörbuch zum Buch erscheint bei image,
gelesen von Anna Thalbach.

eISBN 978-3-649-62347-2

© 2017 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,

Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Text: Erik O. Lindström

Dieses Werk wurde vermittelt durch die literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Illustrationen: Wiebke Rauers

Lektorat: Jutta Knollmann

Satz: Helene Hillebrand

www.coppenrath.de

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Bestimmt hast du schon einmal von dieser besonders tiefen und dunklen Stelle im Meer gehört. Einem Ort, der so weit unten liegt, dass sich noch nie ein Mensch dorthin gewagt hat. Aber vielleicht weißt du auch, dass es dort überhaupt nicht so finster ist. Es erscheint einem nur von oben so. In Wirklichkeit schimmert es an dieser Stelle herrlich hellblau und abenteuerlich apfelgrün.

Genau hier wohnt Meja Meergrün, ein ganz besonderes kleines Meermädchen. In dieser magischen Unterwasserwelt, die von den Meeresbewohnern Lyckhav genannt wird, lebt sie zusammen mit vielen anderen Meerleuten, lustigen Fischen, sprechenden Pflanzen und mit ihrem Freund, der Kümmerkröte Padson.

Das weißt du alles bereits? Nichts Neues für dich? Dann bist du ja schon bestens vorbereitet für das nächste Abenteuer mit Meja Meergrün.

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Tief unten im Meer, in den dunklen Wassern des Fjords, lebte die kleine Meerjungfrau Meja Meergrün nun schon eine Weile mit ihrer Kümmerkröte Padson. Ihre Eltern waren nämlich als Forscher auf geheimer Mission unterwegs. Gerade war im Haus mit der meergrünen Glocke eine Flaschenpost mit einer Nachricht von ihnen angekommen.

Tut uns leid, lieber Schatz!

Wir müssen noch ein bisschen länger fortbleiben.

Dabei vermissen wir dich ganz furchtbar! Aber Padson passt sicher gut auf dich auf.

Tausend Küsse von Mama und Papa!,

formten die ABC-Fische, als Meja die Flaschenpost geöffnet hatte.

„Ach“, seufzte das Meermädchen, „ich hatte mich so auf sie gefreut!“ Einen Moment dachte sie wehmütig an ihre Eltern, doch schon im nächsten Augenblick lächelte Meja wieder. Genau so, wie sie es Mama und Papa versprochen hatte. „Zum Glück habe ich dich, mein lieber Padson“, sagte sie und stupste gegen seinen schimmernden Panzer. „Wie gut, dass meine Eltern dich zu mir geschickt haben, weißt du noch?“

„Allerdings“, erwiderte Padson und tat ein bisschen beleidigt. „Du hast mich ewig in dieser unbequemen Kiste warten lassen, in die deine Eltern mich gestopft hatten. Eine ehrwürdige Kümmerkröte, zusammengeklappt wie eine Auster!“

„Mecker nicht“, rief das Meermädchen vergnügt, „ich habe dich doch schließlich herausgelassen. Auch wenn es ein wenig länger gedauert hat.“ Bei der Erinnerung kugelte sich Meja vor Lachen, und ihr kleiner Seestern Lille, der stets an einer Kette um ihren Hals hing, kicherte leise mit.

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Ja, anfangs hatten sich die beiden, das wilde Meermädchen und die alte, freundliche Meeresschildkröte, so gar nicht leiden können. Brillenschachtel, hatte Meja Padson genannt und sich darüber geärgert, dass ihre Eltern ihr einen Aufpasser geschickt hatten.

Und auch Padson hatte sich zunächst ein anderes Kümmerkind gewünscht. Eben eine echte kleine Meerjungfrau: brav und wohlerzogen, höflich, immer ordentlich gekleidet und kein bisschen wild. Genau das Gegenteil von Meja Meergrün.

„Tja“, Padson lächelte milde, „was bin ich jetzt froh, dass ich dich habe, meine Meja.“

„Allerdings. Das kannst du auch sein!“ Meja grinste. „Und nun … fang mich!“ Mit ein paar kräftigen Flossenschlägen war das Meermädchen zur Tür hinausgesaust.

Padson verdrehte die Augen. Dass er aber auch nie in Ruhe seinen Korallenmoostee genießen konnte, den ihm seine Cousine Smilla zum Geburtstag geschenkt hatte. „Meja! Meja Meergrün! Waaarte!“, schallte die brummige Schildkrötenstimme durch die bunte Unterwasserwelt von Lyckhav.

„Fang mich! Fang mich doch, wenn du kannst!“, rief Meja übermütig. „Ich bin weg. Ahoi und schwipp-schwapp!“

Ihr buntes Haar wirbelte wild im Wasser auf und ab, während sie ihrer Kümmerkröte kichernd davonsauste. Durch wogende Seeanemonenfelder, über den geschäftigen Lyckhaver Markt, vorbei an den immer hungrigen Müllfischen, flugs hinweg über das Korallenriff mit den unheimlichen Schlammtrollen.

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Padson gab sein Bestes, aber er hatte Meja in Sekundenschnelle aus den Augen verloren. „Ich kann nicht mehr“, japste er. „Das ist zu viel. Ich brauche dringend eine Atempause!“

Auch wenn Padson wie alle alten Meeresschildkröten eine ganze Weile unter Wasser bleiben konnte, musste er doch ab und zu zum Luftholen auftauchen. Am liebsten tat er das in den frühen Abendstunden, wenn die Sonne das Meer golden färbte. Dann krabbelte er auf eine der kleinen unbewohnten Schäreninseln und genoss für einen Moment, wie die warmen Sonnenstrahlen seinen Panzer trockneten.

„Ein kleines Stück Krötenglück“, murmelte Padson, nachdem er aufgetaucht war und es sich auf einem Felsen gemütlich gemacht hatte. „Eine winzige Verschnaufminute von meinem wilden Kümmerkind.“

Er atmete tief durch und sein Blick wanderte über das weite Meer hinaus. Padson sah die kleinen Fischerboote, die auf den Wellen tanzten. Er beobachtete, wie die Sonne das Wasser zum Glitzern brachte.

Er sah – oh Schreck! –, was er nun entdeckte, jagte ihm einen Schauer über den Panzer: Zwei riesige Schiffe dümpelten auf dem Meer hoch oben über Lyckhav. Genau im Fjord von Birkenholm, der kleinen Menschenstadt am Meer.

Padson erkannte sofort, dass es Fangschiffe waren. Eindeutig! Gerade warfen sie ihre Netze ins Wasser. Und was für welche!

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„Solche Dinger habe ich ja noch nie gesehen“, murmelte er. „Wollen die Wale fangen? Na, da muss ich Wotan aber gleich mal warnen!“

Bisher waren hier, weit oberhalb von Lyckhav, nur kleine Fischerboote unterwegs gewesen. Zwischen den zahlreichen Inselchen hatten sie reiche Beute gemacht. Die Lage war sehr günstig, viele Fische tummelten sich dort.

Padson sah sorgenvoll zu den Fangschiffen hinüber. „Das ist nicht gut, gar nicht gut. Besser, ich erzähle Meja nichts davon. Sonst kommt mein Kümmerkind noch auf verrückte Ideen. Nicht auszudenken, was ihm passieren könnte …“

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Am nächsten Morgen kam Padson Meja reichlich komisch vor. Noch keinen einzigen Schluck von seinem Tee hatte er genommen. Und auch das Seegrasbrötchen lag unberührt vor ihm. Dabei sah alles so gemütlich aus! Ein frischer Strauß Rotalgen stand auf dem Tisch, helles Licht strahlte durch die Fenster. Padson jedoch sah so bekümmert aus wie nie und sprach beim Frühstück kaum ein Wort.

Irgendwann hielt Meja es nicht mehr aus. „Bist du noch immer böse auf mich, lieber Padson? Wegen gestern Nachmittag? Weil ich dir beim Fangenspiel einfach weggepaddelt bin?“, fragte sie und schenkte ihm dabei den treuherzigsten Blick, den sie draufhatte.

„Nein, ich bin nicht mehr sauer“, murmelte die Kümmerkröte, ohne aufzublicken. „Zumindest nicht auf dich.“

„Dann bist du krötenstinkig, weil ich noch kurz bei Brillo vorbeigeschaut habe? Obwohl du unbedingt wolltest, dass ich auf der Stelle nach Hause schwimme?“

Padson schüttelte den Kopf und gab nur ein unverständliches Murmeln von sich.

Meja wurde einfach nicht schlau aus seinem Verhalten. „Jetzt weiß ich es! Es ist, weil ich bei Brillo einen Tangburger verdrückt habe und dann leider, leider zu satt war, um deinen gesunden Grünkramsalat zu essen. Nicht wahr?“

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Als die Kümmerkröte erneut den Kopf schüttelte, wurde Meja langsam ungeduldig. „Padson, jetzt sei doch bitte wieder gut mit mir!“ Sie legte eine kurze Pause ein und musterte ihn eingehend. Was konnte sie noch tun, damit er endlich nicht mehr so muffelig war?

Sie sprang auf. „Soll ich dir heute mal mit dem neuen Kratzfisch den Panzer bürsten?“, schlug sie vor. „Das tut dir doch immer so gut.“

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Wieder schüttelte Padson den Kopf.

„Oder mein Zimmer in Ordnung bringen?“

Obwohl jeder in Lyckhav wusste, dass Meja nichts so doof fand wie aufräumen, wiegte die Kröte nur den Kopf hin und her.

Langsam gingen Meja die Ideen aus. Verfischt noch mal! Padson war heute wirklich merkwürdig.

Tja … da blieb wohl nur noch eine einzige Sache übrig, die ihm mit Sicherheit ein Lächeln in das gutmütige Kümmerkrötengesicht zaubern würde.

„Was hältst du davon, lieber Padson … “, Meja brachte es kaum über die Lippen, „wenn ich … nun ja, wenn ich heute … ähm … in die Schule zu Frau Bläck gehe?“

Padson bekam Augen, so groß und rund wie die lustigen Kugelfische, mit denen Meja und ihr Freund, die Kegelrobbe Bollarbi, gern Algenball spielten.

„Du-du willst in die Schule gehen? Freiwillig? Jetzt gleich?“

Meja grinste. Endlich lächelte Padson ein wenig.

„Wenn du dich darüber freust, dann gehe ich“, versprach sie.

Die Kümmerkröte nickte. „Sogar sehr. Du solltest jedoch nicht meinetwegen in die Schule gehen, sondern deinetwegen. Damit du etwas lernst und gleichaltrige Meermädchen triffst. Womöglich schließt du neue Freundschaften. Das wäre doch schön, oder?“

Endlich war Padson wieder der Alte. Endlich. Nur deshalb tat Meja so, als hätte sie große Lust auf die anderen Meermädchen und Frau Bläck, die strenge Tintenfischlehrerin. Auch wenn Meja in Wirklichkeit viel lieber einfach nur im Meer herumsauste. Schule fand sie öde und die anderen kleinen Nixen waren ihr viel zu lieb und artig. Außerdem hatte sie genug Freunde, sie brauchte keine neuen.

Doch weil es ihre Kümmerkröte so glücklich machte, paddelte die kleine Nixe schließlich direkt nach dem Frühstück rüber zur Unterwasserschule Muschelkiste.

Nur einmal machte Meja kurz halt. Da nämlich, als sie einen kleinen Pupsfisch auf dem Weg entdeckte. Der brachte sie auf eine geniale Idee. Eine echte Meja-Idee!

Frau Bläck freute sich bestimmt, wenn sie den Schulunterricht ein bisschen auflockerte! Eine Handvoll Schlammkekse, ein paar Streicheleinheiten und freundliche Koseworte, schon war der Pupsfisch gemächlich in Mejas Tasche verschwunden.

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„Meja, wie schön!“, rief Frau Bläck wenige Momente später und kam mit ausgebreiteten Tentakeln auf das Meermädchen zu. Ihr Gesicht war ein einziges überraschtes Strahlen. „Ich freue mich sehr, dass du auf deine Kümmerkröte gehört hast und endlich wie all die anderen lieben Meerjungfrauen die Schule besuchst.“

Meja wollte schon klarstellen, dass sie nur wegen Padson in die Schule gekommen war, aber dann ließ sie es doch lieber bleiben. Denn so ganz stimmte es ja nicht.

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Zumindest nicht mehr. Schließlich wollte Meja unbedingt etwas zeigen. Etwas ziemlich Lustiges.

„Ahoi, Frau Bläck. Ja, ich bin wirklich ein sehr folgsames Meermädchen und höre immer auf das, was Padson mir rät. Sofort und gleich.“ Meja musste sich ein Glucksen verkneifen.

„Sehr gut, Kindchen, sehr gut.“ Frau Bläck nickte.

„Endlich kommst du zur Vernunft.“

„Was lernen wir denn heute?“, wollte Meja wissen.

So schnell, wie das ein riesiger, dicker Tintenfisch eben konnte, wirbelte Frau Bläck durch das liebevoll dekorierte Klassenzimmer und rief begeistert aus: „Du hättest dir keinen besseren Tag aussuchen können, Meja Meergrün! Heute erfahrt ihr, wie aus schlichtem Seegras wunderschöner Haarschmuck wird.

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Anschließend dürft ihr euch gegenseitig den selbst gebastelten Schmuck in die Frisuren flechten. Ist das nicht schön?“

Die Meermädchen klatschten begeistert in die Hände. In der vordersten Sitzreihe steckten Ava und Pernilla die Köpfe zusammen und tuschelten aufgeregt miteinander. Dahinter kicherten Sveja und Hedda um die Wette. Emilie und Ida hatten sogar schon ihre perlenverzierten Kämme aus den Muscheltäschchen gefischt, um sofort mit dem Frisieren loslegen zu können. Nur Britta und Helen linsten neugierig zu Meja herüber. Die kramte nämlich mit einem sonderbaren Grinsen in ihrem derben Beutel aus Seetang herum. Dabei gluckste und kicherte sie so, dass sich nach und nach auch die anderen Meermädchen nach ihr umdrehten.

Wie gut, dass Frau Bläck der Klasse gerade ihr Hinterteil zuwendete. Aufgeregt erhoben sich die kleinen Meerjungfrauen von ihren Sitzen und spähten zu Meja.

Was sie wohl in ihrem Beutel hatte?, fragten sich alle. Einen besonders schönen Kamm? Oder einen Spiegel, der mit unzähligen Perlen verziert war? Oder doch einfach nur ihr Pausenbrot?

Plötzlich wackelte und zappelte der Beutel auf und ab, als wäre er lebendig. Britta, Helen, Ida und Ava, Pernilla und die anderen hielten vor Schreck den Atem an. Ihre Augen waren groß wie Austern. Gespannt sahen sie zu, wie Meja den Beutel öffnete.

Langsam.

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Sehr langsam und bedächtig.

Im Wasserschneckentempo zog Meja die Schnur des Beutels auseinander. Als wäre darin etwas ganz Ungewöhnliches versteckt. Etwas, das man nur ganz vorsichtig freilassen durfte …

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Gerade als sich Frau Bläck wieder zu ihrer Klasse umdrehte und dabei verkündete: „Ich war gestern den ganzen Nachmittag in meinem Garten und habe für euch Berge von Seegras geerntet. Wartet eine Sekunde, ich hole es eben.“ – Genau in diesem Augenblick hatte Meja ihren Beutel endlich geöffnet.

Schwipp-schwapp, trudelte der Pupsfisch heraus, den Meja ein paar Minuten vorher im Meer gefunden hatte. Allerdings war er nun kein kleiner Pupsfisch mehr, sondern so kugelrund, dass er beinahe im Beutel stecken geblieben wäre. Er hatte nämlich Mejas Pausensnacks restlos aufgefuttert. Sein Körper war aufgequollen wie ein dicker Schwamm. Außerdem hatte ihn das viele Fressen müde wie eine Schlafauster gemacht. Willenlos ließ er sich von Meja packen.

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Das kleine Meermädchen lächelte. Prima, so faul und schläfrig eignete sich das Dickerchen genau für einen echten Meja-Streich!

Da kam auch schon Frau Bläck zurück ins Klassenzimmer. Sie trug einen riesigen Packen Seegras vor sich her, sodass nur noch ihre runde Tintenfischstirn dahinter zu erahnen war.

Schneller als der Delfin Kimi Sauseflitz rauschte Meja zu Frau Bläcks Stuhl und legte den verschlafenen Pupsfisch darauf.

Mit einem Seufzer hievte Frau Bläck das Seegras auf ihr Pult. „Geschafft.

Nun können wir beginnen. Sveja, komm bitte nach vorne und verteile das See…“

Pups! Pröööööööt!

Frau Bläck machte große Augen, während es für den Hauch einer Sekunde so still im Klassenzimmer war, dass man glatt einen schlafenden Wasserfloh hätte schnarchen hören können. Doch es war kein Schnarchen. Und es war auch kein Wasserfloh, sondern Frau Bläck, die nun gleich noch mal sehr laut und deutlich Puups! machte.