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Warum wurden Percys Eltern entführt?
Was hat Allan Darkmoor in dem Geheimraum versteckt?
Wer ist die Knochenbande?
Kann eine Mumie zum Leben erweckt werden?
Und eine Eiserne Jungfrau bluten?

Percy weiß es nicht.
Aber er wird es bald herausfinden!

1. Die Mumie

2. Der Schatten am Torhaus

3. Samuel Jackberry

4. Die Eiserne Jungfrau

5. In der Irrenanstalt

6. Bescherung

7. Ankündigungen

8. Im Laboratorium

9. Im Versteck der Knochenbande

10. Der geheimnisvolle Tunnel

11. Detektivarbeit mit Murmeln

12. Darkmoor-Blut

13. Das Feuer

14. Gut gemacht, Sam!

15. Schlussfolgerungen

16. Rätselhafte Hieroglyphen

17. Die Folterkammer

18. Die Entführung

19. Das neue Familienoberhaupt

20. Flucht zum Ostturm

21. Auf Leben und Tod

22. Die unsichtbare Pyramide

23. Djobokurs Geheimnis

24. Der Auftrag

25. Des Rätsels Lösung?

26. Licht im Dunkeln

27. In tiefster Tiefe

28. Die Schreckenskammer

Ich dachte mir schon, dass es Ärger geben würde, als ich mich dazu entschlossen habe, die Notizbücher mit den Percy-Pumpkin-Abenteuern meines verstorbenen Onkels Lord Hardy zu veröffentlichen, die er mir zusammen mit seinem Schloss vererbt hat. Aber dass es gleich so dicke kommen würde, hätte ich nicht erwartet.

Der Giftmordanschlag von Tante Ophelia war vorauszusehen gewesen. Genauso wie die Tatsache, dass mein Onkel Hardy zur Strafe als pöbelnder Poltergeist zurückgekehrt ist und nun bei mir im Schloss haust. Während ich diese Zeilen schreibe, schreit er gerade unflätige Wörter aus dem Marmorklo im großen Badezimmer …

Nun ja, seine Verwandtschaft kann man sich nicht aussuchen und mit der einen oder anderen kritischen Bemerkung aus dem Kreise der Familie hatte ich gerechnet. Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte, war die Empörung meiner Leser. An der Geschichte selbst hatten die meisten nichts auszusetzen. (In der Regel wird »Mord im Schloss«, der erste Percy-Pumpkin-Roman, als schauerlich und gruselig empfunden, was meiner eigenen Einschätzung von Onkel Hardys Werk entspricht.) Aber das Ende! »Eine Unverschämtheit! «, »Eine Zumutung!«, »Eine Frechheit!«.

»Das Buch hört ja mittendrin auf«, hat mir ein Junge vorgeworfen, den ich zufällig auf dem Friedhof an Onkel Hardys Grab getroffen habe. Das Schlimme ist: Er hat recht! Die Geschichte hört wirklich mittendrin auf und das ist meine Schuld. Ich habe es einfach nicht geschafft, das Gekritzel sämtlicher Notizbücher meines Onkels schnell genug in eine lesbare Form zu bringen. Aber ich sitze dran, das verspreche ich euch! Immerhin haltet ihr nun »Der Mumienspuk «, den zweiten Band der Percy-Pumpkin-Abenteuer, in den Händen. Und Teil drei lässt auch nicht mehr lange auf sich warten. (Es sei denn, Tante Ophelia versucht es beim nächsten Mal mit einem etwas unauffälligeren Gift, das nicht nach Katzenpipi riecht.)

Nun aber schnell zurück zu Percys Geschichte. Teil zwei schließt da an, wo der erste aufgehört hat. Und wer nicht mehr genau weiß, was darin passiert ist, liest am besten die folgende Zusammenfassung.

Euer Christian Loeffelbein

Statt die Weihnachtsferien wie sonst auf Onkel Ernies Hausboot auf der Themse zu verbringen, fährt Percy mit seinen Eltern erstmalig zu seinen sagenhaft reichen Verwandten in das sagenhaft große Schloss Darkmoor Hall.

Dort lernt Percy nicht nur seine Cousinen, die Zwillinge Claire und Linda, kennen, er schließt auch Freundschaft mit seinem etwas pummeligen Cousin John.

Doch nicht alle Schlossbewohner heißen die Neuankömmlinge willkommen. Besonders Onkel Eric und seine beiden Söhne Cyril und Jason nutzen jede Gelegenheit, um Percy zu terrorisieren.

Auf einmal nehmen seltsame Geschehnisse ihren Lauf. Nicht genug, dass Percy das Gefühl nicht loswird, schon einmal in Darkmoor Hall gewesen zu sein, er und die Zwillinge beobachten zudem, wie in der Nacht eigenartige Gestalten durch den Schlosspark wanken. Und dann wird auch noch die Köchin Brenda ermordet aufgefunden!

Die örtliche Polizei scheint vollkommen überfordert zu sein und verdächtigt erst den freundlichen Gärtner Wallace und dann auch noch Percys Eltern. Also machen Percy, Claire, Linda und John sich selbst daran, den Fall zu lösen, und finden bald das Motiv für die Tat heraus: Ein altes Familiengesetz der Darkmoors schreibt vor, dass die Köchin stets das Geheimrezept für Aunt Annie’s Worcestershire-Sauce in einem Medaillon bei sich tragen muss. Diese Würzsauce wird in einer Fabrik hinter dem Schloss hergestellt und ist der Grund für den Reichtum der Familie Darkmoor. Schon viele haben versucht, an das Rezept heranzukommen. Der Hartnäckigste von ihnen ist Charles McMurdoch – ein Nachbar der Darkmoors. Hat er vielleicht einen Spion ins Schloss geschleust, der Brenda umgebracht hat?

Als die Kinder auf mehrere heiße Spuren stoßen, überstürzen sich auf einmal die Ereignisse: Percys Eltern verschwinden spurlos, Gärtner Wallace legt ein Geständnis ab und die tot geglaubte Brenda steht in der Küchentür! Wie kann das sein? Percy ist inzwischen genauso überfordert wie die Polizei, wozu auch die Entdeckung von merkwürdig grün leuchtenden Geheimräumen und der Kampf mit einem Krakenmonster beitragen.

Rechtzeitig vor dem großen Weihnachtsfest können aber wenigstens einige der Rätsel gelöst werden: Es stellt sich heraus, dass Onkel Adalbert, der im Schloss an seinen Erfindungen arbeitet, eine Roboter-Version der Köchin Brenda gebaut hat, damit diese endlich einmal Urlaub in Südfrankreich machen kann. Das Experiment lief gut, bis der Spion der McMurdochs versuchte, die vermeintliche Brenda mit einem Bärenkostüm zu erschrecken, um ihr das Medaillon mit dem Rezept abzunehmen. Dabei gab es einen Unfall mit einem Marmeladenglas, bei dem die mechanische Köchin zerstört wurde.

Auch das unheimliche Krakenmonster im Keller ist nichts anderes als ein Roboter, der von den McMurdochs eingesetzt wurde, um in Schloss Darkmoor sein Unwesen zu treiben. Aus bislang ungeklärten Gründen sind der Maschine einige Sicherungen durchgebrannt, wodurch sie sich in ein angriffslustiges Monster verwandelt hat.

Ungelöst bleibt das Verschwinden von Percys Eltern, für deren Wiederauffinden ein Detektiv aus Amerika herbeigerufen wird. Und auch für das plötzliche Auftauchen einer Mumie beim Weihnachtsfest hat niemand eine Erklärung …

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Schlagartig waren die Kronleuchter erloschen und nur noch wenige Kerzen erhellten den großen Musiksaal von Darkmoor Hall. Ein erregtes Getuschel setzte ein, in das sich allmählich spitze Schreie mischten. Eine der vielen Türen an der Stirnseite des Saals öffnete sich und eine Gestalt wankte in den Raum. Obwohl sie nur als großer Schatten zu erkennen war, konnte jeder sehen, dass es sich weder um die Köchin Brenda noch um den Butler Jasper handelte. Denn die torkelten schließlich nicht mit einem Tranchiermesser in der Hand durch die Gegend und stießen dabei dumpfe, kehlige Laute aus.

»Meine Güte, wer ist das?«, kreischte Johns Mutter, Lady Belleaires, und wedelte nervös mit ihrem Fächer herum.

»Die Frage sollte wohl eher lauten: Was ist das?«, stammelte ein kleiner Herr mit Fliege und kariertem Anzug.

»Wie meinen Sie das?«, wollte Lady Belleaires wissen.

»Ich meine, dass es sich bei unserem nächtlichen Gast um so etwas wie eine Mumie oder eine ähnliche monströse Erscheinung handelt«, sagte der kleine Herr. Dann trank er seinen Whisky aus, ließ das Glas fallen und schloss sich der allgemeinen Panik an. Lady Belleaires kreischte laut nach der Polizei.

»Ich finde, dass deine Mutter etwas übertreibt«, sagte Claire zu ihrem Cousin John. Die beiden waren hinter einem Sessel in Deckung gegangen und hatten von dort aus einen guten Blick auf das Geschehen. Entsetzte Lords und Ladys stolperten an ihnen vorbei.

»Meinst du?«, fragte John. Er bewunderte die Kaltblütigkeit seiner Cousine, wünschte sich aber gerade an einen anderen Ort, wo es wesentlich heller und wesentlich weniger gruselig war.

Claire linste über die Sessellehne und gab ihrer Zwillingsschwester Linda ein Zeichen, die zusammen mit Percy und dessen Hund Jim hinter einem anderen Sessel hockte. Linda boxte Percy in die Seite.

»Los«, flüsterte sie, »das Monster knöpfen wir uns vor.«

Percy fuhr sich nervös durch die blonden Locken. »Wollen wir uns nicht lieber in Sicherheit bringen?«, fragte er und schielte zu dem langen Messer, das die Mumie in ihren Pranken hielt. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Er war sich sicher, dass es sich um das gleiche Wesen handelte, das vor einigen Tagen in dem merkwürdigen Zimmer mit dem Sarkophag aufgetaucht war und ihn durchs Schloss verfolgt hatte …

Doch Linda schien Percy gar nicht zuzuhören. Sie wollte ihn soeben mit sich ziehen, als die Mumie sich mit einem Mal zu ihnen umwandte und mit schweren Schritten auf ihren Sessel zuwankte. Percy konnte einen leisen Schrei nicht unterdrücken, und Jim fing an, ängstlich zu winseln.

Dann geschah allerdings etwas, mit dem keiner gerechnet hatte. Die Mumie zog plötzlich einen Jutesack hinter ihrem Rücken hervor, schnitt ihn mit dem Messer auf und begann, Bonbons in die Luft zu werfen. Percy war sprachlos.

»Onkel Monty!«, riefen Claire und Linda, nachdem das Licht im Saal wieder angegangen war, und rannten auf die Mumie zu.

»Was für ein unmöglicher Auftritt!«, schimpfte Onkel Eric, der Onkel Monty offensichtlich nicht leiden konnte.

»Warum trägst du denn diese Verkleidung?«, wollte Claire wissen und zupfte an den grauen Stoffwickeln, die ihr Onkel sich umgebunden hatte.

»Wir wollen einen Gruselfilm produzieren«, erklärte dieser. »Das hier ist mein neues Kostüm, und da wir bei euch im Schloss drehen werden, habe ich es mir einfach schon mal angezogen, um ein bisschen zu üben.«

»Was hast du da gerade gesagt?«, unterbrach ihn Onkel Eric, der so finster dreinschaute wie schon lange nicht mehr.

»Ich wollte ein bisschen üben«, wiederholte Onkel Monty und warf die letzten Bonbons.

»Das meine ich nicht, du Hanswurst«, knurrte Eric. »Was hier im Schloss passieren soll …«

»Ach so«, lachte Monty. »Wir werden hier den Gruselfilm Die verliebte Mumie drehen. Das ist billiger als in unserem Studio in London, das wir außerdem gerade an eine andere Produktionsfirma vermietet haben. Die machen irgendetwas mit Vampiren. Aber unser Mumien-Film wird natürlich viel besser. Und die verliebte Mumie, das bin ich.« Er lachte wieder.

»Achtkantig rausfliegen wirst du!«, brauste Onkel Eric auf. »Ein Filmteam hat in unserem Schloss nichts zu suchen. Wir haben auch so schon genug Ärger am Hals.«

»Das stimmt allerdings«, mischte sich nun Cedric Darkmoor, der Hausherr, in die Diskussion ein. »Du kannst natürlich bis Silvester hierbleiben. Aber ob aus den Dreharbeiten etwas wird, das weiß ich nicht.«

»Was ist denn passiert?«, fragte Onkel Monty und brachte Claires und Lindas kunstvolle Hochsteckfrisuren durcheinander, indem er ihnen durch die Haare strubbelte.

»Mehrere Dinge.« Lord Darkmoor zündete seine Pfeife an. »Dr. Uide ist wieder aufgetaucht, die McMurdochs haben ein merkwürdiges Unterseeboot in Form eines Kraken in unserem Schlossgraben herumschwimmen lassen, um uns auszuspionieren, und außerdem sind Percys Eltern verschwunden.« Er schob den Jungen nach vorne und stellte ihn Onkel Monty vor. »Das hier ist der Sohn meiner verschwundenen Schwägerin. Ein ganz prächtiger Kerl!«

»Ein Rotzlöffel, der nichts als Ärger macht«, zischte Onkel Eric, aber keiner beachtete ihn.

Onkel Monty schüttelte Percy die Hand. »Deine Eltern sind verschwunden? Das Problem haben wir im Nu gelöst! Nicht verzagen, Monty fragen. Ich helfe euch, sie zu suchen. Und diesen sauberen Dr. Uide knöpfe ich mir auch vor. Dem verpassen wir eine, dass die Heide wackelt.«

»Genau!«, riefen Claire und Linda. Jim schien ebenfalls begeistert davon zu sein. Er sprang immer wieder an Onkel Monty hoch und versuchte, das Ende des Verbands zu fassen zu kriegen, das lose von dessen Arm herabbaumelte.

»Verpass du lieber deinen Zug nach London nicht«, sagte Onkel Eric und ausnahmsweise war Percy einmal mit ihm einer Meinung. Das Geschwätz von Onkel Monty ging ihm ziemlich auf die Nerven.

Plötzlich rief Lord Toby Knolly: »Parbleu, was für ein Prachtexemplar, n’est-ce pas?«

Alle wandten ihre Köpfe. Die Köchin Brenda betrat mit einem großen Servierwagen den Saal, auf dem sich der schönste Christmas-Pudding befand, den Percy jemals gesehen hatte. Brenda hatte ihn mit Rum übergossen und angezündet. Selbst aus der Entfernung konnte man ahnen, wie lecker der Kuchen schmecken würde. Trotzdem hatte Percy auf einmal das Gefühl, den Inhalt einer Essigflasche im Mund zu haben. Er musste an den sehr viel kleineren Christmas-Pudding denken, den seine Mutter immer zu Weihnachten zubereitet hatte, und sofort wirbelte ihm die Frage im Kopf herum, die ihn von allen unheimlichen und beängstigenden Fragen der letzten Zeit am meisten beschäftigte: Was war mit seinen Eltern geschehen? Ging es ihnen gut? Und würde er sie jemals wiedersehen?

Claire zupfte ihn am Ärmel und riss ihn aus seinen Gedanken. »Los, komm«, sagte sie, »sonst kriegen wir nichts mehr ab. Brendas Christmas-Pudding ist immer schneller weg, als man gucken kann.«

Jim bellte aufmunternd und Percy versuchte zu lächeln.

»Wer ist denn eigentlich dieser Onkel Monty?«, fragte er, während sie sich einen Weg durch die Menge bahnten. »Auf mich macht er einen etwas, äh, verrückten Eindruck.« Er hatte »bescheuert« sagen wollen, aber da er merkte, dass Claire ihren Onkel mochte, behielt er es lieber für sich.

»Sag bloß, du hast noch nie etwas von Monty Montgomery gehört?« Claire knuffte und schubste einige ihrer Verwandten zur Seite, um schneller voranzukommen.

»Ich glaube, nicht«, sagte Percy. »Sollte ich?«

»Na klar! Monty ist ein echter Filmstar! Der Einzige, der es in unserer Familie zu etwas gebracht hat.« Claire nickte stolz. »Natürlich heißt er nicht wirklich Monty Montgomery, das ist nur ein Künstlername. In Wirklichkeit heißt er Dundee, aber mit dem Namen hätte er beim Film nur Witzfiguren spielen dürfen.«

»Mit dem anderen offenbar auch«, sagte Percy, allerdings so leise, dass seine Cousine es nicht hörte. Sie waren inzwischen an dem langen Tisch angekommen, auf den Brenda den Christmas-Pudding gestellt hatte. Es herrschte großes Gedränge. Neben ihnen standen Onkel Eric und seine Frau und winkten ungeduldig mit ihren kleinen Porzellantellern, um Brenda darauf aufmerksam zu machen, dass sie noch nichts abbekommen hatten.

»Immer mit der Ruhe«, sagte Brenda lächelnd, »es ist genug für alle da, wie jedes Jahr.«

»Was für ein wundervoller Reim«, kreischte Onkel Monty und wollte die Köchin umarmen, doch die hielt ihn sich mit dem Tortenheber vom Leib. Sie schien noch immer verärgert darüber zu sein, dass er ihr das Tranchiermesser vom Servierwagen gestohlen hatte.

»Warum sind Claire und Linda so von diesem Onkel Monty begeistert?«, fragte Percy seinen Cousin John, der ihm einen Teller und eine silberne Kuchengabel in die Hand drückte.

John zuckte mit den Schultern. »Wenn er sein Gesicht nicht mit schwarzer Farbe bemalt hat und einen normalen Anzug trägt, dann sieht er im Grunde ganz gut aus. Mama schwärmt auch für ihn.« Er lächelte etwas zerstreut, weil seine eigentliche Aufmerksamkeit dem Christmas-Pudding galt und er eine Lücke zwischen Onkel Toby und seiner Mutter erspäht hatte. Blitzschnell machte er einen Schritt nach vorne. Percy und Jim folgten ihm. Unmittelbar vor dem Tisch stießen sie wieder mit Claire und Linda zusammen, die es bereits bis in die vorderste Reihe geschafft hatten. Brenda schnitt ihnen jeweils ein ganz besonders großes Stück vom Christmas- Pudding ab und legte es auf ihre Teller. John linste ängstlich zu seiner Mutter hinüber, die ihn eine Woche vor Weihnachten auf Diät gesetzt hatte, aber von ihr schien im Augenblick keine Gefahr auszugehen. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, Onkel Monty anzustarren.

»Ich kenne ein tolles Plätzchen, wo wir ungestört unseren Kuchen verdrücken können«, sagte Claire und lief aus dem Saal, dicht gefolgt von Linda und Jim.

Percy und John konnten den dreien kaum folgen. Eine Weile gelang es den beiden noch, ihren polternden Schritten hinterherzugehen, doch plötzlich blieb John stehen und sagte mit unsicherer Stimme: »Ich fürchte, wir haben sie verloren. «

»Aber sie müssen doch dahinten um die Ecke gebogen sein«, meinte Percy und deutete auf das Ende des Flurs. Dann erkannte er, dass das nicht möglich war. Dort, wo er gerade noch glaubte, einen Durchgang gesehen zu haben, befand sich nun ein großes Fenster mit schweren dunkelroten Vorhängen an den Seiten.

»Wir sind im Ostflügel«, sagte John mit dünner Stimme, und die Kuchengabel auf seinem Teller begann, leise zu klappern.

»Ist das schlimm?«, erkundigte sich Percy so beiläufig wie möglich.

»Das weiß ich auch nicht genau. Aber es soll dort unheimlich sein …« John öffnete rechts von dem Fenster eine Tür. Dahinter führte eine Treppe steil nach oben in die Finsternis. »Ich glaube, Claire und Linda sind hier entlanggegangen. Da liegen Kuchenkrümel auf der Treppe.«

Percy nickte und gab sich einen Ruck.

»Also los«, sagte er aufmunternd und setzte einen Fuß auf die erste Stufe, während er mit der Hand nach einem Lichtschalter tastete. »Komisch, dass die beiden im Dunkeln nach oben gerannt sind.«

»Die kennen sich hier aus.« Johns Kuchengabel klapperte immer noch. »Ich nehme an, sie sind die Einzigen, die öfter hierherkommen. Nicht einmal Cyril und Jason trauen sich in die Jagdzimmer, obwohl sie ja immer so mutig tun mit ihren Gewehren.«

»Die Jagdzimmer?«, wiederholte Percy. Er stieg zögerlich ein paar weitere Stufen nach oben.

»Ja, die Jagdzimmer«, bestätigte John. »Ich war erst einmal dort. Irgendwie ist es da … ich weiß auch nicht, seltsam …«

Vorsichtig erklommen die beiden Jungen die schmale knarrende Treppe, die immer enger wurde, je höher sie kamen. Schließlich mussten sie sogar hintereinandergehen. Percy glaubte fast, die Dunkelheit um ihn herum riechen und auf der Zunge schmecken zu können. Er musste seinen ganzen Mut aufbringen, um einen Fuß vor den anderen zu setzen.

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»Kommt ihr mal langsam?«, rief Linda ihnen von oben entgegen. »Wir essen unseren Christmas-Pudding sonst ohne euch auf. Jim stirbt vor Hunger!«

Percy räusperte sich verlegen. Er kam sich wie ein Angsthase vor und nahm nun mehrere Stufen auf einmal, um schnell zu den anderen zu gelangen. Am Ende der Treppe steuerten er und John auf eine geöffnete Tür zu, durch die Linda gerade verschwunden war. Als sie das Zimmer dahinter betraten, wurde Percy sofort klar, was John mit seltsam gemeint hatte. Noch nie im Leben hatte er so viele ausgestopfte Tiere in einem Raum versammelt gesehen, nicht einmal im Naturkundemuseum von London. Es gab Dachse, Wildschweine, Hasen, Rebhühner, Fasane, Füchse, Igel, Hirsche, Rehe und sogar einen riesigen ausgestopften Büffel, dessen Augen im Kerzenlicht funkelten, als wäre er lebendig. Die vielen Tiere hätten schon gereicht, um dem Raum eine sehr eigentümliche Note zu geben, doch seine geheimnisvolle und gruselige Stimmung verlieh ihm vor allem ein großer Baldachin, dessen lilafarbener Stoff von einem Kranz in der Deckenmitte über alle vier Wände des Zimmers gespannt war. Percy kam sich vor wie in einem ungeheuer großen Zelt.

»Ui, ist das kalt hier«, sagte John.

»Wir wär’s dann, wenn du mir beim Feuermachen hilfst?«, erwiderte Linda, die vor dem Kamin kniete.

Während die beiden mit Streichhölzern und Zunder hantierten, hielten Percy und Claire das einzige lebendige Tier im Raum davon ab, den Christmas-Pudding aufzuessen.

Jim bellte vorwurfsvoll, aber Claire blieb hart. »Du bekommst erst etwas, wenn wir alle am Tisch sitzen.«

Lange brauchte sich der Hund allerdings nicht mehr zu gedulden. John war erstaunlich gut darin, ein Feuer zu entfachen, vielleicht weil er befürchtete, dass sein Christmas- Pudding sonst doch noch in Jims Magen landen könnte. Als schließlich alle mit ihren Kuchentellern um den kleinen Teetisch herumsaßen, verstand Percy, warum die Darkmoors so ein Theater um den Weihnachtsnachtisch machten. Für einen Moment vergaß er alles, was ihn bedrückte. Er hatte das Gefühl, dass jede Rosine, Mandel oder kandierte Kirsche in Brendas Christmas-Pudding ein kleines Feuerwerk in seinem Mund veranstaltete und dass die Aromen der Gewürznelken, des Zimts und der Orangen bald nicht nur seinen Mund, sondern seinen ganzen Körper ausfüllten.

Als sie mit Essen fertig waren, schlug John vor, Murmeln zu spielen, Linda wollte eine Expedition in die Tiefen des Ostflügels veranstalten, und Claire meinte, ein merkwürdiges Geräusch im Garten gehört zu haben. Die drei redeten eine Weile wild durcheinander, dann lief Claire zum Fenster, John holte trotzig seine Murmeln aus der Tasche und Linda ging zu einer Tür neben dem Kamin.

Plötzlich gab Claire ein bedeutsames Zischen von sich und winkte die anderen zu sich heran. »Kommt her! Da passiert etwas vor dem Schloss!«

John stand schwerfällig auf, während Linda und Percy so schnell wie möglich zum Fenster liefen.

»Los, los, du Dickmops«, drängte Claire. »Wir müssen den Vorhang hinter uns zuziehen, sonst bemerkt man uns von draußen.«

Nun war auch John neugierig geworden und drängelte sich ohne eine Beschwerde über den »Dickmops« zu den anderen vor die Scheibe. Dann schloss Claire den Vorhang hinter ihnen.

»Man erkennt ja gar nichts«, nörgelte John, aber Claire stieß ihm den Ellenbogen in die Seite.

»Hättet ihr nicht so getrödelt, hättet ihr gesehen, was ich meine.« Sie drückte ihre Nase an der Fensterscheibe platt. »Irgendetwas geht da unten vor sich.«

»Was meinst du denn mit irgendetwas?«, wollte Linda wissen.

Jim bellte aufgeregt, weil er auch zum Fenster hinausschauen wollte. Er wedelte fröhlich mit dem Schwanz und stemmte seine Vorderpfoten auf die Fensterbank.

»Da war ein Schatten, der sich bewegt hat«, antwortete Claire leise, während sie in die Dunkelheit spähte.

»Da draußen sind jede Menge Schatten«, bemerkte John.

»Wir müssen kurz die Augen schließen.« Percy strich sich nervös durch seine Locken und kratzte sich an der Stirn. Irgendwie war er überzeugt, dass Claire tatsächlich etwas Beunruhigendes entdeckt hatte. »Wenn wir sie dann wieder öffnen, haben sich unsere Pupillen an die Dunkelheit gewöhnt, und wir können viel besser sehen.«

»Schlaues Kerlchen«, sagte Claire und folgte seinem Vorschlag.

»Das macht der Held in dem Roman so, den ich gerade lese«, erklärte Percy. »Das Buch heißt Der unheimliche Abt und der Held befindet sich in einem Kellergewölbe mit einem Sarg. Also, er glaubt, dass es ein Sarg ist, aber dann stellt sich heraus, dass es eine Eiser…«

»Schon gut«, unterbrach ihn Claire. »Können wir die Augen jetzt wieder aufmachen?«

»Ich glaube, schon.« Percy blickte erneut aus dem Fenster und tatsächlich waren die steinernen Löwen und die Hecken nun viel besser zu erkennen.

»Es war dahinten«, sagte Claire. »Bei der Zugbrücke.«

»Stimmt, da kauert irgendetwas«, meinte Linda. Jim begann, leise zu knurren, obwohl er bei geschlossenem Fenster unmöglich eine Witterung aufnehmen konnte.

»Meine Güte!«, entfuhr es John. Der kauernde Schatten war auf einmal aufgesprungen und ins Torhaus gelaufen!

»Das muss der elende Spion der McMurdochs sein, der das Rezept von unserer Worcestershire-Sauce klauen will!«, rief Claire aufgeregt. »Los, den schnappen wir uns!«

Jim bellte ein paarmal und schien sich sehr darüber zu freuen, dass etwas Aufregendes passierte. Ganz im Gegensatz zu John. »Ich mache da nicht mit«, weigerte er sich. »Als wir letzte Woche auf eigene Faust Brendas Mörder schnappen wollten, ist Percy fast im Moor versunken und dann … He, jetzt wartet auf mich! Ihr könnt mich doch nicht allein zurücklassen!«

»Wenn wir uns nicht beeilen, entwischt er uns!«, schrie Claire und stürmte die Treppe hinunter. »Kommt, wir nehmen den Seitenausgang«, entschied sie, als sie unten angekommen waren, und öffnete ein Fenster, das sich als eine Art Balkontür entpuppte. Dahinter befand sich ein schmaler Vorsprung, von dem aus eine steile Wendeltreppe ins Erdgeschoss führte. Der Wind pfiff so kalt zu ihnen herein, dass sogar Claire kurz innehielt.

»Ihr braucht gar nichts zu sagen«, meinte sie gereizt, als sie in die Gesichter ihrer Freunde blickte. »Wo kriegen wir in den nächsten fünf Sekunden Mäntel her?«

Linda schnipste mit den Fingern. »Warum hab ich nicht gleich daran gedacht!« Sofort sauste sie die Treppe wieder nach oben und kam wenig später mit vier dicken Wachsjacken zurück.

»Ich habe Jasper letzten Monat dabei beobachtet, wie er mehrere Wäschekörbe voller alter Klamotten hierhergebracht hat«, erklärte sie. »Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie wichtig es ist, anderen hinterherzuspionieren«, fügte sie augenzwinkernd hinzu und folgte ihrer Schwester nach draußen.

Auf dem Balkon stellte Percy fest, dass Johns Einwände gar nicht so falsch gewesen waren.

»Wie sollen wir denn da runterkommen?«, fragte er zweifelnd und schaute die steile vereiste Treppe hinab, deren Stufen kaum noch zu erkennen waren. Sie sah aus wie eine Bobbahn.

»Auf dem Hosenboden«, sagte Claire knapp. Ohne lange zu zögern, ließ sie sich fallen und verschwand in der Dunkelheit. Linda pfiff anerkennend durch die Zähne und sauste, so schnell sie konnte, hinterher. Percy seufzte. Er nahm Jim auf den Arm, warf John einen vielsagenden Blick zu und rutschte ebenfalls die vereiste Treppe hinunter.

Der erste Teil der Strecke war gar nicht so schlimm, aber dann sah Percy, dass das Geländer auf der rechten Seite beängstigend große Lücken aufwies, durch die man ein Stockwerk in die Tiefe stürzen konnte. Inzwischen hatte er so ein Tempo erreicht, dass an Bremsen gar nicht mehr zu denken war. Er wollte John gerade »Pass auf!« zurufen, als er gegen die bröckelige Balustrade prallte, von der sich ein weiteres Stück löste und abbrach. Hinter sich hörte er einen entsetzten Schrei und sah aus dem Augenwinkel, wie John durch die Lücke zischte. Er ruderte wild mit den Armen in der Luft herum, als ob er glaubte, sich so vor dem Absturz retten zu können. Aber Percy hatte keine Zeit, sich weiter um John zu sorgen, denn gleich darauf schlitterte er in eine riesige Schneewehe hinein.

»Pssst!«, machte Claire, nachdem Percy sich ächzend und stöhnend daraus hervorgekämpft hatte. »Für eine Geheimmission sind wir viel zu laut. Vor allem John.«

»Er ist abgestürzt«, erklärte Percy hastig.

Sie rannten um einen Mauervorsprung herum und erreichten eine schmale Terrasse. Dort war Linda gerade dabei, John aus einem verschneiten Bäumchen zu befreien. Er war zwar zerzaust und von oben bis unten mit Schnee paniert, aber zum Glück hatte er sich nicht verletzt.

»Großartig«, grummelte er vor sich hin und stapfte hinter seinen Freunden her.

Gemeinsam marschierten sie Richtung Torhaus. Je weiter sie sich vom Schloss entfernten, desto finsterer wurde es. Claire setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen und schaute sich immer wieder nach allen Seiten um. Als John plötzlich einen erstaunten Laut von sich gab, zuckte sie zusammen.

»Musst du uns so erschrecken!«, ärgerte sie sich.

»Schaut doch mal, dort!«, flüsterte John und zeigte auf eine Spur, die sich etwa drei Meter von ihnen entfernt am Rand der Balustrade entlangschlängelte.

»Fußabdrücke«, sagte Linda.

»Und noch ganz frisch«, stellte Percy fest, denn es hatte gerade erst aufgehört zu schneien.

»Wir sind auf der richtigen Fährte«, wisperte Claire aufgeregt. »Das kann nur der Spion gewesen sein. Wer sonst sollte sich am Weihnachtsabend heimlich aus dem Schloss schleichen?«

Percy räusperte sich nervös. »Was machen wir, wenn er uns angreift?«

Claire und Linda sahen ihn mit großen Augen an, während John versuchte, in seinem Mantel zu versinken und sich unsichtbar zu machen. Für einen sehr kurzen Moment hatte Percy den Eindruck, als würden die Zwillinge tatsächlich überlegen, ins Schloss zurückzukehren, um Hilfe zu holen, aber dann zuckten sie nur mit den Schultern.

»Wir haben doch Jim dabei«, sagte Linda und lief ihrer Schwester hinterher, die in leicht gebückter Haltung der Fußspur folgte.

»Es wäre viel vernünftiger, einen Abdruck von der Spur zu machen«, sagte Percy zu John, der heftig nickte.

»Aber womit?«

»Percy begann, in den Jackentaschen zu kramen, obwohl ihm natürlich klar war, dass sich dort ganz bestimmt nicht zufällig etwas Gips befinden würde. John machte es ihm nach, konnte aber außer einem geblümten Taschentuch nichts beisteuern. Auch Percys Taschen waren leer, bis auf … Verwundert zog er einen kleinen Zettel hervor. Es war kein normales Papier, sondern ein besonders schweres, edles Material, und als Percy es berührte, fing seine Hand merkwürdig zu kribbeln an.

Schon wieder!, dachte er erschrocken. Das Kribbeln breitete sich wie ein Fieber in seinem ganzen Körper aus. Es war, als würde es von ihm Besitz ergreifen.

»Alles in Ordnung?«, fragte John.

Rasch stopfte Percy den Zettel zurück in die Tasche, ohne sich die merkwürdigen Zeichen darauf genauer anzuschauen. Er wollte gerade etwas sagen, da drang plötzlich Jims wütendes Bellen vom Torhaus zu ihnen herüber. Percy und John hörten einen erstickten Schrei. Es klang, als würde jemandem gewaltsam der Mund zugehalten.

Percy zögerte keine Sekunde und rannte los. Das merkwürdige Kribbeln war noch stärker geworden, und er hatte auf einmal das unbestimmte Gefühl, von einer fremden Macht gesteuert zu werden. Als er das Torhaus erreichte, wusste er sofort, was sich dort ereignet hatte. Jim knurrte und bellte die schwere hölzerne Eingangstür an, die einen Spaltbreit offen stand. Davor war der Schnee niedergetrampelt und verwischt. Claire und Linda mussten dem Spion in die Hände gefallen sein! Er hatte ihnen hinter der Tür aufgelauert und die beiden Mädchen dann hineingezogen. Ohne lange zu überlegen, stürmte Percy hinterher. Jim heftete sich an die Fersen seines Herrchens.

Im Inneren des Torhauses roch es muffig und feucht. Außerdem war es stockfinster.

»Eine Waffe«, hörte Percy eine unbekannte Stimme in seinem Kopf sagen. »Der Lichtschalter!« Die Stimme schien in eine bestimmte Richtung zu weisen. Percys Arm fuhr nach oben und seine Hand traf direkt auf einen Drehschalter neben der Eingangstür. Für einen kurzen Augenblick leuchtete die alte Glühlampe an der Decke auf, dann explodierte sie mit einem dumpfen Knall.

»Egal. Du hast genug gesehen«, sagte die Stimme. »Die Golfschläger vor dem Schrank. Dann die Treppe hinauf.«

Obwohl es in dem Raum inzwischen wieder dunkel war, ging Percy zielsicher auf den großen Schrank an der Wand zu. Daneben befand sich ein kleinerer Schatten. Die Golftasche. Der Junge holte einen Schläger heraus.

»Dreier Eisen. Gute Waffe.« Die Stimme in Percys Kopf hörte sich kühl und erregt zugleich an. Er packte den Schläger am Griff und ließ ihn wie ein Schwert durch die Luft sausen. Dabei traf er den unteren Pfosten des Treppengeländers, der krachend zersplitterte. Percy hätte niemals gedacht, dass solche Kräfte in ihm schlummerten.

»Die Treppe hinauf«, drängte die Stimme wieder.

Percy erklomm die Stufen zum Obergeschoss. Schweißperlen standen auf seiner Stirn.

Draußen riss die Wolkendecke auf und das Mondlicht schien durch die kleinen Fenster herein. Percy konnte eine Art Salon erkennen: alte Polstersessel, ein Teetisch, ein Schrank, weitere Golftaschen. Keine Türen. Der Verräter saß in der Falle.

Percy spürte eine fremde, grimmige Genugtuung in sich aufsteigen. Er ließ den Golfschläger erneut durch die Luft sausen. Er wollte sich nicht anschleichen. Er wollte, dass der Verräter sich in seinem Versteck vor Angst in die Hose machte. Für eine Sekunde hielt Percy inne, weil ihm klar wurde, dass er sich überhaupt nicht mehr wie er selbst verhielt.

»Angst ist eine mächtige Waffe! Der Schrank! Los jetzt!«, trieb ihn die Stimme an.

Percy spannte alle Muskeln in seinem Körper an. Mit drei schnellen Schritten war er beim Schrank. Er riss die Tür auf und holte mit dem Schläger aus.

Der Verräter ist so gut wie erledigt, jubelte Percy innerlich. Gleichzeitig zersplitterte etwas.

Im nächsten Moment begriff er, dass er den Golfschläger in ein Regalbrett geprügelt hatte. Dann bekam er von hinten einen Stoß und fiel kopfüber in den Kleiderschrank, aus dessen oberen Fächern etwas auf ihn zugesegelt kam, das sich im Flug öffnete und in viele kleine Einzelteile zerbarst. Sie regneten auf ihn herab wie eine Steinlawine. Schützend hielt er sich die Hände vors Gesicht. Die Stimme und das Kribbeln waren verschwunden. Er fühlte sich wieder so, wie er sich immer fühlte, wenn er in einer misslichen Lage war: ängstlich und verwirrt. Nun war es kalter Angstschweiß, der seine Stirn bedeckte.

Als er die Hände wieder von den Augen nahm, blickte er in den Lauf einer Pistole. Und in das Gesicht eines Monsters, das ihn mit funkelnden Augen anstarrte.

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Percy war vor Schreck wie gelähmt. Er konnte nicht einmal den Mund zu einem Schrei öffnen. Nur seine Augen wurden immer größer, während die monströse Gestalt näher und näher kam.

»Darf ich bekannt machen«, sagte Claire, die plötzlich neben dem Monster aufgetaucht war und eine Gaslampe anzündete. »Das ist mein Cousin Percy, dessen Eltern verschwunden sind. Und das hier«, sie deutete auf den Mann mit den funkelnden Augen und der furchtbaren Fratze, »ist unser Detektiv aus Los Angeles, Jaspers Schwager Samuel Jackberry – oder kurz Sam.«

Sie hielt die Lampe stolz in die Höhe, so als hätte sie Sam eigenhändig in Amerika aufgespürt und nach Darkmoor Hall gebracht.

Percy war immer noch sprachlos. Das Gesicht von Jaspers Schwager sah aus wie das eines Dämons. Die Haut war von tiefen Furchen durchzogen, das eine Auge schien nach unten verrutscht zu sein, und auch der Mund saß nicht dort, wo er normalerweise sein sollte.

»Du brauchst nicht so dumm aus der Wäsche zu schauen«, sagte Claire. »Sam hatte mal einen Unfall in einem brennenden Haus. Deswegen sieht sein Gesicht so, äh, komisch aus. Das hat er uns gerade erzählt.«

»Jetzt halt mal einen Moment die Luft an, Engelchen«, sagte Sam und schob mit der Revolvermündung seinen Hut ein Stück zurück. Percy fiel auf, dass er eine ähnlich hohe Stirn hatte wie Jasper.

»Das mit dem Unfall ist allerdings richtig«, fuhr Sam fort. »Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, Percy, jedenfalls nicht vor meiner Visage. Aber jetzt haben wir Wichtigeres zu besprechen.«

Percy nickte. Sams tiefe Stimme hatte eine beruhigende Wirkung auf ihn und gab ihm das Gefühl, in guten Händen zu sein. Und nach dem seltsamen Vorfall mit der Stimme in seinem Kopf konnte Percy einen ruhigen, besonnenen Erwachsenen, der ihn wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholte, gut gebrauchen. Noch etwas benommen ließ er sich aus dem Kleiderschrank helfen und versuchte, sich darüber klar zu werden, was gerade mit ihm geschehen war. In seinem Kopf drehte sich alles, und wenn Sam ihn nicht gestützt hätte, wäre er hingefallen.

»Wie viele sind in eurer Wachmannschaft?«, fragte Sam. Er ließ ein schiefes Grinsen erkennen.

»Unser Cousin John fehlt noch«, sagte Claire.

»Und da kommt Percys Hund«, ergänzte Linda und deutete auf Jim, der soeben die letzten Treppenstufen erklommen hatte.

»Scheint nicht gerade eine Kampfmaschine zu sein«, bemerkte Sam.

Jim blickte einige Sekunden skeptisch in die Runde, doch schließlich schüttelte er sich den Schnee aus dem Fell, setzte sich neben Percy und schaute Sam mit seinen großen, treuen Labradoraugen an. Er erwartete offenbar eine Belohnung. Und tatsächlich zog der Detektiv einen kleinen Knochen aus der Tasche seines Trenchcoats hervor und gab ihn dem Hund.

»Gehört neben Schießeisen und Dietrich zur Grundausstattung eines echten Detektivs«, erklärte er den Kindern.

»Was ist denn hier los?«, fragte eine verzagte Stimme hinter ihnen. John war auf der Treppe erschienen und kramte in seiner Hosentasche nervös nach einem Karamellbonbon.

»Alles in Butter«, sagte Claire und machte dabei den amerikanischen Akzent von Sam nach, indem sie das R besonders tief und rollend aussprach. »Percy wollte unserem Detektiv gerade den Schädel einschlagen, aber wir konnten zum Glück Schlimmeres verhindern.«

»Ich … wir haben einen Schrei gehört und da dachte ich … ich meine, wir …«, stotterte Percy, aber Sam unterbrach ihn.

»Schon gut, Kumpel, war nicht deine Schuld. Ihr habt euch alle mächtig ins Zeug gelegt, aber leider hat sich unser Mann in der Zwischenzeit verdünnisiert.«

»Welcher Mann?«, fragte John.

»Der Verräter«, sagten Claire und Linda. »Der Spion, der das Rezept für unsere Worcestershire-Sauce klauen will.«

»So, Kinder, jetzt setzt euch und schaltet mal einen Gang runter, okay?« Sam bugsierte die vier zu einem Plüschsofa und drückte sie in die weiche Sitzfläche. Dann ließ er sich auf der Tischkante nieder, holte ein kleines silbernes Etui aus seiner Manteltasche und steckte sich eine Zigarette in den Mund. Seelenruhig ließ er ein Benzinfeuerzeug aufflammen, zündete sich die Zigarette an und zog ein paarmal daran. Im Nu breitete sich dichter Qualm in dem kleinen Zimmer aus und sorgte dafür, dass Percys Augen zu tränen begannen. Er hatte das Gefühl, dass sich seine Lunge mit einem ganzen Schwarm beißender Insekten gefüllt hatte.

John schien es nicht anders zu gehen. Er bemühte sich krampfhaft, nicht zu husten. Nur Claire und Linda atmeten den beißenden Rauch tapfer ein und kniffen dabei wie Sam die Augen zusammen.

Der Detektiv sah sie eine Weile eindringlich an, dann sagte er mit ernster Stimme: »Mein Schwager Jasper und Lord Darkmoor haben mir vor meinem Abflug nach London telefonisch berichtet, was hier vor sich geht. Eins könnt ihr mir glauben, Kinder, mit üblen Situationen kenne ich mich gut aus, und ich sage euch, hier ist es zurzeit gefährlicher als auf einem Schießstand der Army. Mit diesem Dr. Uide ist nicht gut Kirschen essen und eure Nachbarn und Konkurrenten, die McMurdochs, sind ebenfalls nicht aus Pappe. Das Gleiche gilt für denjenigen aus eurem Haus, der für die McMurdochs das Geheimrezept für Aunt Annie’s Worcestershire-Sauce ausspionieren soll.«

Sam machte eine Pause und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. »Mit eurem Versuch, den Spion auf eigene Faust zu schnappen, habt ihr euch unnötig in Gefahr gebracht«, fuhr er fort. »Was glaubt ihr, was passiert wäre, wenn nicht ich euch im Torhaus in Empfang genommen hätte, sondern einer von Dr. Uides Leuten oder der Spion? Es gibt Menschen, die können sehr ungemütlich werden, wenn man ihnen in die Quere kommt, das könnt ihr mir glauben. Mit Golfschlägern und einem Schoßhündchen kommt man da nicht weit.«

Percy und Jim schauten schuldbewusst zu Boden.

»Was hat denn dieser komische Dr. Uide für Leute?«, wollte Linda wissen.

Sam blies ihr etwas Rauch ins Gesicht und sie bekam einen heftigen Hustenanfall.

»Im Augenblick muss dir als Antwort genügen, dass es einige zwielichtige Gestalten gibt, die für ihn arbeiten. Höchstwahrscheinlich gefährliche Leute, da sind sich dein Vater und ich einig.«

»Unsere Cousins Cyril und Jason machen auch Geschäfte mit ihm«, fiel Claire ihm aufgeregt ins Wort. »Sie wollten den armen Jim an ihn verkaufen.«

»Mit solchem Blödsinn sollten sie schleunigst aufhören, wenn ihnen ihr Leben lieb ist.« Sam drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und holte gleich eine neue aus dem Etui.

»Aber finden Sie das denn nicht verdächtig?«

»Die beiden wissen nicht, wer Dr. Uide wirklich ist«, sagte Sam.

»Und wer ist Dr. Uide wirklich?«, fragte Percy.

»Vermutlich hat der Halunke euren Onkel Allan auf dem Gewissen. Und ist für das Verschwinden deiner Eltern verantwortlich, Kumpel.« Sam ließ wieder sein Benzinfeuerzeug aufflammen.

»Sie denken also auch, dass sie entführt worden sind?«

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass deine Eltern freiwillig einen Prachtkerl wie dich in diesem vermoderten alten Kasten zurückgelassen hätten, oder?«

»Unser Schloss ist nicht vermodert«, sagte Claire.

»’tschuldigung, Schätzchen, aber wenn man aus Kalifornien kommt, hat man nicht gerade den Eindruck, dass man hier in einer Neubausiedlung gelandet ist. Aber genug jetzt. Ich bin hergekommen, um Percys Eltern zu finden, Dr. Uide das Handwerk zu legen und den Spion zu enttarnen, und dabei brauche ich keine Truppe von Hilfssheriffs, auch wenn es kleine schlaue Engländer sind, die ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten stecken und keine fünf Minuten still sitzen können.« Er blickte John scharf an, der damit begonnen hatte, nervös auf dem Sofa hin und her zu rutschen. Der Junge wollte etwas sagen, aber Sam kam ihm zuvor.

»So, Kinder, war nett, mit euch zu plaudern. Ich bin mir sicher, dass ihr die schlagkräftigste Truppe seid, die Queen Lizzy in ihrem Königreich hat, aber jetzt geht ihr schön brav in eure Zimmer zurück und wartet auf den Weihnachtsmann. Das Gleiche macht wahrscheinlich auch gerade der Spion, den ihr durch euren effektvollen Auftritt verjagt habt. Ich werde mich hier noch ein bisschen nach Spuren umsehen. Zum Glück hat Percy ja nicht alles kurz und klein geschlagen.«

Er erhob sich, klemmte sich seine Zigarette in den Mundwinkel und machte den Kindern ein Zeichen aufzustehen. John schnellte in die Höhe und lief schnurstracks die Treppe hinunter. Percy taumelte hinterher, dicht gefolgt von Jim. Die Zwillinge hatten es nicht ganz so eilig, schienen aber auch froh zu sein, wieder an die frische Luft zu kommen.

Gemeinsam gingen die vier Freunde und Jim zum Schloss zurück. Sie steuerten auf eine kleine Tür zu, die sich am Fuß eines der unzähligen Türmchen von Darkmoor Hall befand.

»Komm, Jim«, sagte Percy hustend. Obschon ihm von dem beißenden Zigarettenrauch immer noch etwas schwindelig war, musste er beim Gedanken daran, dass Samuel Jackberry sich nun um den Fall kümmerte, grinsen. Der amerikanische Detektiv war das genaue Gegenteil von diesem idiotischen Schauspieler, der sich als Mumie verkleidet hatte. Bestimmt würde er seine Eltern zurückbringen.