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Wie ein Geschöpf aus dem Meer taucht Gordian eines Tages vor Elodie auf. Geheimnisvoll. Magisch. Betörend. Seitdem kann sie nicht aufhören, an ihn zu denken, an seinen türkisgrünen Blick, seine Hände, die sie neugierig berühren. Und sie beginnt zu ahnen, welche Geheimnisse der Ozean tatsächlich verbirgt und wie sehr ihr eigenes Schicksal mit den dunklen Legenden der Kanalinseln verknüpft ist.
Eine berauschende Liebessaga vor der atemberaubenden Küste Guernseys - Auftakt einer mitreißenden Meerestrilogie

ISBN eBook: 978-3-649-67068-1

© 2016 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,

Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Text: Antoinette Lühmann

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Lektorat: Kristin Overmeier

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ISBN Buchausgabe (Hardcover): 978-3-649-66684-4

1. KAPITEL

Es waren nur noch wenige Stunden bis zum Tagesanbruch. Die Straßen, die sich zu den Füßen des Hügels zwischen den Häusern hindurchschlängelten, lagen dunkel und verlassen da. Nur ein schmaler orangefarbener Streifen am Himmel kündigte über den Dächern im Osten den neuen Tag an.

Fynn streifte schon seit Stunden durch die Gänge und Hallen der Zitadelle. Immer wieder horchte er auf, doch bisher hatte er noch keines der seltsamen Geräusche gehört, die ihn nachts manchmal aus dem Schlaf rissen. Es klang wie das entfernte Kreischen und Brüllen wilder Tiere, doch am Morgen war er sich nicht mehr sicher, ob er vielleicht doch nur geträumt hatte.

In der Ferne schlug eine Uhr und Fynn setzte seinen Weg fort. Doch seine hastigen Schritte klangen zu laut auf den ausgetretenen Steinen und der Hall wurde zwischen den schwarzen Mauersteinen der Wände und der gewölbten Decke hin- und hergeworfen. Er musste vorsichtiger sein. Wenn man ihn hier entdeckte, würde ihn auch seine Uniform nicht retten können. Der Zutritt zum Südturm war den Soldaten und Wächtern verboten. Schon seit Wochen erkundete Fynn nachts die Gänge und war mehrmals nur durch die spärliche Beleuchtung und einen Sprung in eine Mauerecke der Entdeckung ausgewichen. Vor einigen Tagen hatte er endlich diesen unbewachten Kellergang gefunden und wusste, dass er sich seinem Ziel näherte.

Doch kurz vor der nächsten Ecke fiel plötzlich helles Licht in den Gang und Fynn drückte sich an die Wand. Ganz in der Nähe musste ein magisches Licht brennen, denn der graue Steinboden war gleichmäßig ausgeleuchtet und außer dem typischen Flackern fehlte auch der durchdringende Geruch der alten Kerzen. Wer benutzte die kostbaren Lichter an diesem verlassenen Ort? Fynn hielt den Atem an und schob seinen Kopf langsam vor, um in den Gang zu spähen. An seinem Ende lag die Tür zum Südturm. Die Jårlys brannten in einem Glas, das mit einem breiten Metallstreifen an die Wand geschraubt worden war. Niemand war zu sehen. Der Weg in den Turm war frei, und die Gelegenheit lag vor ihm, endlich das zu finden, wonach er seit Jahren suchte.

Langsam trat Fynn in den Gang, doch als er eine Bewegung wahrnahm, zog er sich hastig zurück. War jemand hier unten oder hatte nur ein Luftzug an dem zerfransten Wandteppich gezerrt? Er zwang sich, ruhig ein- und auszuatmen, und versuchte, trotz seines lauten Herzschlages auf die Geräusche zu achten. Waren das Schritte vor ihm? Der Schein des Lichts verblasste, eine Tür quietschte und Fynn stand in der Dunkelheit. In Gedanken zählte er bis siebzig, bevor er sich wieder vorwagte.

Er zog ein Glas mit einem Schraubverschluss aus seiner Tasche. Drei daumengroße Wesen saßen auf dem Boden und hielten einander an den Händen. Als Fynn das Gefäß schüttelte, purzelten die drei durcheinander und begannen vor lauter Wut, die Fäuste zu ballen und am ganzen Körper zu zittern. Zufrieden beobachtete Fynn, wie ihre Körper und die dünnen ledrigen Flügel zu glühen begannen. Er hob das Glas wie eine Fackel in die Höhe und tastete sich langsam in den Gang hinein. Der grünliche Schein breitete sich immer stärker vor ihm aus, und in seinem Licht betrachtete Fynn den Wandteppich, der am unteren Rand nur aus einigen herabhängenden Fäden bestand. Er streckte die Hand danach aus, schob ihn zur Seite und staunte, als er sah, was sich dahinter verbarg: ein geheimer Durchgang.

Fynn lauschte einen Augenblick, aber alles blieb still. Dann betrat er das verborgene Gewölbe. Der Schein seines magischen Lichtes erhellte einen Raum, in dem ein Tisch und zwei Stühle in der Ecke standen. Doch was Fynn an den Wänden entdeckte, ließ ihm den Atem stocken.

Tausende von Namen und Linien zierten die geweißten Mauern und verwandelten sie in einen gewaltigen Stammbaum, der vom Fußboden bis an die Decke reichte. Jedes Dorf und jede Stadt waren erfasst und ihre Bewohner aufgelistet. Jemand in der Zitadelle hatte einen enormen Aufwand betrieben, um all die Verbindungen zu recherchieren und hier zu sammeln. Es musste Jahre gedauert haben! Ob der alte König davon gewusst hatte? Oder ließ sein Sohn Børge das Volk ausspionieren?

Fynn schritt durch den Raum. Manche Stammbäume führten zu fremden Schriftzeichen, die unter der Decke notiert waren. Es mussten alte Runen sein, die Fynn jedoch nicht lesen konnte.

An der Wand hatte jemand an einigen Stellen mit kleinen Kugeln aus Baumharz Zettel neben die Namen geklebt. Unterhalb seines Knies häuften sich die Anmerkungen, und Fynn hockte sich hin, um eine zu entziffern. »Familie Kjeldsen hat im Winter den Limfjord überquert und ist Richtung Westen gewandert.« In der Nähe des Fußbodens wurden die Worte immer kleiner, als hätte jemand zu Beginn seiner Aufgabe nicht damit gerechnet, wie viel es für ihn zu ermitteln gab. Fynn kniete sich auf die Steine und beugte sich zu den winzigen Buchstaben hinunter. »Die Bjerres sind alle bei einem Grubenunglück umgekommen. Es sah für die Nachbarn wie ein Unfall aus.«

Fynn stellte das Lichtglas ab und wischte sich mit dem Ärmel seiner Uniform über die Stirn. Angesichts dieser ungeheuren Zahl von Namen und Schicksalen war ihm kalter Schweiß ausgebrochen. Zwischen all den Namen war sicher auch der, von dem er jede Nacht träumte. Er war auf dem richtigen Weg! Fynn atmete tief durch und machte sich auf die Suche.

Nachdem er die Namen und Notizen eine Weile betrachtet hatte, stellte er etwas Sonderbares fest. Die Einträge waren nicht nach den Dörfern und Städten von Himmerland geordnet. Auf jeder Wand prangte eine andere Rune, um die sich alles drängte. Und diese Zeichen erkannte er, da sie auch in die weißen Mauern der großen Halle gemeißelt waren. Sie bedeuteten nicht einzelne Buchstaben, sondern ganze Wörter: Erde, Feuer, Wasser und Luft. Auch ein fünftes Wort tauchte immer wieder auf: Ousía. Obwohl es in den vertrauten Schriftzeichen von Himmerland geschrieben war, ergab es keinen Sinn. Es tauchte an den unterschiedlichsten Stellen auf. Nach einer Stunde schwirrte ihm der Kopf, doch seinem Ziel war er kein Stück näher gekommen. Die Müdigkeit legte sich schwer auf seine Sinne, und trotzdem konnte er nicht aufhören, nach dem einen Namen zu suchen. Einen Schritt würde er noch weitergehen, und wenn er ihn dann nicht gefunden hatte, in der nächsten Nacht wiederkommen. Aber dann konnte er doch nicht aufhören, ging noch einen Schritt und dann noch einen. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen und die Müdigkeit ließ ihn taumeln. Versehentlich stieß er gegen einen der Papierstapel, die am Fuß der Wände aufgetürmt lagen. Die obersten Blätter segelten durch die Luft. Fynn ließ sich auf die Knie fallen und raffte die Papiere zusammen. Als er sie wieder ordentlich auf den Stapel legte, um die Spuren seiner Anwesenheit zu verwischen, fiel sein Blick auf die Zeichnung eines Mädchens. Sie hatte langes dunkles Haar und ein blasses Gesicht. Eigentlich war sie ein ausgesprochen hübsches Mädchen, aber ihre Augen waren ungewöhnlich groß und schienen ihn von dem Papier direkt anzustarren. Fynns Hände fühlten sich auf einmal kalt und steif an und er ließ die Zeichnung zurück auf den Stapel fallen. Der Blick des Mädchens war unheimlicher als all die Namen und Orte, die er hier gefunden hatte.

Fynn wandte sich wieder der Wand und ihren Geheimnissen zu, aber er es war ihm kaum noch möglich, sich auf die kleinen Buchstaben zu konzentrieren. Sie flossen immer schneller zusammen und hinter seiner Stirn machte sich ein dumpfer Schmerz breit. Es war höchste Zeit. Er musste zu den anderen zurück, bevor sie zu ihrer Wache geweckt wurden. Doch Fynn zögerte. Bevor er den Raum verließ, wollte er noch einen letzten Blick auf die Zeichnung werfen. Das Bild ging ihm nicht aus dem Kopf. Er kniete sich neben den Stapel auf den Boden und betrachtete das Gesicht. Sie war nur wenige Jahre jünger als er, doch die Augen waren so groß wie bei einem fünfjährigen Mädchen. Nachdem er sie eine Weile betrachtet hatte, wusste er, was ihn wieder zurück zu der Zeichnung gezogen hatte. Ihr Blick erinnerte ihn an sein eigenes Spiegelbild! Sie sah aus, als versuchte sie mit aller Kraft, etwas zu finden, was sie verloren hatte. Auf seltsame Weise kam ihm dieses Mädchen mit den großen Augen vertraut vor, obwohl er wusste, dass er ihr noch nie im Leben begegnet war. Er fühlte sich zu ihr hingezogen und wollte ihre Geschichte erfahren. Fynn las den Text, der unter der Zeichnung notiert war. Es war der Bericht über ein Mädchen, dessen Eltern und Schwestern taub und stumm geboren waren. Unten auf der Seite stand ihr Name: Charlotte Johansson.

Das einzige Licht, das Charlotte von ihrem Fenster im ersten Stock sehen konnte, brannte hinter den Fenstern der Zitadelle.

Die Festung stand auf einem Hügel am Rande der roten Mauer und ihre Lichter funkelten wie Sterne über den Dächern der Stadt. Der vertraute Anblick beruhigte Charlotte, und sie hörte endlich auf, am ganzen Körper zu zittern. Dunkle Träume hatten sie mal wieder aus dem Schlaf gerissen, und während ihre Schwestern im Schlaf leise seufzten, sah Charlotte zu, wie sich die Sonne hinter den Turmspitzen der Zitadelle hervorschob und den Himmel erklomm. Aber heute konnte sie die düsteren Bilder des Traums nicht so leicht abschütteln. Sie war zitternd aufgewacht, und ihr Nachthemd klebte an ihrem Rücken, denn die Hände, die immer öfter im Traum nach ihr griffen, hatten sich wirklicher angefühlt als je zuvor.

Charlotte zog das schweißnasse Hemd aus, trat an die Wasserschale auf dem Fensterbrett und tauchte ihren Waschlappen hinein. Das kleine Tuch sog sich mit dem kalten Wasser voll, und Charlotte biss die Zähne zusammen, als sie sich damit den Schweiß der Nacht vom Körper wischte. Dann nahm sie das neue Kleid von seinem Bügel und betrachtete es stolz, bevor sie hineinschlüpfte. Ihre Mutter hatte sogar etwas Stoff gekauft, damit sie kleine Taschen auf die Vorderseiten nähen konnte. Dieses hübsche Detail und ein kleiner Kragen würden davon ablenken, dass der größte Teil aus einem alten Mantel der Soldaten stammte, den ihre Mutter auf dem Markt gekauft hatte.

Jemand klopfte an die Tür. Ihre Schwestern hörten das Klopfen nicht und schliefen weiter, aber für sie war es das Zeichen, hinunterzugehen und das Frühstück vorzubereiten. Rasch kämmte Charlotte sich die dunkelbraunen Haare und raffte sie mit einem roten Band zusammen. Dann verließ sie ihr Zimmer.

»Du bist die Schönste hier. Trockne dir die Sommersprossen ab!«, rief ihr der Spiegel zu.

Charlotte drehte sich auf der Treppe noch einmal um. Ihr Vater hatte den Spiegel vor vielen Jahren erworben, als eine Menge magischer Gegenstände in einer Höhle in den Mulbjergen gefunden worden war. Weil seine Scheibe nicht ganz klar war, hatte Emil Johansson ihn zu einem günstigen Preis erstanden. Die Mädchen waren sehr stolz auf ihn gewesen, denn sie konnten sich im Haushalt kaum magische Helfer leisten. Anfangs hatte der Spiegel noch in Reimen gesprochen und allen, die an ihm vorbeiliefen oder vor ihm kurz verweilten, Komplimente gemacht.

Stand eine ihrer Schwestern in seiner Nähe, geriet er in Verzückung, dichtete und besang ihre ebenmäßigen Gesichter und die blonde Haarpracht.

Charlotte hatte ein rundes Gesicht ohne Sommersprossen oder Narben. Doch ihre Augen waren etwas zu groß, und weil sie seltener blinzelte als jeder, den sie kannte, sagte ihre Freundin Maja, sie sähe geheimnisvoll aus. Charlotte selbst fand das nicht. Sie war dankbar für den Tag, an dem die Jungen aufgehört hatten, sie mit einer glupschäugigen Kröte zu vergleichen. Ihre Schwestern Merle und Leni waren dagegen wunderschön und bezaubernd. Auch wenn sich Charlotte manchmal fragte, welcher Vorfahre ihr das schmutzig braune Haar vererbt hatte, gönnte sie den beiden jedes Kompliment, das sie bekamen. Denn sie liebte niemanden auf der Welt so sehr wie die beiden Mädchen, mit denen sie das Zimmer teilte. Genau wie ihre Eltern waren die beiden stumm zur Welt gekommen und hatten gelernt, mit den Händen zu sprechen und mit den Augen zu sehen, was andere sagen wollten. Charlotte betrachtete ihre Hände und die Bilder aus dem unheimlichen Traum drängten sich in ihre Gedanken. In dieser Nacht hatte sie deutlich die Arme gesehen und die Hände gespürt, die nach ihr gegriffen hatten. Die Erinnerung ließ ihr einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Es hatte sich so wirklich angefühlt wie nie zuvor.

»Weiß wie Klee«, murmelte der Spiegel.

Charlotte lachte leise und streckte die Finger nach dem Rahmen aus. Natürlich stand ihr heute ein großer Tag bevor, und es war nicht verwunderlich, wenn sich ihre Sorgen in ihren Träumen spiegelten. Seit Tagen hatte sie Bauchschmerzen, und selbst ihre Nachbarin Jette, die sie immer mit ihren Geschichten ablenken und aufmuntern konnte, war keine große Hilfe gewesen. Die gutmütige alte Frau hatte sich mit Charlottes Eltern über irgendetwas gestritten und war bei ihrem wutentbrannten Abgang im Garten über eine Wurzel gefallen. Nun lag sie mit Schmerzen im Bett und erzählte keine Geschichten mehr von zauberhaften Wesen und mutigen kleinen Mädchen.

Das Holz des Spiegels war geschwungen und mit vielen Schnitzereien verziert. An den Ecken saßen ein Einhorn, eine Nixe und ein Drache. Dazwischen tummelten sich Elfen, Vögel und Echsen. Jette hatte ihr oft von den Zeiten erzählt, als die Menschen und die magischen Wesen noch friedlich zusammenlebten und aus den Bergen Milch und Honig in den Limfjord flossen. Charlotte liebte die Geschichten und fuhr mit dem Zeigefinger über Flügel, Gesichter und Krallen. Ihr Finger roch nach dem alten Holz und war grau von der Farbe, die sich immer mehr abrieb.

Als die Turmuhr vom Marktplatz siebenmal schlug, riss sich Charlotte von dem Anblick der Schnitzereien los und eilte die Treppe hinunter.

Es war ein frischer Morgen im Spätsommer und die Fliesen rund um den Kachelofen waren warm. Charlotte öffnete eine der vielen Klappen des Ofens. Die dicken Holzstücke knisterten und ein rötlicher Schein fiel auf fünf blasse Teigfladen.

Der Duft der backenden Brote schlängelte sich an Charlotte vorbei und füllte in wenigen Augenblicken die ganze Küche.

Sie schloss die Klappe und deckte den runden Tisch. Ein Krug mit frischem Wasser stand auf der Spüle bereit. Nachdem sie die Becher gefüllt hatte, ließ sie sich auf die Knie fallen und öffnete die Tür unter dem Spülbecken. Doch die eisige Wolke, die ihr normalerweise entgegenschlug, blieb aus. Verwundert nahm Charlotte die Schale mit der Butter aus dem Fach und stellte sie auf den Tisch. Das hölzerne Buttermesser, das sie in die Schale legte, versank sofort in der weichen Butter. Seufzend beugte sie sich wieder hinunter und nahm den durchsichtigen Stein vom Boden des Faches. Er war doppelt so groß wie ihre Hand und glatt wie ein Spiegel. Ohne Überraschung stellte Charlotte fest, dass er nicht mehr kalt war. Kältesteine waren in den letzten Monaten immer teurer geworden und ihre Mutter war beim wöchentlichen Einkauf kopfschüttelnd an dem Stand vorbeigegangen. Doch nun war die Magie des Steins verbraucht und kein Ersatz im Haus. Wo war der Aufschwung, den die Minister verzweifelt herbeireden wollten? Charlotte glaubte langsam nicht mehr daran.

Als die anderen die Küche betraten, schloss sie den Schrank und setzte sich an den Tisch.

Charlotte erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem ihre ältere Schwester Merle zum Trivium musste. Sie hatte den ganzen Morgen geweint und dann doch eine Lehrstelle in Aalborg bekommen, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Charlotte würde auch gerne weiter zu Hause wohnen bleiben. Überhaupt sollte am besten alles so bleiben, wie es war. Es gefiel ihr nicht, dass ein fremder Mann heute über den Rest ihres Lebens bestimmte. Wieso wusste er am besten, welche Begabung die Kinder hatten und wo sie eingesetzt werden sollten? Charlotte seufzte. Selbst wenn sie die Möglichkeit hätte, selbst über das Ergebnis des Triviums zu entscheiden, wüsste sie nicht, was sie wählen sollte. Sie hatte keine besondere Gabe und sie wollte einfach weitermachen wie bisher. Sie würde morgens den Tisch für ihre Familie decken, dann mit ihrer Freundin Maja zur Schule gehen und abends bei ihrer

Nachbarin sitzen und Geschichten hören, bis sie selbst alt und grau wurde. Bei der Vorstellung breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Denn tief in ihrem Inneren wusste sie, dass dazwischen noch etwas Aufregendes passieren musste. Aber sie hatte keine Ahnung, was das sein könnte. Ihr Vater zwinkerte ihr zu. Vermutlich dachte er, sie würde sich auf die Feier freuen. Charlotte legte ihr Brot auf den Tisch.

»Kann ich irgendetwas tun?«, fragte sie mit ihren Händen. Ihr Vater schüttelte den Kopf.

»Keiner weiß es vorher?«

Wieder schüttelte er den Kopf. Dann legte er seine Faust auf die Brust und ihre Schwestern drückten sie kurz und heftig an sich. »Ich soll mutig sein«, seufzte Charlotte. »Ich werde es versuchen.«

Als die Uhr achtmal geschlagen hatte, traten sie nacheinander vor die Haustür. Die Klänge der Straße prasselten auf Charlotte ein und sie genoss für einen Moment die Geräusche und Stimmen. Dann ging sie die drei Stufen hinunter und durchquerte mit den anderen den Vorgarten. Charlotte schloss das Gartentor hinter ihnen und drehte sich noch einmal zum Haus um. Es steckte irgendwie zwischen den Nachbarhäusern fest, aber es sah nicht eingequetscht aus. Es strahlte dieselbe gemütliche Enge aus, die auch die Zimmer in seinem Inneren hatten. Wenn das Schicksal es wollte, würde sie in einem anderen Teil der Stadt oder in einem weit entfernten Dorf in die Lehre gehen. Dann würde sie heute Abend zum letzten Mal in ihrem Bett schlafen und morgen das Haus für viele Jahre verlassen. Bei dem Gedanken kam die Angst mit voller Wucht zurück, die sie seit dem Aufwachen so erfolgreich verdrängt hatte. Ihren düsteren Träumen würde sie dann allein begegnen müssen. Wenn sie nachts in schweißnassen Laken aufwachte, weil die Hände sie packten, dann würde sie nicht die leisen Atemgeräusche ihrer Schwestern hören, die sie wieder beruhigten und ihr manchmal zurück in den Schlaf halfen. Der Gedanke lähmte Charlotte, und sie umklammerte das Gartentor mit klammen Fingern, bis ihre kleine Schwester Leni ihre Hand ergriff und sie zu den Menschen auf der Straße zog.

Fynn hatte nicht geschlafen. Er hatte sich kaum von dem Wandgemälde losreißen können und war nur wenige Augenblicke vor dem Weckruf in sein Bett gekrochen. Bis er das fand, was er wissen musste, würde er noch einige Nächte schlaflos in der verborgenen Kammer verbringen müssen.

Als er sich seine Uniform überzog, raschelte es an seiner Brust. Fynn sah über die Schulter, doch niemand achtete auf ihn. Die anderen spritzten an der Waschstelle mit Wasser herum und schlugen mit ihren Nachthemden nach denen, die sich noch unter ihren Kissen vergraben hatten. In den ersten drei Jahren der Ausbildung duldeten die Hauptmänner dieses kindische Verhalten noch, da die meisten Jungen wie Fynn aus den Dörfern in den Bergen kamen und ihre Familien seit dem Tag nach ihrem Trivium nicht mehr gesehen hatten. Aber danach gab es kein Verständnis mehr. In den Schlafkammern nebenan hörten sie stets nur die Schritte der Stiefel, wenn sich die Männer im Flur aufstellten.

Nachdem Fynn die letzten Knöpfe an seiner Uniform geschlossen hatte, folgte er den anderen zur Küche, wo sie ihr Frühstück abholen konnten. Das Papier brannte auf seiner Haut, und er war sich des Verbrechens bewusst, das er begangen hatte. Wenn jemand seinen Diebstahl bemerkte, musste er erklären, wo er die Zeichnung und das zerknickte Bild gefunden hatte. Es waren schon Menschen für weit weniger aufrührerische Taten für den Rest ihres Lebens im Kerker verschwunden.

2. KAPITEL

Eisenhauer schritt durch die Flure der Zitadelle.

Die meisten Wachen hatten sich bereits an den Stadtmauern und auf dem Hof vor der großen Halle aufgestellt, deshalb begegnete er nur wenigen Menschen auf seinem Weg. Ein Zimmermädchen hatte sich im Labyrinth der Treppen verirrt, quiekte wie eine Maus und presste sich gegen die Mauer, als er sich näherte. Die Wachen, deren Weg er kreuzte, grüßten ihn übertrieben pflichtbewusst und setzten dann beflissen ihren Rundgang fort.

Denn Eisenhauer war nicht irgendjemand. Er war der Hauptmann der Federn, einer Gruppe Wächter, die für besondere Aufgaben ausgebildet wurden.

Als er an der Tür zu seinem Amtszimmer angekommen war, räusperte er sich. Ein schmächtiger Junge, der erst ein Jahr bei den Wächtern der Zitadelle sein konnte, fuhr erschrocken hoch. Eisenhauer nahm sich vor, seinen Vorgesetzten zu rügen. Der Kleine war offensichtlich bei der Nachtschicht eingeschlafen und niemand hatte sein Fehlen am Morgen bemerkt. Solche Dinge kamen nur noch selten vor. In den letzten Jahren hatten immer wieder Männer versucht, die jungen Wachen ihrer Gruppe zu decken. Aber seit sich Eisenhauer persönlich um die Strafen für solche Vergehen kümmerte, meldeten sie sogar die Anzahl der Ratten, die sie aus den Kammern der Zitadelle vertrieben und im Burggraben ersäuft hatten.

Eisenhauer ließ den Jungen ohne ein Wort stehen und betrat sein Zimmer. Bevor er sich auf den Weg in die Halle machte, wollte er sich noch einmal die Gesichter der Mädchen einprägen, die er heute beobachten wollte. In diesem Jahr musste sie dabei sein. Es war Zeit. Er würde sie erkennen und dafür sorgen, dass sie keinen Schaden anrichten konnte. Eisenhauer öffnete die Schublade seines Sekretärs mit einem kleinen gebogenen Schlüssel von seinem Bund. Langsam breitete er die Zeichnungen vor sich aus. Seit Monaten beobachtete er die Kinder in der Schule, und die sieben Bilder hatte er so oft angestarrt, dass sich die Gesichter der Mädchen schon vor Wochen in seinem Innersten eingebrannt hatten. Doch er genoss diesen Moment, um sich zu sammeln. Er war nur noch wenige Stunden davon entfernt, eines der wichtigsten Ziele zu erreichen, die er sich für sein Leben gesetzt hatte. Und wenn er das Mädchen hatte, würde alles andere ein Kinderspiel werden. Es spielte noch nicht einmal eine Rolle, ob sie über die Begabung ihrer Mutter verfügte oder nicht.

Die Flügeltüren standen weit offen und die Halle verschluckte alle Familien. Vereinzelt drehte sich noch einmal ein Kopf herum und eine Hand hob sich zum Gruß. Doch die nachfolgenden Menschen schoben unaufhaltsam in das Innere hinein.

Charlotte blieb mit den anderen Triviumkindern vor den Toren stehen. Als das blonde Haar ihrer Schwestern in der Masse verschwand, ging sie außen an den Mauern der Halle entlang. Auf dem Platz blieb sie stehen und wartete mit den anderen Kindern des Landes auf den Beginn der Zeremonie. Von hier konnten sie die Häuser der Priesterinnen und Heilerinnen sehen, die hinter einem kleinen Rundbogen lagen. Doch niemandem war es erlaubt, das Gelände der Schwesternschaft zu betreten, das wie die Zitadelle selbst direkt an die meterdicken roten Stadtmauern grenzte.

Charlotte stellte sich auf die Zehenspitzen und suchte zwischen all denen, die im letzten Jahr vierzehn Jahre alt geworden waren, nach ihrer Freundin.

»Maja!«, rief Charlotte und winkte.

Mit Schwung warf die Rothaarige ihren Kopf herum und drängte sich durch die Menge.

»Heute ist unser Tag«, rief Maja und schloss Charlotte fest in die Arme. »Meinst du, ich bekomme eine Lehrstelle bei den Schneiderinnen? Ach, das wäre so schön!« Als sie sich wieder aus der Umarmung löste, zog Maja ihre Freundin an den Rand der Gruppe und zeigte zum Eingang der Halle. »Alle sind gekommen. Sogar meine Großmutter hat die weite Reise gemacht. Du weißt ja, dass sie im Süden lebt, ganz nah an der Grenze.« Maja berichtete ausführlich von ihrem Morgen und den guten Ratschlägen, die sie von ihren Eltern bekommen hatte. Charlotte griff nach dem Ellenbogen ihrer Freundin.

»Kann man etwas tun?«

»Was meinst du damit?« Maja blinzelte.

»Wir bekommen doch unsere Bestimmung und erfahren, welche Lehrstelle wir antreten sollen. Steht das schon fest?«

Die Freundin warf die Haare zurück und hob ratlos die Schultern.

»Wenn ich dabei fest an Kleider und das Schneidern denke, werde ich dann eine Schneiderin?«

Maja runzelte die Stirn. »Du hast kein Interesse an Kleidern. Warum willst du auf einmal Schneiderin werden?«

»Nein, das war doch nur ein Beispiel.«

Aber Maja zog die Augenbrauen noch dichter zusammen.

»Ich will nicht Schneiderin werden, keine Sorge. Ich frage mich nur, ob ich Einfluss …«

Hinter ihnen ertönte plötzlich ein Pfiff. Acht Soldaten kamen auf die Gruppe der Jugendlichen zu und hielten in der Mitte des Platzes an. Immer zwei von ihnen hatten ein Kind zwischen sich, dessen Handgelenke mit Stricken zusammengebunden waren.

Die jungen Männer trugen Hosen und Hemden aus grauem, grob gewebtem Stoff. Charlotte erkannte auf den blauen Gürteln das Wappen des Königs: eine schwarze Libelle mit weißen Flügeln.

Ein Soldat drehte sich um und nahm dem Ersten die Stricke ab. Der Junge rieb sich die Handgelenke und schüttelte die Arme. An den Knien und den Ellenbogen war seine Kleidung abgerieben und dünn, aber er hatte ein sauberes Gesicht und seine Haare waren zu einem Zopf geflochten. Dann wurde ein Mädchen von den Fesseln befreit. Ihre Haare sahen aus wie ein zerrupftes Vogelnest und standen wild und verfilzt in alle Richtungen ab. Sie hatte den Geruch von Kuhmist und Pferden auf den Platz gebracht und ihre Fingernägel und Füße waren schwarz wie Teer. Sie spuckte den Soldaten vor die Stiefel und musterte dann die Kinder, die sie umgaben. Alle hatten gewaschene Haare und trugen ihre besten Kleider. Das Mädchen runzelte die Stirn und sah zu Boden.

Dem dritten Gefangenen wurden die Fesseln abgenommen. Es war ein Junge, der fast ein Kopf kleiner war als Charlotte. Er stand ihr am nächsten und weinte leise. Der Rotz lief ihm ungehindert aus der Nase, aber den Jungen kümmerte es nicht.

Charlotte suchte in den Taschen auf ihrem Kleid nach einem kleinen Stück Stoffrest, das sie eingesteckt hatte. Als sie es ihm hinhielt, hob der Junge den Kopf und musterte das Tuch. Im nächsten Moment lief er los und rempelte sie mit der Schulter an. Bevor Charlotte merkte, dass er es absichtlich getan hatte, landete sie mit dem Hintern auf dem harten Boden. Maja ergriff ihre Hände und zog sie wieder hoch.

Die Soldaten rannten dem Jungen hinterher, zogen kurze Stöcke aus ihren Hemden und schlugen auf ihn ein. Dann banden sie ihm die Hände wieder zusammen und trieben ihn zurück zu den anderen. Der Junge stand wieder neben Charlotte, bevor sie den gelben Sand von ihrem Kleid geklopft hatte.

»Sie sagen doch immer, die Soldaten tragen in der Stadt keine Waffen«, flüsterte Maja.

Charlotte beobachtete die Männer, die sich nur einen Schritt von dem Jungen entfernten. »Meinst du, sie haben alle magische Fähigkeiten?«, fragte sie leise.

Maja schüttelte den Kopf. »Die Minister behaupten es, aber ich glaube es nicht.«

Maja hatte etwas lauter gesprochen und ein paar Kinder drehten sich neugierig zu ihnen um.

Charlotte und Maja zuckten zusammen. Sie hatten in der Schule gelernt, welche Aussagen man besser nicht laut machte, wenn man Ärger und Schläge vermeiden wollte.

Der Junge mit dem schmutzigen Gesicht hatte es heute auch gelernt. Er versuchte nicht mehr zu fliehen.

Aber er stand etwas schief. Wahrscheinlich hatte er Schmerzen, wo ihn die Knüppel der Männer getroffen hatten. Charlotte konnte seine Lippen kaum erkennen, so fest kniff er sie zusammen. Die Tränen liefen ihm noch immer über das Gesicht und tropften dann grau und schmutzig in den Kragen seines Hemdes.

Hinter ihm standen fünf junge Männer von der Stadtwache und beobachteten das Geschehen auf dem Platz. Einer von ihnen sah Charlotte direkt ins Gesicht.

Er hatte grüne Augen und das ganze Gesicht war mit lustigen Sommersprossen besprenkelt.

Als die Soldaten sich zurückzogen, steckten die Männer von der Stadtwache lange Grashalme in ihre Mundwinkel. Mit den Schultern lehnten sie sich gegen die Mauer der Zitadelle und kauten auf dem Gras herum. Der mit den Sommersprossen achtete nicht auf seine Kameraden. Er starrte Charlotte weiterhin an, als würde er irgendetwas entdecken, wenn er sie nur lange genug musterte. Charlottes Kragen fühlte sich plötzlich sehr eng an und sie zog an den obersten Knöpfen. Ihr fiel auf, dass er jünger war als die anderen und wahrscheinlich nur zwei oder drei Jahre älter als sie selbst.

»Fynn!«, rief einer von den anderen Soldaten.

Da wandte er endlich den Kopf und Charlotte atmete erleichtert auf.

Aber auch die anderen Kinder gerieten in Bewegung und deuteten mit den Armen zu dem Torbogen, um sich gegenseitig auf die sich nähernde Frau aufmerksam zu machen.

Sie hatte lange schwarze Haare, die ihr glänzend den Rücken hinunterliefen. Auf dem Kopf wurden sie von einem silbernen Haarreif aus ihrem Gesicht gehalten. Er war das Zeichen der Priesterinnen und Sterne und andere Symbole waren in ihn hineingeritzt.

Noch bevor sie in der Mitte des Platzes zum Stehen kam, verstummten alle Geräusche. Auch das leise Gerumpel der Karren, die zum Markt fuhren, und die Stimmen derer, die hinter der Mauer der Zitadelle um die Preise feilschten, schienen davonzuwehen.

In ihrem schneeweißen Kleid leuchtete die Priesterin zwischen all den grauen Hosen und Kleidern wie ein Stern.

»Heute ist euer Tag«, sagte sie leise, doch die Worte hingen schwer und bedeutsam über den Köpfen der Kinder.

Auf einmal war Charlotte stolz, hier zu sein. Obwohl sie nichts dafür getan hatte, außer vierzehn zu werden.

»Die Hebammen trugen eure Namen nach der Geburt in das Buch des Ministers ein. Während ihr friedlich in euren Betten geschlafen und an der Brust eurer Mutter gelegen habt, hörten wir euren Namen zum ersten Mal.«

Ein Junge kicherte. Er bekam von seinem Nachbarn einen Stoß mit dem Ellenbogen in die Rippen. Nach einem kurzen Schnaufen blieb er stumm.

»An diesem Tag haben wir eine Kerze für euch angezündet, so wie es bei uns Brauch ist seit dreihundert Jahren. Zu eurem zweiten Ritual trugen euch eure Väter auf ihren Armen in die Zitadelle und ihr seid auf euren Füßen wieder hinausgegangen.«

Die Priesterin erhob ihre Stimme nicht. Sie klang weder fröhlich noch traurig. Doch wer ihr zuhörte und von ihr angeschaut wurde, der wuchs mit ihren Worten über sich selbst hinaus und fühlte sich besonders.

»Das weiß ich noch«, raunte Maja. »Ein Mädchen hatte sich vor Aufregung die Hosen nass gemacht. Aber du warst das nicht, oder?« Sie grinste frech und wandte sich dann wieder der Priesterin zu.

Charlotte konnte sich an dieses Ritual nicht erinnern, obwohl sie damals schon sechs Jahre alt gewesen sein musste. Allerdings hatte sie noch ein Bild vor Augen, das die kleine Leni inmitten der Priesterinnen zeigte. Das musste zwei Jahre später gewesen sein.

Als die Priesterin fortfuhr, ihnen von dem Trivium, ihrem dritten Ritual in der Zitadelle, zu erzählen, waren die Gedanken an die fehlenden Erinnerungen wieder verschwunden und Charlotte wollte nirgends lieber sein auf der Welt. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, es interessierte jemanden wirklich, wer sie war. Obwohl sie der Blick der Priesterin nur für einen Augenblick gestreift hatte, fühlte sie sich gesehen und einmalig.

Es war etwas Wind aufgekommen. Das weiße Kleid der Priesterin schwang wie eine Glocke hin und her.

»Heute betretet ihr die goldene Halle mit euren eigenen Füßen.«

Charlotte sah an sich herunter. Ihre Füße steckten in groben Lederstiefeln, die fast alle Kinder in der Stadt trugen. Wenige hatten glänzende Schuhe an und noch weniger nur dünne Stoff streifen um ihre Füße gewickelt.

»Heute beginnt ein neues Leben. In drei Jahren werdet ihr als Erwachsene in die Gemeinschaft aufgenommen.«

Sie nickte ihnen zu, und Charlotte spürte, dass ihre Kindheit zu Ende war.

Nachdem die Priesterin jedem Einzelnen in die Augen gesehen hatte, drehte sie sich langsam um und winkte den Frauen, die zwischen ihren Wohnhäusern warteten. Sie folgten ihr in einer Reihenfolge, die seit ewigen Zeiten die gleiche zu sein schien. Langsam schritten sie an den Mauern der Zitadelle entlang zu den westlichen Flügeltüren, die in das Innere der Halle führten.

Charlotte starrte noch den Frauen mit ihrem fast schwebenden Gang und ihren schwingenden Röcken hinterher, als die Jungen und Mädchen sich hinter ihnen einreihten und Charlotte vor sich her schoben.

Als sie vor den Flügeltüren standen, hatten sie zwei gleichmäßige Reihen gebildet. Charlotte drehte sich erstaunt zu den anderen um. Auch die Jungen, die noch eben drängelnd Unruhe verbreitet hatten, waren still geworden. Maja drückte kurz ihre Hand.

Sie standen vor den geöffneten Türen und sahen auf die östliche Wand. Sie war aus Glassteinen in Rot- und Gelbtönen gestaltet und zeigte ein riesiges Abbild der Sonne. Von draußen wurde es durch die ersten Sonnenstrahlen zum Leuchten gebracht.

Rote, orange und gelbe Lichtflecke fielen auf die Menschen, die dicht gedrängt in der großen Halle standen. Es war still in den Reihen und wie alle anderen blickte Charlotte zum Eingang.

Die erste Priesterin betrat die Halle und stimmte eine Melodie an. Die anderen Frauen fielen nacheinander mit ein, bis der Gesang den ganzen Raum füllte.

Charlotte und die anderen Jungen und Mädchen folgten ihnen.

In der Luft lag ein süßlicher Geruch. Magische Lichter brannten in rot und orange gefärbten Gläsern. Sie standen auf Mauervorsprüngen, und neben ihnen lagen glühende Steine, die wie faustgroße Kohlestücke aussahen und von denen weißer, süßlich riechender Rauch aufstieg.

Vor zwei Jahren war Charlottes Schwester Merle durch den Mittelgang auf das Ostfenster zugegangen. Damals hatte Charlotte zwischen den Angehörigen gestanden und dem bezaubernden Gesang gelauscht und von ihrem eigenen großen Tag geträumt. Heute würde sie endlich ihre Berufung erfahren. Sie horchte in sich hinein und hoffte, eine Stimme zu hören oder einen Wunsch zu erspüren. Doch alles, was sie fühlte, war eine tiefe Ratlosigkeit, die sie fast zur Verzweiflung trieb. In ihrer Vorstellung war dieser Augenblick feierlicher gewesen. Doch bevor sie sich darüber wundern konnte, erreichten sie die Ostseite der Halle.

3. KAPITEL

Eisenhauer lehnte sich auf seinem Sitz oben auf der Empore weit nach vorn. Er konnte unter sich die wartenden Angehörigen und die Bewohner der Stadt Aalborg erkennen, die nicht von der Anwesenheitspflicht bei der Zeremonie befreit worden waren. Sie standen dicht gedrängt, und der süßliche Geruch der Opiumsteine gab ihnen das Gefühl, dass sie am richtigen Ort waren und hier einem wichtigen Ereignis beiwohnten. Wahrscheinlich würden sie das auch ohne die Unterstützung des Rauches, der das Gehirn mit Glücksgefühlen und Ehrfurcht überspülte. Aber es war Eisenhauer gewesen, der vor einigen Jahren durch einen Akt, den weniger weitsichtige Menschen vermutlich Erpressung nannten, die Priesterinnen dazu gebracht hatte, seinem Wunsch nachzugeben. Der Erfolg gab ihm Recht. In den Nachbarländern hatte die Verknappung der Magie bereits zu einer Hungersnot und Aufständen geführt, während die braven Bürger der Stadt Aalborg und Umgebung sich noch immer mit Hoffnung und Zuversicht füttern ließen.

Als die Kinder hereingeführt wurden, beobachtete er die Schöpfe. Doch erst als die Mädchen und Jungen sich vorn aufstellten, erkannte er seine Kandidatinnen. Mille hatte weißblondes langes Haar, Elins war etwas dunkler und fiel ihr in großen Locken auf die Schultern. Tilde und Freja hatten ihre blonden Haare zu langen Zöpfen geflochten, Lone ihre roten krausen Strähnen kunstvoll auf dem Kopf verschlungen und Charlotte und Femke hatten ihre dunklen Haare mit einem bunten Band zusammengefasst. Die sieben Mädchen hatten nichts gemeinsam außer dem Monat, in dem sie geboren waren, und der Hebamme, die dabei geholfen hatte. Femke und Elin waren bei den Beobachtungen in der Schule durch ein sehr temperamentvolles Wesen aufgefallen. Es musste eine von ihnen sein. Allerdings hatte Charlotte auffallend große Augen, die ihn auf beunruhigende Weise an eine Begegnung erinnerten, die er seit Jahren vergessen wollte und die ihn immer wieder in seinen Träumen heimsuchte.

Charlotte spürte, wie ihre Hände feucht wurden, als sie sich mit den anderen in einem Halbkreis aufstellte. Der süßliche Geruch nahm ihr fast den Atem. Zwischen den Triviumkindern und den Angehörigen stand ein runder Steintisch, um den die Priesterinnen mit ihren Gesängen kreisten.

Nervös suchte Charlotte in der Menge nach einem vertrauten Gesicht. Ihre Familie entdeckte sie nicht, sah aber den Jungen der Stadtwache, der sie draußen angestarrt hatte. Er stand rechts von dem Mittelgang und beobachtete sie.

Charlotte merkte, wie ihre Wangen heiß wurden, und wich einen Schritt zurück, um sich hinter einem der größeren Kinder zu verstecken, doch sie trat jemandem auf die Füße. Es war leider ein Junge, der Stofflappen statt Schuhen trug, und sie wurde von ihm mit einem harten Schlag in den Rücken wieder nach vorn gestoßen.

Dann schaute sie die Priesterinnen an, doch sie spürte weiterhin den Blick des Wächters, der auf ihr ruhte. Die Frauen umkreisten den Tisch, wechselten die Richtung und drehten sich im Kreis. Es sah feierlich und auch irgendwie fröhlich aus, doch Charlotte konnte nicht länger hinsehen. Die Umrisse der Menschen verschwammen vor ihren Augen zu einer bunten breiigen Masse und von dem süßlichen Geruch wurde ihr langsam schlecht.

Sie senkte den Kopf, legte die Hand auf den Bauch und drückte gegen den Magen. Auf keinen Fall durfte sie sich übergeben oder ohnmächtig werden. Um sich zu beruhigen, schloss sie die Augen, doch sofort gaben ihre Knie nach, und Charlotte taumelte einen halben Schritt zur Seite, was ihr einen weiteren Stoß in den Rücken einbrachte. Hilflos suchte sie in der bunten Masse aus Körpern nach ihrer Familie, doch die Schatten der Priesterinnen vor dem Sonnenfenster flackerten. Charlotte blickte an die Decke und spürte umgehend, wie die Übelkeit wich.

Endlich konnte sie die Augen ruhen lassen. Mehrere Atemzüge lang betrachtete sie die dünnen Risse in der weiß getünchten Decke und blickte dann zur Empore, die sich über die ganze nördliche Seite der Halle erstreckte.

Seit sie ein Kind war, erzählte man ihr, der junge König komme mit seinen Magiern zu jeder Zeremonie, um seine Macht und Herrschaft über das Volk und die Magie zu demonstrieren.

Auch in diesem Jahr war er gekommen und er saß umringt von seinen Magiern und Wächtern auf der Empore. Es waren die Reihen, die das Volk aus der Mitte der Halle am besten sehen konnte.

Bislang hatte Charlotte noch nie die Gelegenheit gehabt, Børge lange zu betrachten. Er trug einen Pelzmantel und ein Gewand aus dickem grünem Samt, so wie der alte König auch immer auf Bildern gezeigt wurde. Aber er hatte ein breiteres Kreuz und seine langen roten Haare waren unter der Krone zu einem dicken Zopf geflochten.

Der Gesang der Priesterinnen verstummte und Charlotte senkte den Kopf. Die Frauen standen nun zu beiden Seiten des Tisches zwischen den Jugendlichen und ihren Familien.

Über eine Wendeltreppe neben den Flügeltüren kam ein Minister von der Empore herunter und schritt durch den Mittelgang auf die Triviumkinder zu. Er trug zu den hellen Kleidern der Beamten einen spitzen Ministerhut und einen Sack aus gelbem Stoff bei sich, auf den das Siegel des Königs gestickt war: die Libelle.

Der Nebel in Charlottes Kopf und der schwere süßliche Duft waren verschwunden. Sie sah nur den fremden Mann auf sich zukommen. Er entschied, was sie in den nächsten drei Jahren lernen würde – was sie für den Rest ihres Lebens tun musste.

Sie wusste nicht, was sie sich wünschen sollte, und Charlotte spürte Panik in sich aufsteigen. Jemand würde über ihr Leben entscheiden, und sie konnte nicht froh oder enttäuscht, nicht empört oder dankbar sein, wenn sie seine Wahl erfuhr. Denn sie hatte jeden Tag eine andere Idee von dem, was sie gerne machen würde. Einen Tag wollte sie anderen Menschen helfen, an einem anderen lieber die Welt jenseits von Himmerland erkunden, und wenn ihre alte Nachbarin Jette ihre Geschichten erzählte, dann wollte Charlotte eigentlich gar nicht erwachsen werden, sondern lieber daran glauben, dass es irgendwo noch Drachen gab, auf denen sie durch die Lüfte reiten konnte, und Elfen und Kobolde, die ihre lustigen Lieder sangen. Ihre Schwestern hatten sich allerdings nie von ihren abenteuerlichen Träumen anstecken lassen. Merle wollte schon als kleines Mädchen ihrer Mutter beim Schneidern helfen und sie war von Anfang an sehr geschickt und wissbegierig gewesen. Während nun für sie das letzte Jahr ihrer Ausbildung bei einer Hutmacherin begann, hatte Charlotte bis auf den heutigen Tag keine besondere Begabung an sich festgestellt. Der Tag des Triviums war gekommen, und sie stand hier ohne Wunsch und Ziel und wartete auf den Minister und sein gelbes Säckchen voll mit Zukunft. Charlotte seufzte lautlos und starrte ihre Hände an. Was würde aus ihr werden? Was musste sie für den Rest ihres Lebens tun?

Der Mann blieb vor dem Tisch stehen. Eine Lehrerin aus der Volksschule, die in der ersten Reihe gestanden hatte, trat neben ihn und rollte ein Pergament auseinander.

»Maja Bartholomæus«, rief sie zuerst. Charlotte warf ihrer Freundin einen aufmunternden Blick zu, bevor Maja mit zögerlichen Schritten an den Tisch trat.

Der Minister blickte zu der Lehrerin und griff dann in den Beutel. Daraus zog er eine Tonscherbe hervor, in die ein Symbol hineingeritzt war. Aus der Entfernung konnte Charlotte es jedoch nicht erkennen. Mit einer leichten Verbeugung legte der Minister die gezackte Scherbe in Majas Hände. Sie war dunkelrot und schien etwas kleiner als ihre Handfläche zu sein. Maja trug sie wie einen zerbrechlichen Schatz vor sich her, als sie am anderen Ende des Tisches wieder in die Reihe trat.

»Ole Sønderborg«, rief die Lehrerin.

Aufmerksam beobachtete Charlotte die Jungen und Mädchen, die nacheinander nach vorn gingen. Manche waren ihr seit Jahren vertraut, andere sah sie heute zum ersten Mal. Vor allem versuchte sie, aus den Blicken und Gesten von Minister und Lehrerin Schlüsse zu ziehen, doch es gelang ihr nicht.

Das stumme Gespräch zwischen den beiden Erwachsenen blieb undurchschaubar. Aber manchmal sahen sie überrascht aus, als hätte der Beutel selbst die Zukunft der Kinder ausgewählt.

Manche Tonscherben waren rund, andere hatten eine ovale Form, aber jede hatte abgebrochene, gezackte Kanten und trug ein Symbol, das in die Oberfläche hineingeritzt war. Wer seine Scherbe bekommen hatte, zeigte sie lautlos seinem Nachbarn, doch niemand wusste die Zeichen zu deuten.

Dann endlich hörte sie ihren Namen.

»Charlotte Johansson«.

Sie trat auf den Minister zu, der nach einem Blick auf die Lehrerin in den Beutel griff und eine Scherbe herausholte. Ohne ihr in die Augen zu sehen, legte er ihr das Tonstück in die ausgestreckte Hand.

Eisenhauer erhob sich schnell und lautlos von seinem Platz, als er eine Bewegung an der Brüstung der Empore wahrnahm. War nur ein junger Soldat in die erste Reihe geschlichen, um unentdeckt zu schlafen? Oder hatte einer der Rebellen den ungeheuerlichen Mut bewiesen, sich in die Höhle des Löwen zu begeben? Der Hauptmann blinzelte mehrmals und starrte auf das Ende der vordersten Bank. Obwohl sich dort nichts bewegte, hatte er keinen Zweifel an seiner Beobachtung.

Den meisten Menschen vertraute Eisenhauer nicht, aber auf seine Sinne verließ er sich uneingeschränkt. Sie spielten ihm niemals einen Streich. Zum Schutz gegen die Wirkung des süßlichen Rauches in der Halle hatte er sich eine braune Paste in die Nasenlöcher geschmiert. Sie bestand aus Kräutern und Lehm und bewahrte ihn vor der trägen Zufriedenheit, von der alle anderen umweht wurden. Wenn Eisenhauer etwas gesehen hatte, dann war dort auch jemand. Die Absicht des Versteckten würde er bald aufdecken.

»Lone Thøgersen«, erklang es unten in der Halle. Ein brauner Hut mit einer breiten Krempe erhob sich für einen Atemzug und verschwand dann wieder hinter der ersten Bank am Ende der Reihe. Jemand beobachtete die Zeremonie und hatte sich mit dem großen Hut und einem dicken Schal getarnt. Im dämmrigen Licht auf der Empore war er kaum zu entdecken.

Langsam schob Eisenhauer sich hinter die letzte Bank und umrundete die anderen Gäste. Er beugte seinen Oberkörper zur Seite und spähte in den äußeren Gang. Da kniete tatsächlich eine kleine Gestalt. Eisenhauer spürte, wie ein Gefühl in ihm aufstieg, das er lange vermisst hatte. Respekt. Die Rebellen waren in den letzten Monaten feige und zurückhaltend gewesen. Seine Wächter, die Federn, waren dazu ausgebildet, das Land nach innen zu schützen, während die Soldaten die Grenzen zu den Nachbarländern sicherten. Aber es hatte bislang keine Herausforderung für seine Truppen gegeben.

Die Menschen akzeptierten die bestehende Ordnung und sogar die Versprechen des jungen Königs, der seit zehn Jahren auf seine Krönung wartete. Selbst die sogenannten Rebellen waren keine ernste Gefahr gewesen.